Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
Hartmut Rosa
Speed
Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie
 
Stephan Schilling
Mikro schlägt Makro
Zur aktuellen Gefechtslage wirtschaftswissenschaftlicher GroĂźtheorien
 
Evelyn AnnuĂź
Race and Space
Eine Nahaufnahme aus dem Sudan
 
Eduardo Molinari
Der Fall Mosconi
Selbstorganisation in der argentinischen Provinz
 
 

Alexander Somek

Standortkonkurrenz

Wider den ökonomischen Nationalismus der Globalisierung


Die Aufgabe des Staates verändert sich: er wird zum Bundestrainer der Nationalwirtschaftsmannschaft im globalen und verewigten Wettlauf um Investitionspunkte. In die Spielregeln des internationalen Kapital- und Arbeitsmarktes und der Steuer- und Sozialkonkurrenz kann er kaum mehr eingreifen. Was er aus dem Blick verliert: Leben ist ortsgebunden.

Unsere Wahrnehmung des Staates hat sich verändert. Bis vor kurzem noch wären wir geneigt gewesen, einer Bestimmung seiner Rolle beizupflichten, die an Hegel gemahnt. Demnach ist der Staat dazu da, das allgemeine Interesse zu realisieren. Diese Funktion erfüllt er im Verhältnis zu den desintegrierenden und polarisierenden Tendenzen der Marktwirtschaft. Der Staat garantiert den sozialen Frieden. Er hält die Tarifpartner zur Kompromissfindung an; er verhindert - etwa durch die Festlegung von Umweltstandards -, dass einige wenige sich auf Kosten einiger oder aller anderen einen Vorteil verschaffen; er verwendet Steuergelder, um öffentliche Güter zu schaffen; er unterstützt jene, die aufgrund der Primärverteilung durch Märkte weniger erhalten, als sich rechtfertigen lässt.

Entrepreneur der Region
So einfach verhält es sich nicht mehr. Unter Bedingungen gesteigerter internationaler Verflechtung ist das Allgemeine, das der Staat realisiert, als etwas Partikulares zu begreifen. Staaten sind eingebettet in die Reproduktion einer globalen bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind zu deren Subjekten geworden. Manifest wird dies daran, dass die Politik ihre Aufgabe als »Standortsicherung« beschreibt. Dies signalisiert, worum es in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik geht. Der Staat bestimmt sich als Gesamtunternehmer einer nationalen Volkswirtschaft oder einer Region. Er hütet den Wirtschaftsstandort. Der Staat begreift sich als Wettbewerbsstaat. Entscheidungen über die Belastung von Betrieben mit Abgaben werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit gefällt.

Ein Staat dieser Art übernimmt vor allem die Aufgabe, dem Eintreten eines bestimmten Falles vorzubeugen. Sein Auftreten ist systematisch nicht ausgeschlossen; aber er gilt als der schlimmste Fall, der in einem Wettbewerbsstaat auftreten kann. Es handelt sich um die Schließung eines »gesunden Betriebes«. Eine solche liegt immer dann vor, wenn ein Betrieb, der Gewinne abwirft, liquidiert wird, weil sich anderswo wegen der geringeren Produktionskosten höhere Erträge erzielen lassen.

Im Schlimmstfall muss der Wettbewerbsstaat tatenlos zusehen. Wenn er intervenierte, wäre das ein Ausdruck von Protektionismus. Im Wirtschaftsverfassungsrecht der globalen und europäischen Integration sind protektionistische Interventionen verpönt. Der Protektionismus hemmt das Wirtschaftswachstum. Er behindert das immer engere Zusammenwachsen der Völker. Der Wettbewerbsstaat interveniert nicht mehr. Im Schlimmstfall wird Bedauern ausgedrückt. Durch sein Bedauern bekennt der Staat seine Ohnmacht. Das Ohnmachtsbekenntnis ist ein integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik des Wettbewerbsstaats.

Es scheint, als wäre das Ohnmachtsbekenntnis auch moralisch geboten. Der internationale Wettbewerb bietet den weniger wohlhabenden Regionen eine Entwicklungschance. Chinesische oder slowakische Arbeitskräfte profitieren erheblich mehr von der Standortverlegung als die Arbeitskräfte in den westlichen Industriegesellschaften verlieren. Das ist wenigstens solange der Fall, als die letzteren durch ein solides soziales Netz gesichert sind. Gleich dem Ruf nach Begrenzung der Immigration würde das Verlangen nach Abschirmung gegenüber Konkurrenz dem Wohlstandschauvinismus des Westens huldigen. Das Geschehenlassen der Standortverlagerung muss daher wie ein Akt der internationalen Solidarität anmuten.

Liquidation und Vivisektion
Die vorstehende Schlussfolgerung beruht auf der Prämisse, dass die Maximierung des Nutzens das Gute ist ohne Rücksicht darauf, dass diejenigen, die etwas opfern müssen, ihre eigene Lebensgeschichte haben. Dagegen lässt sich ein Einwand erheben. Vergleichen wir den gesunden Betrieb mit einem gesunden Menschen. Wir würden es wohl kaum für angemessen halten, einen gesunden Menschen zu opfern, damit genügend Organe vorhanden sind, um vier kranke Menschen zu heilen. Wieso sollten also funktionierende Betriebe geschlossen werden, bloß damit es anderen Betrieben besser geht, die vergleichsweise schlechter dastehen?

Man mag die Analogie für unangemessen halten. Betriebe sind keine (natürlichen) Personen. Sie sind Organisationen, die von Menschen geschaffen werden, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Dass man bei der Schaffung einer solchen Organisation oder beim Eintritt in diese ein Risiko eingeht, ist jedem Beteiligten bewusst. Selbst wenn Betriebe liquidiert werden müssen, ist das nicht gleichbedeutend mit dem Ende eines menschlichen Lebens. In einer funktionierenden Marktwirtschaft gibt es immer Hoffnung auf ein Leben nach dem wirtschaftlichen Tod. In einer wichtigen Hinsicht ist die Analogie zwischen Liquidation und Vivisektion allerdings tragfähig. Arbeit ist Leben. Ein nicht geringer Teil des menschlichen Lebens besteht darin, ein verwertbares Ausbildungsprofil zu erwerben und auf dem Arbeitsplatz zu realisieren. Die Umverteilung von Arbeitsplätzen stellt einen tiefen Einschnitt in die Biographie der betroffenen Menschen dar. Arbeitsplätze sind ihrer sozialen Bedeutung nach mehr als bloß eine Ressource zur Gewinnung von Einkommen. Sie sind der soziale Ort, an dem sich zeigt, ob es Menschen gelingt, in der sozialen Welt, in der sie leben, Fuß zu fassen und präsent zu sein. Erfolg im Beruf gilt als Indiz dafür. Er erhebt das Leben, wenn auch nicht dauerhaft, über den abgründigen Zweifel an seiner Entbehrlichkeit. Wenn es Mitarbeitern in einer gemeinsamen Anstrengung gelingt, einen Betrieb trotz verschärfter Wettbewerbsbedingungen aus der Verlustzone zu halten, werden sie dies als gemeinsamen Erfolg erleben. Den Betrieb daraufhin zu schließen, bloß weil die Produktion anderswo effizienter ist, signalisiert ihnen, dass ihre Anstrengungen nichts wert sind. Es führt ihnen vor, dass das, was sie für eine erfolgreiche Zusammenarbeit halten, entbehrlich ist. Als kooperierende Gruppe sind sie genau so viel Wert wie ein Gesunder, dem Organe entnommen werden, um Kranke zu heilen.

Leben ist nicht standortneutral
Man mag einwenden, dass in einer Marktwirtschaft die Mitarbeiter eines weniger effizienten Betriebes von anderen nicht den Wettbewerbsverzicht erwarten dürfen. Es hieße zu verlangen, von denjenigen unterstützt zu werden, die ohnedies weniger haben. Wer ohne diese Unterstützung seinen Arbeitsplatz nicht behalten kann, muss sich nach einem anderen umsehen. Aber für viele Menschen ist die Arbeit nicht standortneutral. Sie möchten dort arbeiten, wo sie leben. Ihr Wunsch sollte nicht abgetan werden. Wenn man ihn ignoriert, gibt man der liberalen Mobilität Vorrang vor der gleichen Achtung der Lebensentwürfe. Die vom Liberalismus vorausgesetzte Mobilität ist nicht neutral. Sie ist parteiisch für die globale Rekombination der Produktionsfaktoren. Der Respekt vor den Anstrengungen, welche die Menschen unternehmen, um ein Leben, wie sie es sich eingerichtet haben, fortsetzen zu können, darf den internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht abgehen. Dies würde das mobile Kapital unverhältnismäßig auf Kosten derer begünstigen, die bleiben wollen, wo sie sind.

Der vorgebliche wirtschaftliche Internationalismus des Wettbewerbsstaats ist angewandter Nationalismus. Er verurteilt die Arbeitnehmer zur Konkurrenz im Rahmen ihrer national begrenzten Möglichkeiten. Davon profitiert das globalisierte Kapital. Denn der wirtschaftliche Nationalismus macht Arbeitnehmer gefügig. Durch supranationale ausgehandelte Interventionen ließe sich dieses Verhältnis umkehren. In ihrem Rahmen ließen sich Kompromisse zwischen den Arbeitnehmern der betroffenen Regionen erzielen. Sie wären politisch zu verhandeln ohne unverhältnismäßige Rücksichtnahme auf die Interessen der Konzerne. 



 
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SCHÖNHEITEN

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