Das humboldtsche Hochschulideal schien gerade in Deutschland seine Verwirklichung gefunden zu haben - eine schwerwiegende Fehleinschätzung. Immer schon gab es konkurrierende Interpretationen der humboldtschen Vorstellung. Doch lohnt es sich, an der sozialliberalen Lesart festzuhalten. Privatisierung, Studiengebühren, berufsqualifizierender Bachelor, Akkreditierung und Exzellenzinitiative: Seit Mitte der 90er Jahre ist die gesamtdeutsche Hochschulpolitik sichtbar in Bewegung geraten. Begleitet werden solche Neuerungen häufig durch die Empfehlung einer grundlegenden Abkehr vom humanistisch-idealistischen Bildungsideal Humboldtscher Prägung. »Die Humboldt-Universität ist tot«, so argumentierte der ehemalige »Zukunftsminister« Jürgen Rüttgers 1998 im Bundestag. Es scheint nicht mehr zeitgemäß, sich der hiesigen Bildungstradition zu verschreiben, geschweige denn, sich mit der Idee der Universität zu identifizieren. Politisch bemisst sich die vermeintliche Qualität der höheren Bildung längst an den zahlreichen Hochschulrankings und ihrer medial wirksamen Inszenierung von (Un)Sichtbarkeit. Sollen wir Humboldt vergessen?
Die standesgebundene deutsche Universität
Schon der flüchtige Blick in die zahlreichen kulturhistorischen Aufarbeitungen der deutschen Universitätsgeschichte lässt den Schluss zu, dass die Idee der Universität - wie sie Humboldt und seinen Mitstreitern zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorschwebte - in Deutschland lediglich in Ansätzen verwirklicht wurde. Im Kern verfolgte das Ideal den freien wissenschaftlichen Austausch, der durch einen staatlich geschützten Rahmen ermöglicht werden sollte. Die Universität sollte also einen Raum außerhalb gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zwänge schaffen, in dem Lehrende und Studierende sich gemeinsam - und insofern gleichgestellt - auf die Suche nach Wahrheit begeben. Aufgrund ihrer Vereinnahmung durch das spezifisch deutsche Sonderwegs- und Standesdenken hat diese
Idee jedoch eine ganz eigene Verwendungsgeschichte geschrieben. Mit ihrer übertriebenen Selbstdarstellung und der Abschottung gegenüber gesellschaftlichen Anfragen und Problemen haben sich »Bildungsphilister« (Nietzsche) und Ordinarienuniversität nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Ignoranz und Vetternwirtschaft auf die Fahnen geschrieben. Selbst in der Wiederaufbauphase der Universität nach 1945 fanden sich noch die Restbestände jenes stillen Bündnisses zwischen Obrigkeitsstaat und »Bildungselite«, das sich dem Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck zufolge wie ein roter Faden durch die Geschichte des deutschen Bildungsliberalismus zieht. Erst die 68er Studentenbewegung hat diese Verhältnisse mit ihrer eigentümlichen Mixtur aus revolutionären und humboldtschen Argumenten gründlich aufgemischt. Seither konkurrieren mindestens zwei Interpretationen der Universitätsidee. Die eine - im Umfeld des liberal-konservativen Philosophen Joachim Ritter entwickelt - zehrt von der explosiven Mischung aus technokratischem Fortschrittsoptimismus und Kulturkonservatismus. Im neokonservativen Glauben an naturgegebene individuelle Begabungen und einen objektiv festgelegten Qualifikationsbedarf stand man der uneingeschränkten Öffnung der Universitäten skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Auf der anderen Seite wurde die Humboldtsche Idee - in einer gewissen Nähe zum Sozialliberalismus Habermasscher Prägung - im Sinne subjektiver Teilhabe- und Teilnahmerechte gedeutet. Kritisch sah man hingegen die Institutionalisierung eines von der Wissenschaft weitgehend abgespaltenen bloßen Erziehungs- und Berufsbildungsauftrags, wie er heute wieder im Rahmen der europäischen Hochschulreform (Bologna-Prozess) diskutiert wird. Beide Positionen finden sich in der aktuellen Diskussion wieder - wenn auch in den ethisch weniger anspruchsvollen und zum Teil ins Populistische gewendeten Formen blinder Marktgläubigkeit auf der einen Seite und überzogen marktfeindlichem Ressentiment auf der anderen.
Staatlich vermittelte »indirekte« Ökonomisierung
Mit dem Schlagwort Ökonomisierung können ganz unterschiedliche Entwicklungstendenzen im Hochschulsektor gemeint sein. Am naheliegendsten ist die Verbindung zu »direkten« Markteinflüssen. Aufgrund der derzeit noch greifenden Schutzbestimmungen in den General Agreement on Trade in Services (GATS)-Verträgen sehen sich die überwiegend staatlich fi-nanzierten Hochschulen in Deutschland dem freien Kräftespiel des Marktes jedoch nicht un-mittelbar ausgesetzt. Zwar gibt es eine Reihe von Faktoren, die eine stärkere Öffnung für direkte Markteinflüsse erwarten lassen. Darunter fallen etwa die Einführung von Studiengebüh-ren, die steigende Anzahl staatlich akzeptierter Privathochschulen, und vereinzelt auch die Spendenbereitschaft der freien Wirtschaft (etwa im Rahmen der finanziellen Rehabilitierung der »Jacobs University Bremen«). Noch zieht der Staat sich jedoch nicht zurück. Stattdessen tritt er den Universitäten in der veränderten Gestalt des Neuen Steuerungsmodells (New Public Management) gegenüber und versucht, betriebswirtschaftliches Denken auf indirektem, durch Ministerialbeamte und Hochschulräte vermitteltem Weg einzuführen. Rat holt sich die Politik dabei zum Teil aus wirtschaftsnahen Denkfabriken, wodurch sie sich dem Verdacht aussetzt, politische Entscheidungen den üblichen demokratischen Mechanismen zu entziehen. Unter dem Druck klammer Kassen führt die Ökonomisierung staatlicher Steuerung ferner zur nachgeordneten Ökonomisierung der Hochschulen. Denn deren Schwerpunkte in Forschung und Lehre richten sich zunehmend an dem aus, was Regierungen, Ministerialverwaltungen und Parlamente jeweils für kostengerecht und nützlich halten.
Für ein demokratisches Bildungsverständnis
Dass die Anwendung von Marktmechanismen im Hochschulbereich nicht zwangsläufig die Kolonialisierung universitärer Lebenswelten nach sich ziehen muss, zeigt die US-amerikanische Erfahrung. Trotz der vergleichsweise starken Wettbewerbsorientierung konnte sich die Humboldtsche Idee dort wesentlich besser entfalten, weil sich Hochschulangehörige – statt staatlich vermittelt – direkt über eine demokratische Bildungskultur aufeinander beziehen können. In Deutschland sind Ansätze einer solchen Kultur immer noch von ständischen Idiosynkrasien überlagert. Die Freiheit von Forschung und Lehre wird häufig auf Kosten traditionell benachteiligter sozialer Gruppen genutzt. Das Ergebnis sind Ungleichverteilungen immaterieller Güter, wie Aufmerksamkeit, Betreuung und Förderung durch die Lehrenden. So gesehen bietet die stärkere Standardisierung von Studium und wissenschaftlichen Qualifikationsphasen im Rahmen des Bologna-Prozesses auch die Chance der gerechteren Verteilung von Gütern und Lasten im Hochschulsystem. Ob diese Chance genutzt wird, hängt nicht nur von den finanziellen Spielräumen der Hochschulpolitik ab, sondern auch von der Durchsetzungsfähigkeit konkurrierender Vorstellungen der Hochschulbildung. Die aktuellen Empfeh-lungen des Wissenschaftsrates zur künftigen Rolle der Universitäten sehen zum Teil drastische Umwälzungen vor. Man wird sich fragen müssen, ob Universitäten, die sich in Zukunft primär über das Ziel der Berufsbefähigung ihrer Studierenden profilieren sollen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Universität jenseits wirtschaftlicher Zwänge hat es nie gegeben und wird es nie geben. Gerade deshalb sollte jedoch an der sozialliberalen Lesart der Idee der Universität festgehalten werden; die steht immer noch für die Befähigung zur Selbst-bildung aller. Dazu muss die Möglichkeit gegeben sein, an jenen demokratisch-kommunikativen Formen der Argumentation teilzuhaben, auf die sowohl die Wissenschaft wie auch die Selbstverständigung einer nicht festgefahrenen, und insofern lernfähigen, demokratischen Gesellschaft angewiesen sind.