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polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
Hartmut Rosa
Speed
Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie
 
Stephan Schilling
Mikro schlägt Makro
Zur aktuellen Gefechtslage wirtschaftswissenschaftlicher GroĂźtheorien
 
Evelyn AnnuĂź
Race and Space
Eine Nahaufnahme aus dem Sudan
 
Eduardo Molinari
Der Fall Mosconi
Selbstorganisation in der argentinischen Provinz
 
Alexander Somek
Standortkonkurrenz
Wider den ökonomischen Nationalismus der Globalisierung
 
Stefan Huster / Stefan Gosepath
Kontroverse >Markt<
 
 

Interview mit Nancy Fraser

»Gegen den Trend«


Was erwarten wir von Politik mit Blick auf die globale Ökonomie? Wie steht es mit Umverteilung, Anerkennung und Gerechtigkeit? Und was hat eigentlich die kritische Theorie zu alledem noch zu sagen? Ein Interview mit der amerikanischen Philosophin Nancy Fraser.

polar: Nachdem in den Achtzigern besonders in den USA die Anerkennungspolitik vorherrschend war, haben Sie das Konzept der Umverteilung wieder auf die Tagesordnung progressiver Politik gebracht. Inzwischen ist aber nicht mehr die Anerkennungs- oder Identitätspolitik der stärkste Gegenpart zur Umverteilungspolitik, sondern der Neoliberalismus. Finden Sie nicht, dass die Vertreter der Identitätspolitik und der Umverteilung ihre Kräfte vereinen und ihre Aufmerksamkeit in diese Richtung lenken sollten?

Fraser: In der Tat begann ich mich mit Umverteilungs- und Anerkennungspolitik zu beschäftigen, als ich die Gefahr heraufziehen sah, die Anerkennungspolitik könnte die Politik der Umverteilung ersetzen. Ich bin in den sechziger Jahren aufgewachsen und habe auch die neuen sozialen Bewegungen der Siebziger erlebt. Für mich stellte die Anerkennungspolitik immer eine emanzipatorische Ausweiterung der Politik dar, die unsere Auffassung von Gerechtigkeit maßgeblich bereichert. Allerdings gab ich mich niemals der Illusion hin, dass sie das ganze Gewicht emanzipatorischer demokratischer Politik tragen könnte. Eigentlich bin ich immer davon ausgegangen, dass der Prozess der Demokratisierung und Erweiterung des Wohlfahrtsstaates Hand in Hand mit dem Kampf um Anerkennung verlaufen würde. Dann aber geriet mit dem Zusammenbruch des Kommunismus der Wohlfahrtsstaat erheblich unter Druck und mit ihm die Idee des Egalitarismus. In den Vereinigten Staaten zerfiel die Linke in zwei Lager, in die soziale und die kulturelle Linke. Jede Seite beschuldigte die andere, sich nicht mit dem wesentlichen Problem zu beschäftigen. In dieser Situation sprach ich mich gegen eine Perspektivenverschiebung von der Umverteilung zur Anerkennung aus, denn dies schien zu bedeuten, die Umverteilung aufzugeben. Ich argumentierte dafür, dass Gerechtigkeit beide Dimensionen umfasst und man keinen der beiden Aspekt einfach ignorieren kann.

polar: Glauben Sie, dass die Spaltung der Linken auch auf die zunehmende disziplinäre Trennung zwischen Kulturwissenschaften und Sozialwissenschaften zurückzuführen ist?

Fraser: Ja, das ich sicher der Fall. Im US-amerikanischen Universitätsbetrieb haben wir das bei den Gender Studies ganz deutlich gesehen, die zunächst von einem egalitären sozialen Paradigma ausgingen. Als dann später der Poststrukturalismus, die Cultural Studies und all die anderen sexy Theorien aufkamen, spalteten sich die Gender Studies in einen sozialwissenschaftlichen Flügel, der im Ruf stand, konservativ zu sein, und einen kulturwissenschaftlichen, der als kreativ und innovativ galt und viele neue Talente anzog. Die sozial-egalitäre Perspektive wurde im Laufe dieser Entwicklung zunehmend vernachlässigt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich hier bereits wieder eine Veränderung anbahnt - eine Entwicklung, die ich in den letzten Jahren bei meinen New Yorker Studierenden beobachten konnte. Viele von ihnen sind Frauen und würde man sie fragen, würden sie antworten, sie seien Feministinnen. Aber sie beschäftigen sich nicht in erster Linie mit Gender-Themen, auch steht Gender-Identität nur selten im Zentrum ihrer Arbeit. Stattdessen interessieren sie sich für sweatshops, genetisch veränderte Lebensmittel und andere Themen dieser Art. Diese neue Jugendbewegung schreibt sich nicht mehr die Anerkennungspolitik auf ihre Fahnen.

polar: In der Politik der Anerkennung ist der Begriff des Respekts wichtig. Man kann zwei Formen des Respekts unterscheiden. Die erste bezieht sich auf Unterschiede des Status bzw. der Wertschätzung. In der Alltagssprache sagen wir zum Beispiel, dass wir eine Person mehr achten als eine andere, weil sie eine bestimmte Tätigkeit besser ausführen kann. Die zweite, Kantische Auffassung des Respekts impliziert, dass wir uns gegenseitig sowohl als einzigartige Individuen als auch als mündige Mitglieder einer politischen Gemeinschaft respektieren. Wie verhalten sich diese beiden Formen des Respekts zueinander?

Fraser: Vielleicht wäre es einfacher, statt von zwei Formen des Respekts von Wertschätzung und Respekt zu sprechen. Dann können wir sagen, dass Respekt im Sinne Kants für Personen eine Art Schutzhülle darstellt, die, wenn sie etwa in der Form der Menschenrechte institutionalisiert wird, Personen die Freiheit gewährt, ihre eigenen Wertgemeinschaften zu bilden. Von dieser Warte aus gesehen besteht nicht nur kein Spannungsverhältnis zwischen Respekt und Wertschätzung, vielmehr sieht man dann sehr klar, dass man das eine nicht ohne das andere haben kann. Dennoch kann die unterschiedliche Wertschätzung den Respekt, den wir einer Person schulden, untergraben. Nehmen wir das Beispiel eines Neuro-Chirurgen, der ein sehr viel höheres Einkommen hat als ein Straßenkehrer. Und nehmen wir an, dies stelle eine faire Wertschätzung dar, was aber zweifellos nicht der Fall ist. Eine Folge dieser unterschiedlichen Wertschätzung könnte sein, dass der Straßenkehrer nicht als vollwertiges Mitglied an sozialen Interaktionen teilnehmen kann, da die unterschiedliche Wertschätzung seiner Tätigkeit nicht auf den Arbeitsbereich beschränkt bleibt, sondern auch auf andere Lebensbereiche übertragen wird. Das Problem ist somit, wie und auf welche Weise man Wertschätzung verteilt, ohne dass der Anspruch auf gleichen Respekt, der jedem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zusteht, unterminiert wird. Meiner Meinung nach bietet die Idee der »paritätischen Partizipation« einen hilfreichen Bewertungsmaßstab. Damit ist nicht gemeint, dass jeder und jedem von vorneherein die gleiche Wertschätzung entgegengebracht wird, aber es ist impliziert, dass Unterschiede in der Wertschätzung nicht so groß sein dürfen, dass eine gleichberechtigte Teilnahme an sozialen Interaktionen gefährdet wird. Und das bedeutet, es gibt eine Schwelle, jenseits derer Ungleichheiten nicht legitim sind. Das gilt sowohl für Ungleichheiten durch Güterverteilung als auch für Wertschätzungs- und Anerkennungshierarchien. Natürlich lässt sich diese Schwelle nicht leicht bestimmen. Wo sie liegt ist eine Frage, die in der Öffentlichkeit debattiert werden muss.

polar: Sie veröffentlichten 1997 einen Artikel, in dem Sie behaupten, die feministische Theorie befinde sich in einer Sackgasse, weil Anti-Essentialismus und Multikulturalismus es versäumten, Identitätspolitik mit Gerechtigkeits- und Gleichheitspolitik zu verbinden. Ist das immer noch so?

Fraser: Ich denke, dass der Feminismus der zweiten Generation mittlerweile keine sonderlich aktive soziale Bewegung mehr darstellt. Heute denken feministische Theoretikerinnen in »bescheideneren« Begriffen, etwa wie man die Anliegen von Frauen in der einen oder anderen Situation am besten vertreten kann. Oft versuchen sie, ihre Theorien mit spezifischen praktischen Fragen zu verbinden, wie der, ob wir Gesetze gegen sexuelle Belästigung so umgestalten können, dass auch das Recht auf Schutz der Privatsphäre respektiert wird. Aber viele feministische Theorien in den USA beziehen sich noch immer wesentlich stärker auf die kulturelle und weniger auf die politisch-ökonomische Dimension von Gender- Ungerechtigkeiten. Ich finde das problematisch, würde aber dennoch sagen, das Hauptproblem ist nicht so sehr der Feminismus selbst, als vielmehr wie er sich anderer Probleme annimmt. Eine wichtige Aufgabe von Feministinnen besteht gegenwärtig darin, dafür zu sorgen, dass Gender in allen Bereichen über die wir nachdenken, angemessen thematisiert und berücksichtigt wird, bei Themen wie Globalisierung und Migration ebenso wie bei Genozid. Ich sehe mich daher nicht als eine Philosophin, die feministische Theorie betreibt, sondern vielmehr als eine, die über Probleme der Demokratie und Gerechtigkeit in einer Weise nachdenkt, die man als Gender-sensitiv bezeichnen kann.

polar: Viele Theoretiker hatten den Nationalstaat vor Augen, als sie Vorstellungen über Gerechtigkeit entwickelten. Mit Blick auf die Globalisierung stellt sich die Frage, ob wir womöglich neue Begrifflichkeiten benötigen, um beschreiben zu können, wie eine gerechte Ordnung aussehen sollte.

Fraser: Gegenwärtig entsteht in der Tat als Reaktion auf die Globalisierung ein neues Bewusstsein dafür, dass wir über Gerechtigkeit nicht mehr so reden können, als hätten wir den angemessenen theoretischen Rahmen bereits abgesteckt. Damit will ich nicht sagen, dass die Bezugseinheit jetzt der Globus sein sollte, oder gar, dass wir aufhören sollten, über Gerechtigkeit und Gleichheit nachzudenken. Ich denke, dass von nun an jede Frage der Gerechtigkeit – sei es die Verteilungs- oder die Anerkennungsfrage – eine explizite Diskussion über den Bezugsrahmen beinhalten muss. Allerdings können wir nicht im Voraus sagen, wie dieser aussehen sollte: Die Diskussion darüber ist selbst Gegenstand der Gerechtigkeit. Für mich heißt dies auch, dass jede Frage der Gerechtigkeit immer auch das Problem der Repräsentation berührt. Es reicht nicht aus, darauf zu beharren, dass eine Politik der Umverteilung mit der der Anerkennung verknüpft werden muss. Vielmehr müssen beide politischen Bereiche mit einer Politik der Repräsentation in Verbindung gebracht werden, die den richtigen Bezugsbereich für die verschiedenen Fragen festlegt. Allerdings denke ich nicht, dass es einen einzigen Rahmen gibt, der für alles passt, wie manche Theoretiker globaler Gerechtigkeit vorschlagen. Es scheint mindestens zwei unterschiedliche Herangehensweisen zu geben. Die erste ist objektiv und fragt danach, wer die betroffenen Personen sind. Wer etwa nimmt wirklich am Marktgeschehen teil? Abhängig von der Antwort, die nicht in jedem Falle »jeder« lauten muss, wendet man das Habermassche Diskursprinzip an, das besagt, dass alle diejenigen, die sich Normen und Gesetzen unterwerfen müssen, als Autoren an deren Zustandekommen beteiligt werden sollen. Hier wird der theoretische Bezugsrahmen durch das objektive Kriterium der Betroffenheit festgelegt. Ein Problem dieses Ansatzes ist, dass nicht immer sofort klar ist, wer betroffen ist – darüber besteht oft Uneinigkeit. In einer solchen Situation können wir auch nicht davon ausgehen, dass Theoretiker die Frage objektiv entscheiden können. Diese Frage müssen wir dem Prozess der Deliberation zuführen. Damit haben wir bereits eine zweite, nämlich »deliberative« Art gewonnen, den theoretischen Bezugsrahmen zu bestimmen. In diesem Fall sind wir aufgefordert, uns darüber zu verständigen, wer überhaupt betroffen ist und wo die Grenzen der Deliberation verlaufen. Derzeit aber steht uns noch kein gangbarer Weg offen, solche Diskussionen auch tatsächlich zu institutionalisieren. Daher ist eine vordringliche Aufgabe von Theoretikern, die sich mit Öffentlichkeit beschäftigen, herauszufinden, wie dieser Weg aussehen könnte.

polar: So sehr sich die verschiedenen kritischen Theorien auch unterscheiden mögen – denken Sie an die alte Frankfurter Schule, aber auch an Simone de Beauvoir, Michel Foucault und Pierre Bourdieu –, sie alle haben vier Ansprüche gemeinsam: den kognitiven Anspruch einer adäquaten Gesellschaftsanalyse; den normativen Anspruch einer fairen Beurteilung der Gesellschaft; den emanzipatorischen einer adäquaten Analyse, die Ausbeutung und Marginalisierungen überwinden hilft; und schließlich den Anspruch, selbstreflexiv zu sein. Was sollte kritische Theorie Ihrer Meinung nach heute leisten?

Fraser: In diesem Punkt bin ich mit Axel Honneth einig – auch, wenn wir vor einer Weile ein Buch herausgebracht haben, in dem wir unsere Differenzen artikulieren. Beide sind wir der Auffassung, dass kritische Theoretiker mehr denn je umfassend und interdisziplinär über die Zeit nachdenken sollten, in der wir leben, und angemessene Begriffe für Analysen entwickeln, die, wie Sie zu Recht sagen, gleichzeitig selbstreflexiv aus kognitiver, normativer und emanzipatorischer Perspektive vorgenommen werden sollten. In dieser Hinsicht wenden wir uns gegen den derzeitigen Trend der akademischen Spezialisierung. Die meisten unserer Kollegen und Freunde, die der Tradition der Frankfurter Schule angehören und bei Habermas studiert haben oder aus diesem Umfeld kommen, haben sich wesentlich stärker spezialisiert als Honneth und ich – manche auf Verfassungstheorie, andere auf Moralphilosophie im engeren Sinne. Honneth und ich bemühen uns ungeachtet unserer Differenzen um eine umfassendere Theorie. Nur so kann kritische Theorie heutzutage noch von Bedeutung sein. Wir sollten dem bestehenden Druck nicht nachgeben und erwachsene, reife, verantwortliche Spezialisten sein wollen.

Das Interview führten René Gabriëls und Yolande Jansen.
Aus dem Amerikanischen von Julia Roth.



 
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