Das postfordistische Prinzip beschleunigt alle Prozesse ›just in time‹. Stattdessen notiert die Zeitökonomie der neuen Musik lange Pausen zwischen den Tönen, die manchmal auch anderthalb Jahre dauern. Man fährt ja auch nicht mit einem Luxusdampfer zum Kiosk. Auf der Bühne sitzen weit über hundert Musiker, ein gigantisches Orchester mit einer exotischen Altflöte, zwei Englischhörnern und massivem, sechsfachem Blech. Der Dirigent hebt zum dritten der Sechs Orchesterstücke von Anton Webern an. Geschlagene elf Takte lang, knapp fünfzig Sekunden, erklingt Musik. Dann verstummt das Orchester; das Stück ist aus. Die übrigen fünf Sätze des Zyklus‹ geraten kaum länger. Und auf einen wuchtigen Tutti-Klang, mit dem der mobilisierte Apparat seine Kraft, Stärke und Potenz demonstrieren könnte, hat Webern ganz verzichtet.
Weberns monströs besetzte Orchesterstücke sind Teil einer Entwicklung, in der Größe und Bedeutung der westlichen Kunstmusik um 1900 vollkommen monumentalisiert wurden. Üblicherweise denkt man an ausladende Werke wie Gustav Mahlers Achte Sinfonie (»Sinfonie der Tausend«) oder Arnold Schönbergs Gurre-Lieder. Neben diesen Stücken wirken Weberns Miniaturen wie eine Groteske. Und man hat es zurecht eine Ohrfeige genannt, die der Komponist der Ökonomie erteilt. Ein anderes Beispiel. Im Jahre 1893 komponiert Erik Satie vier mal vier Takte für Klavier und wie beiläufig vermerkt er am Rande, man möge das Notierte 840 mal wiederholen, womit er seinen Vexations eine Aufführungsdauer von etwa vierundzwanzig Stunden verleiht. Die Uraufführung des Stückes lässt deshalb siebzig Jahre auf sich warten. Erst 1963 gelingt es John Cage, eine Reihe von Pianisten zu einer Marathonaufführung zu bewegen.
Großes Aufgebot, maximale Enttäuschung
Musik ist eine stark ökonomisierte Kunst, was vorrangig auf die strikte Arbeitsteilung zwischen Komposition und Interpretation zurückzuführen ist. Anders als in der bildenden Kunst ist Ökonomie nicht nur eines der gestalterischen Mittel, sondern eine realökonomische Größe, die schnöde Aspekte wie Lohnkosten, Saalmiete und Verwertungsrechte zu berücksichtigen hat. Wirtschaftliche Abhängigkeiten sind im Bereich der Musik deshalb besonders greifbar. In den genannten Werken von Webern und Satie werden die wirtschaftlichen Voraussetzungen selbst Faktur; sie negieren das Ökonomieprinzip der Kunst an sich. Oder anders: Ein Maler, der eine immense Wandfläche beansprucht, um dort einen klitzekleinen Tintenfleck zu platzieren, hat mit der von ihm okkupierten Wandfläche, mit dem von ihm abgesteckten Rahmen, bereits Spuren und Male hinterlassen. Der aufgebotene Apparat Anton Weberns hingegen ist nicht schon Musik, sondern weckt bestenfalls eine Erwartung, eine Vorstellung von Musik, deren Enttäuschung dann erst Musik genannt zu werden verdient.
Kunst, es ist eine Binsenweisheit, hat immer etwas mit Ökonomie zu tun. Und sofern wir den Werken immer auch ein kritisch-diskursives Potential unterstellen, müsste es Beispiele einer Musik, die ihre ökonomischen Voraussetzungen infrage stellt, folgerichtig hageln. Tatsächlich aber ist ein Stück wie Weberns monströser Miniaturen-Zyklus die Ausnahme. Ja, die Beispiele sind so rar, dass man meinen könnte, die Komponisten der Moderne seien ihrer Pflicht zum Ungehorsam nicht nachgekommen. Aber so einfach ist es leider nicht.
Zunächst einmal gehört das Ökonomieprinzip, eine ausgewogene Zweck-Mittel- Relation, zu den handwerklichen Voraussetzungen einer jeden Kunst. Das Credo des »Alles aus einem« ist ein Jahrhunderte währendes, ungeschriebenes Gesetz und jedem Komponisten, der es verletzte, sprach man Ernst und Meisterschaft ab. Das eklatante Missverhältnis von Zweck und Mittel, das seit dem frühen 20. Jahrhundert als eine strategische Option der Kunstmusik immerhin besteht, bedurfte des im 19. Jahrhundert entstandenen Bildes vom genialischen Künstler. Es ist eine oft übersehene Voraussetzung der Konzeptkunst, dass der Genie-Begriff des 19. Jahrhunderts intakt bleiben muss, um Kunst gegen die sie tragenden Institutionen ausspielen zu können. Nur unter dem Vorwand des Genialischen kann eine Nicht- und eine Anti-Kunst in der Bürgerlichkeit bestehen.
Geniale Dilettanten warten auf den Ton
Aber die Institutionalisierung des Genie-Begriffs ermöglichte eben auch künstlerische Gigantomanien, die die Zweck-Mittel-Relation zwar außer Kraft setzten, sich aber, anders als das Webernsche und das Satiesche OEuvre, nicht als Ökonomiekritik begreifen lassen, sondern mit dem Pathos künstlerischen Willens legitimiert werden. Ähnlich motiviert ist der Nimbus des »erst in Zukunft Spielbaren«, mit dem Künstler ihre Ausfälle – allerdings schon seit Beethoven – rechtfertigen.
Den extremökonomischen Arbeiten des Fluxus und des Minimalismus lässt sich gewiss noch etwas abgewinnen. Terry Rileys berühmte Quinte, die mit der Aufführungsanweisung »to be held for a long time« versehen ist oder die Monate währenden Bandschleifen, die La Monte Young installierte, geben jeden Zusammenhang zwischen Tonvorrat und der zeitlichen Dimension eines Werkes auf. Aber das ist wiederum eine Strategie, die kein Privileg der Musik ist, und die von Samuel Beckett oder Yves Klein vielleicht sogar überzeugender durchgeführt worden ist.
Aber die Beispiele bleiben rar. Es scheint kein vorrangiger Refl ex der Musik nach 1945 gewesen zu sein, die ökonomischen Voraussetzungen, unter denen Musik erklingt, zu hinterfragen. Dennoch ist das Konzept einer ökonomischen Negativität in der musikalischen Avantgarde nicht auf der ganzen Linie gescheitert. Das John-Cage-Projekt in Halberstadt bereichert diese spärliche Sammlung um ein hoffnungsvolles Beispiel. Die Initiatoren nahmen die Tempoangabe des Stückes ASAP, »as slow as possible«, beim Wort und begannen am 5. September 2001 mit einem Konzert, das insgesamt 639 Jahre dauern soll. Der erste Akkord erklang, nach einer anderthalbjährigen Eingangspause, am 1. März 2003. Der fünfte Tonwechsel wird im Juli 2008 erfolgen.