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polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
 

Hartmut Rosa

Speed

Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie


Das Leben wird immer schneller, und wir kommen kaum noch dazu, wir selbst zu sein. Sind Power-Naps und Drive-Thru-Funerals die Lösung? Wie steht es unter diesen Bedingungen um die Idee demokratischer Selbstbestimmung?

Die Ergebnisse aktueller Umfragen wie des »ARD-Deutschland-Trend« oder des »Datenreport 2006« bescheinigen, dass es schlecht um die Demokratie in Deutschland bestellt sei. Trotz sich verbessernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen sinkt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und somit in die Idee, dass Menschen die Gesellschaft, in der sie leben (möchten), aktiv mitgestalten können und sollten. Zu schwach, zu langsam und zu unflexibel sind die Mittel, welche demokratischer Politik zur Verwirklichung gemeinschaftlicher Interessen zur Verfügung stehen, und zu übermächtig die alles bestimmenden technologischen und ökonomischen Logiken. Wozu demokratische Politik einmal in der Lage war - nämlich die Krisen des Kapitalismus abzufedern und die Ausbeutung von Mensch und Natur zu beschränken, ohne dabei die Dynamik des Marktes zu lähmen -, dazu scheint sie in einer globalisierten Welt nicht mehr fähig zu sein. Dass sie die an sie gerichteten Erwartungen immer weniger erfüllen kann, ist nun aber zu einem großen Teil in den temporalen Voraussetzungen für eine gelingende demokratische Politik begründet.

Die politische Theorie hat diese Voraussetzungen der liberalen Demokratie bisher fast vollständig vernachlässigt, so dass sie fundamentale Aspekte der gegenwärtigen Krise der Demokratie nicht mehr in den Blick bekommt. Man kann zwei Formen von politischer Temporalität unterscheiden, »time in politics« und »politics in time«. Während Erstere die dem jeweiligen demokratischen System eigenen zeitlichen Strukturen und Horizonte meint, welche beispielsweise durch die Dauer der Legislaturperioden bestimmt sind, hebt die Zweite auf die Wechselwirkungen der Politik mit den Zeitstrukturen anderer sozialer Sphären, etwa der Ökonomie oder der Zivilgesellschaft, ab. Ändert sich nun die gesellschaftliche Zeitstruktur, so hat dies direkte Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Grenzen demokratischer Politik.

Begreift man die Geschichte der Modernisierung als Prozess der sozialen Beschleunigung, so kommen Phänomene, die wir heute unter dem Begriff der Globalisierung zusammenfassen, als Folge sozialer Beschleunigung in den Blick. Dann stellt sich allerdings die Frage nach den Konsequenzen des beschleunigenden Charakters der Moderne für die Möglichkeit, Plausibilität und Legitimität der Demokratie. Die Beschleunigung der Gesellschaft hat zwar den Prozess der Demokratisierung überhaupt erst ermöglicht, mit dem Überschreiten eines bestimmten kritischen Geschwindigkeitsgrades bewirkt sie jedoch den genau gegenteiligen Effekt. Dann droht nämlich die Dynamik der sozioökonomischen, kulturellen und technologischen Entwicklung das Funktionieren der Demokratie zu unterwandern. Folglich kann Demokratie nur funktionieren, wenn sich der soziale Wandel innerhalb eines bestimmten »Geschwindigkeitsrahmens« vollzieht.

High Tech – Speed Date – Fast Food
Es ist kein Novum der Gegenwart, dass Arbeitskräfte, Ideen, Geld und sogar Infektionskrankheiten über große Entfernungen hinweg ausgetauscht werden. Neu ist lediglich die Geschwindigkeit und die Leichtigkeit, mit denen dies geschieht. Deshalb kann die »Globalisierung« auch als jüngste Erscheinung eines fortschreitenden Prozesses von »Raum-Zeit-Verdichtung« (David Harvey) verstanden werden. Es lassen sich drei voneinander unabhängige, jedoch miteinander verwandte Dimensionen der Beschleunigung analytisch unterscheiden. Erstens wäre da der Bereich der technischen Beschleunigung zu nennen, der insbesondere eine Erhöhung des Tempos, mit dem sich Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozesse realisieren lassen, umfasst. Zweitens kommt es zu einer massiven Beschleunigung des sozialen Wandels, der das Tempo, mit dem sich Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen und Beziehungsmuster andererseits verändern, betrifft. Die Folge ist, dass die Umrisse unserer Lebenswelt nicht mehr für die Dauer einer individuellen Lebensspanne stabil sind; wir neigen dazu, unseren Beruf, unseren Lebenspartner, unsere politischen Überzeugungen und unseren Wohnort mehrmals im Leben zu wechseln, um uns so den der Gesellschaft innewohnenden Dynamiken anzupassen. Drittens üben diese beiden Prozesse in ihrem Zusammenspiel einen ständigen Druck auf das individuelle Lebenstempo aus. Dessen Beschleunigung lässt sich in einer Steigerung der Zahl an Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit beobachten. Da die technische Beschleunigung das Einsparen von Zeitressourcen bewirkt und daher das Lebenstempo entschleunigen müsste, handelt es sich allerdings um eine paradoxe Erscheinung. Ermöglicht wird diese Beschleunigung des Lebenstempos durch eine unmittelbare Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit, etwa durch Fastfood oder Speed-Dating (und inzwischen sogar Drive-Thru-Funerals), durch eine Verringerung von Pausen zwischen den einzelnen Aktivitäten (Zeitmanagement) oder durch die Vervielfältigung des ›Multitasking‹, also der simultanen Erledigung mehrerer Tätigkeiten. Soziale Beschleunigung ist zum einen ein sich selbst antreibender Prozess, denn technische Beschleunigung bringt immer auch eine Beschleunigung des sozialen Wandels mit sich – man denke nur an die Einführung der Eisenbahn, des Automobils oder des Internet, die stets gänzlich neue Berufs- und Beziehungs-, Siedlungs- und Bewegungs-, Assoziations- und Kommunikationsmuster sowie neue Alltags- und Freizeitpraktiken etablierten. Dieser Wandel zwingt Menschen dazu, ihr eigenes Lebenstempo zu erhöhen, um mit einer sich ständig verändernden Umwelt mithalten zu können, sowie auf die Verknappung ihrer Zeitressourcen mit dem Ruf nach mehr technischer Beschleunigung zu reagieren.

Zum anderen wird die Beschleunigung von drei neuzeitlichen Grundprinzipien angetrieben, die zusätzlich als »externe Motoren« des Wandels fungieren. Erstens handelt es sich um den »ökonomischen Motor« einer kapitalistischen Wirtschaftsform, deren Operationsprinzip konstitutiv auf dem Erarbeiten und Ausnützen von Zeitvorsprüngen als Wettbewerbsvorteil beruht (Zeit ist Geld und Geld ist knapp). Zweitens führt der »strukturelle Motor« der funktionalen Differenzierung dazu, dass die soziale Beschleunigung durch eine Steigerung der Komplexität und der Kontingenzen weiter vorantrieben wird. Das daraus erwachsende Bedürfnis nach Synchronisation und Selektion aus einer stetig zunehmenden Anzahl von Optionen kann nur durch eine Erhöhung der Verarbeitungsgeschwindigkeit befriedigt werden. Und schließlich handelt es sich drittens um einen »kulturellen Motor«, der aus einem Ethos der Moderne resultiert, dem Zeitverschwendung zur Todsünde und Beschleunigung gleichsam zu einem Ewigkeitsersatz geworden sind. Dieser Logik folgend können wir, wenn wir nur schnell genug leben, mehrere Lebenspensen (an realisierten Möglichkeiten) in einem einzigen irdischen Leben unterbringen und damit von einem ›ewigen Leben vor dem Tod’ träumen.

Schnelle Welt und lahme Politik
Modernisierung wurde als vorrangig politisches Projekt immer von der Idee getragen, dass Menschen in ihrer Funktion als Bürger sowohl individuell als auch kollektiv über ihr eigenes Schicksal entscheiden sollten, indem sie die Gesellschaft ungebunden von Bräuchen, Traditionen oder Natur frei gestalten. Demokratische Selbstbestimmung scheint das zentrale Versprechen der Moderne zu sein und soziale Beschleunigung das entscheidende Mittel, um sich von der Trägheit der Traditionen und Bräuche zu befreien und den natürlichen Mangel und die sozialen Schranken zu überwinden, um schlussendlich in echter Freiheit leben zu können. Deshalb wurde die Demokratie, da sie eine schnelle und geregelte Abfolge von Regierungen und somit ein dynamisches politisches Gespür für die Bedürfnisse einer Gesellschaft ermöglichte, selbst als eine Art sozialer Beschleunigung begriffen. Nach der Französischen Revolution entwickelte sich die Politik, beseelt von der Idee historischen Fortschritts, schnell zum Schrittmacher und zur treibenden Kraft der sozialen Beschleunigung. Die politische Sprache liefert dafür einen akkuraten Indikator: Fortschrittliche (linksorientierte) Formen von Politik versuchen den Lauf der Geschichte auf das gewünschte und/oder vorherbestimmte Ende hin zu beschleunigen, während konservative (rechtsorientierte) Politiker und Parteien versuchen, so viel Vergangenheit wie möglich zu bewahren und den Wandel nach Möglichkeit zu verlangsamen.

Eine solche Konzeption von demokratischer Politik ist jedoch nur innerhalb bestimmter »Geschwindigkeitsgrenzen« des sozialen Wandels möglich und glaubwürdig. Einerseits müssen Gesellschaften so dynamisch sein, dass mittels politischer Projekte und Programme überhaupt ein Bezug zum historischen Wandel hergestellt werden kann. Denn erst wenn die Effekte gesellschaftlichen Wandels innerhalb dreier gleichzeitig zusammenlebender Generationen bemerkbar werden, kann sich die Idee der politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft überhaupt etablieren. Andererseits darf die Geschwindigkeit dieses Wandels nur so schnell sein, dass demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung auch tatsächlich steuernd und kontrollierend in die sozialen Entwicklungen eingreifen können. Jenseits eines bestimmten Schwellenwertes entzieht sich der Wandel dem Zugriff politischer Selbstbestimmung.

An einem kritischen Punkt in der Entwicklung der Moderne kommt es dann zu einer massiven Desynchronisation zwischen der Politik und anderen sozialen Systemen, allen voran Ökonomie, Wissenschaft und Technik. Während sich der soziale Wandel, die technologische Entwicklung oder auch die ökonomischen und finanziellen Austauschprozesse scheinbar fast unendlich beschleunigen können, ist die demokratische deliberative Willensbildung dazu nicht in der Lage. Es spricht sogar einiges dafür, dass sich die demokratischen Prozesse in unserer gegenwärtigen »Hochgeschwindigkeitsgesellschaft« noch verlangsamen. Das hängt zum einen mit dem fast völligen Verschwinden konventioneller Übereinstimmung in modernen Gesellschaften zusammen. Denn je unkonventioneller die Legitimationsprinzipien einer Gesellschaft sind, desto länger dauert es, zu einer politischen Übereinkunft zu gelangen. Zugleich lässt sich immer schwerer voraussagen, welche sozialen Gruppen und Verbände für die Verhandlung eines bestimmten Sachverhaltes überhaupt zuständig und wichtig sind und wer für wen spricht. Folglich bedarf es in einer politisch und sozial unbeständigen Welt sogar noch eines größeren Zeitaufwands, um kollektive Interessen effektiv organisieren zu können. Zum anderen dauert es aufgrund der zunehmenden Ungewissheit über die Zukunft immer länger, rational zu planen und Entscheidungen zu treffen. Und schließlich haben politische Entscheidungen die Tendenz, immer weiter in die Zukunft hineinzureichen, was an Themen wie der Atomenergie oder der Gentechnik besonders deutlich wird, wo viele Entscheidungen unumkehrbar scheinen. Je weiter eine bestimmte Entscheidung in die Zukunft hineinreicht, umso länger dauert es, sie rational zu treffen. In einer hochdynamischen Gesellschaft können regierende demokratische Mehrheiten außerdem jederzeit zur Minderheit werden, wodurch sehr widersprüchliche Entscheidungsketten entstehen.

Der Demokrat steht auf der Bremse
Diesem Bedürfnis nach mehr Zeit für die politische Entscheidungsfindung steht die Beschleunigung der die Politik umgebenden Systeme gegenüber. Wenn die Politik danach strebt, die grundlegenden Bedingungen der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung festzulegen und zu kontrollieren, dann muss sie sich entweder diesem zunehmenden Tempo anpassen oder ernsthaft gegen deren Autonomie verstoßen und damit der funktionalen Differenzierung praktisch ein Ende bereiten. Momentan laufen Politiker permanent Gefahr, völlig anachronistische Entscheidungen zu treffen: Wenn sie nach Jahren der Beratung und Verhandlung endlich ein Gesetz erlassen, das etwa bestimmte Formen der Stammzellenforschung oder des Klonens regulieren soll, hat der technische Fortschritt diese Regulierung nicht selten bereits obsolet werden lassen. Insofern scheint eine Kontrolle vieler sozialer Bereiche überhaupt nicht mehr möglich zu sein, es sei denn, man akzeptiert lange Moratorien oder ein von der Politik verhängtes Ausbremsen des ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritts.

Seitdem sich die Voraussetzungen für politisches Handeln permanent ändern und der überblickbare Horizont der rationalen Planung und der Wirkungen politischer Entscheidungen immer näher rückt, können auch immer weniger Angelegenheiten dauerhaft und effektiv geregelt werden. Die Globalisierung verhindert zwar nicht per se politisches Handeln, sie beschränkt aber sehr wohl die Möglichkeiten zu politischer Einflussnahme und Gestaltung. Die Politik verliert ihre Schrittmacherrolle hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung und ist gezwungen, sich auf eine Strategie des »Durchwurstelns« angesichts der anfallenden Ereignisse und auf Anpassungsprogramme zu beschränken.

»Progressive Politik«, sofern von ihr überhaupt noch geredet werden kann, zielt heute deshalb nicht mehr auf die Beschleunigung des sozialen Wandels im Sinne des Fortschritts, sondern eher auf dessen Entschleunigung zur Aufrechterhaltung des politischen Steuerungsanspruches, während »konservative Politik« heute in exakter Umkehrung der klassisch-modernen Verhältnisse die durch jenen Steuerungsanspruch entstehenden Beschleunigungshemmnisse zu beseitigen gewillt ist. Während progressive Politik am Ziel der politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft festhält, befürwortet die sogenannte konservative (eigentlich: neoliberale) Politik auch eine zukünftige soziale Beschleunigung, und wendet sich somit von der Idee einer politisch kontrollierten Gesellschaft ab. Die Richtung des gesellschaftlichen Wandels wird immer stärker von anderen, schnelleren sozialen Systemen bestimmt, auf die die Entscheidungsgewalt übertragen wird: auf die Wirtschaft im Zuge der ökonomischen Deregulierung, auf das Recht im Zuge der Verrechtlichung sowie auf die Zivilgesellschaft im Zuge der Privatisierung ethischer Fragen. In der Sphäre der Politik selbst gewinnt darüber hinaus die Exekutive die Oberhand über die demokratisch legitimierten Legislative.

Das hohe Tempo der sozialen Entwicklungen sowie der hohe Grad an Instabilität haben heute die obere Grenze des »Geschwindigkeitsrahmens« der Demokratie durchbrochen.

Dieser tempobedingte Zustand der demokratischen Politik ist bedrohlich. Wenn das unvollendete Projekt der menschlichen Emanzipation auch im 21. Jahrhundert noch weiter verfolgt werden soll, bedarf es einer Analyse der Beschleunigungskräfte, die der gegenwärtigen Gesellschaft zugrunde liegen, als entscheidendes Element einer erneuerten kritischen Theorie der Gesellschaft. Vier Möglichkeiten einer konstruktiven Sozialkritik werden im Zuge der Beschleunigungsanalyse sichtbar.

Scenic Routes zur Freiheit – Wege der Beschleunigungskritik
Beschleunigung bewusst machen: Obwohl Zeitstrukturen (Rhythmus, Dauer, Geschwindigkeit) sozial konstruiert sind, werden sie kulturell als etwas faktisch Gegebenes oder Objektives von natürlicher Beschaffenheit interpretiert. Deswegen bewirken zeitliche Normen und Strukturen ein Maximum an sozialer Koordination bei gleichzeitig minimaler externer Bevormundung. Der moderne Mensch erscheint frei und ethisch autonom, da er kaum an normative soziale Erwartungen gebunden ist, sieht sich aber zugleich einem permanenten und bisher beispiellosen Zeitdruck ausgesetzt. Sein Leben wird nicht von kollektiven Regeln und politischen Instanzen regiert, sondern von Uhren, Fristen und dem Zwang, immer ›auf dem Laufenden‹ zu sein.. Erst mit sechs Jahren zur Schule und dann dreizehn Jahre dort bleiben? Können wir uns nicht mehr leisten! Wir müssen auch das Studium mit allen Mitteln verkürzen, so belehren uns Politiker und Ökonomen, obwohl die Lebenszeit weiterhin ungebremst steigt, was doch eigentlich eine proportionale Verlängerung der einzelnen Lebensphasen nahe legen würde. Auf diese Weise üben moderne Gesellschaften durch ihre strenge zeitliche Ordnung eine höchst effektive und nahezu totale, aber nichtsdestotrotz unsichtbare oder »stille« normative Gewalt aus. Die Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, ist dann aber ganz offensichtlich nicht einfach eine private, sondern eine im strengsten Sinne politische Angelegenheit. Die Artikulation dieser geheimen Zeit- und Beschleunigungszwänge ist daher ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu sozialen Reformen und Emanzipation und bildet zugleich die Bedingung der Möglichkeit, die demokratische Kontrolle über soziale Entwicklungen wiederzugewinnen.

Synchronisieren: Es sind nicht nur verschiedene soziale Sphären oder Systeme, wie die Politik oder die Ökonomie, aus dem Takt gekommen. Es gibt auch Anzeichen für eine sich verstärkende Desynchronisation zwischen den Generationen, welche die kulturelle Reproduktion zu unterminieren droht. Zudem könnte eine Analyse der Auswirkungen der Beschleunigung auf unsere fundamentalen Zeitstrukturen neue Einsichten in verbreitete individuelle Pathologien liefern. Der gegenwärtig beträchtliche Anstieg von Depressionen kann als ein Indikator für die Desynchronisation zwischen dem Tempo des sozialen Wandels und unserer psychologischen Leistungsfähigkeit gelesen werden. Schließlich kann auch die ökologische Krise als ein Problem der Desynchronisation zwischen dem gesellschaftlichen Tempo und der natürlichen Reproduktions- und Regenerationsgeschwindigkeit interpretiert werden. Nicht nur die Demokratie ist also aus dem Takt gekommen, die Desynchronisation ist ein generelles soziales Problem, das nach einer Art demokratischer »Geschwindigkeitskontrolle« verlangt.

Weltaneignung: Am meisten verspricht aber die Reformulierung der Entfremdungskritik im Lichte der Beschleunigungsprozesse. Die enorme Geschwindigkeit, mit der sich Wandel und Austausch vollziehen, kann zu mannigfaltigen Formen der Entfremdung von Raum und Zeit, von der objektiven und sozialen Welt sowie vom eigenen Selbst führen, da die für die Aneignung von und Gewöhnung an neue Orte, Objekte, Personen und Erfahrungen benötigte Zeit den Individuen nicht mehr zur Verfügung steht. Deshalb ziehen wir zum Beispiel von Stadt zu Stadt, ohne uns wirklich für sie zu interessieren oder gar den Platz, an dem wir leben, zu intimisieren. Ähnlich ergeht es uns, wenn wir den fünften Computer und das vierte Mobiltelefon gekauft haben. Wir wollen gar nicht mehr alle Funktionen verstehen und sie uns in einem tieferen Sinne aneignen, wir machen uns kurz mit den wichtigsten von uns benötigten Funktionen vertraut, benutzen sie und werfen sie weg. Wir reparieren nichts mehr (von Socken bis zu Autos), wir wissen nichts mehr über deren Herstellung, sie werden nicht mehr länger zu einem Teil von uns – und wir kein Teil mehr von ihnen. Diese Tendenz scheint mittlerweile auch das Verhältnis zu unseren Freunden und Bekannten zu bestimmen. Als spätmodernes »übersättigtes« Selbst lernen wir in kurzer Zeit so viele Menschen kennen, dass wir, selbst wenn wir wollten, nicht mehr wirklich wissen können, mit wem wir eigentlich sprechen oder gerade zusammen arbeiten. In Wirklichkeit wollen wir gar keine Details aus dem Leben anderer erfahren oder etwa ein Teil dieses Lebens werden, denn das erweist sich als offenkundige Gefahr in einer Gesellschaft der permanent wechselnden Bindungen.

Selbstbestimmung: Die übermäßig beschleunigte Gesellschaft unterwandert das bestimmende Moment des »Projekts der Moderne«, die Möglichkeit kollektiver wie individueller Autonomie. In der Frühmoderne gingen soziale Beschleunigung und das »Projekt der Moderne« miteinander einher: Während die technologische und ökonomische Beschleunigung die materielle Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben lieferte, ermöglichte die soziale und kulturelle Beschleunigung den Individuen, aus den Schranken der Traditionen und Bräuche auszubrechen. Dies war die Zeit der wahrhaft »fortschrittlichen Politik«. In der klassischen Moderne aber verselbständigte sich die soziale Beschleunigung und löste sich vom emanzipatorischen Projekt, dem sie in der Spätmoderne nun sogar als direkter Kontrahent entgegentritt. Das Bestehen auf politischer Autonomie, etwa auf deliberativer demokratischer Selbstbestimmung, ruft unweigerlich die Forderung nach einer Verlangsamung sowohl des technologischen als auch des sozioökonomischen Wandels hervor, da dessen Tempo unsere Möglichkeiten kollektiver und individueller Selbstbestimmung direkt untergräbt. Wenn totalitäre Gesellschaften dadurch gekennzeichnet sind, dass sie einerseits echte politische Alternativen auszuschließen versuchen – TINA (›There is no alternative‹) lautete nicht zufällig Thatchers wie Schröders politischer Wahlspruch – und andererseits ihre Bürger so unter Druck zu setzen vermögen, dass sie angsterfüllt die Bedingungen des Systems zu erfüllen versuchen, dann leben wir im Zeitalter des verschärften Beschleunigungstotalitarismus: Während die eine Hälfte der Bevölkerung nachts schweißgebadet und mit unerträglichem Druck auf der Brust aus Angst davor aufwacht, ›es nicht mehr zu schaffen‹, die Anforderungen und deadlines nicht mehr erfüllen zu können, liegt die andere Hälfte ebenso sorgenvoll wach in dem sicheren Bewusstsein, bereits abgehängt zu sein, den Anschluss verpasst zu haben: Neue Unterschichten und erfolgreiche Arbeitskraftunternehmer erweisen sich so als gleichermaßen fremdbestimmt. Totalitärer im Sinne der Erzeugung extensiven (nahezu alle sind den Zwängen unterworfen) und intensiven (und das in nahezu allen Sozialbereichen) sozialen Zwangs könnte sich kaum eine politische Diktatur gerieren.

Diese Überlegungen werfen die fundamentale Frage auf, ob die Beschleunigungspathologien überwunden werden können, ohne dabei deren zentrale Triebkräfte, und das heißt insbesondere: die kapitalistische Organisation der Wirtschaft angreifen zu müssen. Kann die Antwort auf die gegenwärtige Krise, wie Walter Benjamin in seiner berühmten Kritik des Fortschritts argumentiert, nur in einem revolutionären Griff zur Notbremse liegen? Das politische Subjekt, welches jene Notbremse ziehen könnte, ist derzeit allerdings kaum in Sicht ist. 

Unter Mitarbeit von André Stiegler



 
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