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polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
Hartmut Rosa
Speed
Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie
 
Stephan Schilling
Mikro schlägt Makro
Zur aktuellen Gefechtslage wirtschaftswissenschaftlicher GroĂźtheorien
 
Evelyn AnnuĂź
Race and Space
Eine Nahaufnahme aus dem Sudan
 
Eduardo Molinari
Der Fall Mosconi
Selbstorganisation in der argentinischen Provinz
 
Alexander Somek
Standortkonkurrenz
Wider den ökonomischen Nationalismus der Globalisierung
 
 

Stefan Huster / Stefan Gosepath

Kontroverse >Markt<


[Pro] Befreiung durch Markt (Stefan Huster)

Die traditionalistische Linke erstarrt in ihrer pauschalen Kritik am Markt. Diese einseitige Betrachtung erfordert eine einseitige Polemik .

Die Ersetzung traditioneller Institutionen der sozialen Sicherung und der Daseinsvorsorge durch marktförmige Strukturen bringt die Gefahr sozialer Schieflagen mit sich. Dieses Argument der sozialen Gerechtigkeit gegen den »Sozialabbau« hat zweifellos Gewicht. Auch wenn man gelegentlich etwas irritiert ist, wie ungebrochen die bestehenden sozialstaatlichen Strukturen trotz ihrer vielfach beschriebenen Ineffizienzen, Intransparenzen und Fehlsteuerungen verteidigt werden und welch geringes Gewicht die Einsicht besitzt, dass die Ressourcen zunächst ja erst einmal erwirtschaftet werden müssen, bevor sie (um-)verteilt werden können: Ernsthaft bestreitet niemand mehr, dass der Markt nicht alles selbst regeln kann und deshalb einen ordnungspolitischen Rahmen und eine soziale Abfederung benötigt. Es ist das bleibende, wenn auch inzwischen etwas erschöpfte Verdienst der politischen Linken, darauf hingewiesen zu haben. Über die Feinsteuerung kann man dann noch lange streiten, aber im Grundsätzlichen rennt man hier offene Türen ein.

Die neuere Marktkritik setzt daher auch anders an: Nicht allein die vermutete soziale Ungerechtigkeit marktförmiger Strukturen sei das Problem, sondern die Marktförmigkeit als solche. Sie verzerre die Eigenlogik der Lebensbereiche und setze den Einzelnen dem anonymen und entfremdenden Zwang der Marktmechanismen aus. Dieser - eher ethische als moralische - Einwand wird selten besonders prägnant formuliert. Letztlich scheint ihm aber ein bestimmtes Ideal selbstbestimmter und guter Lebensführung zugrunde zu liegen, das gegen Ökonomisierungszwänge in Stellung gebracht werden soll. Eigenartigerweise bleibt dabei aber ein wichtiger Gesichtspunkt außen vor: die Betrachtung der gegenwärtigen sozialstaatlichen Verhältnisse unter diesem Gesichtspunkt autonomer Lebensgestaltung.

Das Grundproblem aller sozialstaatlichen Sicherungs- und Vorsorgesysteme besteht in ihrer Expansion, die inzwischen zu einer Abgabenbelastung geführt hat, die die Bürger nicht mehr hinzunehmen bereit sind. Es ist absurd, wenn der Durchschnittsverdiener inzwischen fast die Hälfte des Jahres arbeitet, um irgendwelche kollektiven Kassen zu füllen. Dies stellt eine Entmündigung dar: Denn nur ein relativ geringer Teil der Sozialabgaben dient im Ergebnis tatsächlich der Unterstützung sozial Schwacher; der erheblich größere Teil ist für die Leistenden ein In-sich-Transfer: Sie bekommen aus der Sozialbürokratie das heraus, was sie zuvor selbst eingezahlt haben. Das Motiv der Liberalisierungsbestrebungen im Bereich sozialer Sicherung besteht daher bestenfalls zum Teil darin, die effizienzsteigernden Wirkungen des Marktes fruchtbar zu machen und in diesem Sinne alle Lebensbereiche »durchzurationalisieren«. Das Grundanliegen ist viel schlichter: Der Einzelne soll (wieder und vermehrt) entscheiden können, wie er die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen verwendet. Daraus ergibt sich dann automatisch eine marktförmige Struktur. Ist diese Struktur nicht gerade unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Autonomie dem gegenwärtigen System einer Verbände- und Funktionärsherrschaft vorzuziehen, die etwa im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung zwar zu blühenden Bäderlandschaften und steinreichen Zahnärzten geführt, die tatsächlichen Präferenzen der Patienten aber weithin ignoriert hat? Das Rent-Seeking aller Interessengruppen in derartigen Systemen ist inzwischen ebenso wie die Eigendynamik der Sozialstaatsbürokratien derartig häufig und plausibel beschrieben worden, dass man schon ein hartgesottener Realitätsverweigerer sein muss, um marktförmige Lösungen nicht zumindest gelegentlich als das kleinere Übel zu akzeptieren.

Der Markt ist gewiss kein Allheilmittel, und manche seiner Befürworter täten sich einen Gefallen damit, seine verteilungspolitischen Probleme offener anzusprechen. Aber ebenso erstaunlich ist es, dass eine politische Linke, die die Ideale persönlicher Freiheit und Autonomie völlig zu Recht hochhält, sich zu marktförmigen Lösungen hyperkritisch verhält und deren Freiheitspotentiale ignoriert, während sie gegenüber den entmündigenden und paternalistischen Zügen traditioneller Wohlfahrtsstaatlichkeit weithin blind ist. Bis der Dritte Weg - ein Ausdruck, den man ja kaum noch ohne Ironie verwenden kann - gefunden ist, dürfte der Marktbürger einer überzeugenden Freiheitsvorstellung jedenfalls weit näher kommen als der von Verbandsfunktionären rundum betreute Sozialstaatsklient.

 

[Contra] Einhegung des Marktes (Stefan Gosepath)

Die Vorteile des Marktes sind bekannt, kaum einer bestreitet sie mehr. Gilt das für seine Nachteile auch? Und wie soll man mit diesen umgehen? Das ist doch die eigentliche Frage.

Für den Markt spricht natürlich vor allem seine Effizienz. Und wer wäre nicht für effizienteres Wirtschaften? Bedeutet das doch, dass in kürzerer Zeit mit weniger Kosten mehr und Besseres produziert wird. Ein idealer Markt steigert aufgrund seiner Effizienz die individuelle und allgemeine Wohlfahrt, er nutzt dem Einzelnen und der Allgemeinheit. In der Theorie. In der Praxis sieht das bekanntlich schon ganz anders aus. Unter realen Bedingungen kann der Markt ineffiziente Ergebnisse hervorbringen. Manchmal ist das System nicht marktwirtschaftlich genug, weil hohe Transaktionskosten, mangelnde Informationen oder Monopole den Wettbewerb behindern. Hier bedarf es staatlicher Korrekturen, um einen Markt zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Zudem bringt der Markt immer dann keine kollektive Wohlfahrt hervor, wenn - wie die Ökonomen sagen - Externalitäten unberücksichtigt bleiben. Im Markt schließen in der Regel zwei Parteien einen Handel ab. Der kann aber Auswirkungen auf das Wohlergehen Dritter oder die Umwelt haben, die im Marktpreis unberücksichtigt bleiben. Im Markt gibt es nicht genügend Anreize, so genannte öffentliche Güter (wie eine intakte Umwelt) bereitzustellen.

Der Staat muss deshalb im allgemeinen Interesse auf verschiedene Weise in das Marktgeschehen intervenieren, um Externalitäten zu eliminieren. Wer den Markt aus Effizienzgründen favorisiert, der muss eine weitere Konsequenz schlucken, die ihm vielleicht nicht schmecken wird. Auf dem Markt wird nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage verteilt. Wer auf dem Markt zur rechten Zeit mit einem attraktiven Angebot vertreten ist, für das es wenige Konkurrenten gibt, erzielt einen hohen Preis. Das so erworbene Einkommen hat wenig mit Verdienst im Sinne von Leistung zu tun. Belohnt wird das richtige Angebot, nicht aber Anstrengungen, Beiträge und Qualifikationen als solche. Das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage und das allseits beschworene Leistungsprinzip passen nicht ohne weiteres zusammen. Last, but not least: Unter realen Bedingungen wird ein wirtschaftliches System, das freie Handlungen in einem freien Markt erlaubt, viele sozioökonomische Ungleichheiten hervorbringen, die ungerecht sind. Denn wir gehen in der Realität unvermeidlich von unterschiedlichen sozialen und natürlichen Ausgangspositionen aus in den Markt. Einige haben durch ihr soziales Umfeld oder ihre natürlichen Begabungen bessere Startchancen, und andere werden durch ihre soziale Umgebung oder natürliche Behinderungen sogar daran gehindert, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Das aber verletzt das Prinzip fairer Chancengleichheit, das sich recht breiter Akzeptanz erfreut: Laufbahnen sollen den Tüchtigen und Fähigen unter gleichen Startbedingungen offen stehen. Deshalb ist die Gesellschaft durch rechtliche Rahmenbedingungen und sozial- und bildungspolitische Maßnahmen so einzurichten, dass alle faktisch die gleichen sozialen Startchancen haben und nutzen können.

Ist dieser allgemeine Rahmen der Gerechtigkeit jedoch staatlich garantiert, so gibt es Gründe der Klugheit und der Gerechtigkeit, einen »Freiraum« für den Markt zu schaffen, in dem sich die Individuen im Marktgeschehen primär an egoistischen Profitinteressen orientieren dürfen. Zum einen ist ein effizienteres Wirtschaftssystem einfach besser als ein weniger effizientes. Zum anderen ist der Markt unter den staatlich geregelten Rahmenbedingungen der Gerechtigkeit, der Vermeidung von Externalitäten und der Bereitstellung öffentlicher Güter wirklich auch im Interesse der Allgemeinheit. Dazu gesellt sich drittens das Argument der wirtschaftlichen Freiheit und Verantwortung. Die Marktwirtschaft stellt nämlich ein ziemlich individualistisches, differenziertes und dezentrales Wirtschaftssystem dar, das auf den eigenen Entscheidungen und der Selbstverantwortlichkeit der Individuen basiert. Eigeninitiative und Gewinnstreben dürfen nicht tabuisiert werden. Das wäre nicht nur unklug, sondern auch unmoralisch, weil sie zu den legitimen Ambitionen von uns Menschen zählen, sofern es im beschriebenen Rahmen der Gerechtigkeit bleibt. Die Prinzipien der freien Marktwirtschaft und der Gerechtigkeit schließen sich also nicht aus. Gerechtigkeit verlangt im Gegenteil den Markt - allerdings einen durch gerechte Rahmenbedingungen eingehegten und ausgeglichenen Markt.

 



 
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