Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
Hartmut Rosa
Speed
Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie
 
Stephan Schilling
Mikro schlägt Makro
Zur aktuellen Gefechtslage wirtschaftswissenschaftlicher GroĂźtheorien
 
Evelyn AnnuĂź
Race and Space
Eine Nahaufnahme aus dem Sudan
 
Eduardo Molinari
Der Fall Mosconi
Selbstorganisation in der argentinischen Provinz
 
Alexander Somek
Standortkonkurrenz
Wider den ökonomischen Nationalismus der Globalisierung
 
Stefan Huster / Stefan Gosepath
Kontroverse >Markt<
 
Interview mit Nancy Fraser
»Gegen den Trend«
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Kinderkriegen und aussteigen<
 
Bertram Keller / Ralph Obermauer / Thomas Schramme / Peter Siller
Ist es links? >Gleichheit<



MEHRWERT

 
Joseph Vogl
Ein Spezialist der Anfänge
Was den ökonomischen Menschen ausmacht
 
Interview mit Eva Illouz
»Liebe jenseits des Marktes wäre grau und leer«
 
Michael Eggers/Martin Saar
Feindliche Ăśbernahme
Kunst, Kritik und Kapital
 
Bertram Keller
Die Vermarktung der Idee
Brauchen wir geistiges Eigentum?
 
Interview mit Ernst-Wilhelm Händler
»Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel«
 
Björn Gottstein
So langsam wie möglich, bitte!
Die negative Ă–konomie der musikalischen Avantgarde
 
Thomas Schramme
Zweckimperialismus und Zweckvergessenheit
Arbeit und Ă–konomisierung
 
 

Julia Roth

Tango Argentino

Ein Streifzug durch Buenos Aires


Man kann 2007 in Buenos Aires leben wie in Berlin oder New York. Doch die Risse sind größer geworden, die Spuren der Krise zu Beginn des Jahrtausends spürbar.

Die U-Bahntür geht nicht zu. Die Tasche an den Körper pressend versuche ich, mich noch vorsichtig in den Wagen hineinzuquetschen. Aussichtslos. Ich steige wieder aus und warte auf den nächsten Zug. Auch der platzt aus allen Nähten. Nadelstreifenhosen reiben sich an Kostümröcken. Es riecht nach Armani und Hugo Boss. Sitzen? - Undenkbar! Lesen? - Niemals. Atmen? - Sehr bedingt. Nur die charmant-höflichen Umgangsformen der porteños halten mich davon ab, es dem Amokläufer gleichzutun, der vor einigen Wochen im Stadtteil Belgrano wahllos einige Menschen niedergeschossen hat. Durch das Fenster sehe ich im U-Bahntunnel ähnlich einem Daumenkino Hochglanzbilder von Nike-Turnschuhen vorbeischwirren. Rush-hour in Buenos Aires.

Das Mädchen mit den langen, dunkelbraunen Haaren streckt den sitzenden Fahrgästen die Hand entgegen. Denjenigen, die einschlagen, drückt sie einen Kuss auf die Wange und ein Kärtchen, auf dem ein Heiligenbildchen zu sehen ist, in die Hand. Nachdem der gesamte Waggon versorgt ist, geht sie die Reihe wieder ab. Die meisten Fahrgäste geben ihr das Kärtchen zurück. Die, die es behalten, geben dem Mädchen eine Münze. Das Mädchen ist schätzungsweise sieben Jahre alt.

Aus dem Taxifenster sehe ich einen Mann, der ungefähr fünfzehn Hunde an der Leine spazieren führt. »Eso se ve mucho acá, es un trabajo« klärt mich der nette Taxifahrer auf meinen verwunderten Blick hin auf – »das sieht man hier oft, es ist ein Job.« Im Zentrum von Buenos Aires gibt es viele schicke, teure Boutiquen, wie die prunkvollen Galerias Pacíficos. Morgens liegen vor den noch durch Metallgitter verschlossenen Geschäften schlafende Jungenkörper, Kinder noch, das Gesicht spärlich unter einer Decke versteckt. Kellner tragen auf Tabletts unter Plastikhauben, Kaffeetassen in die Büros. Die schicken Restaurants im mondänen Puerto Madero sehen aus wie ihre Pendants in den Londoner Docklands. Die Bars und Clubs, die Off-Theater und Cafés im In-Viertel Palermo erinnern an SoHo in Manhattan oder Berlin-Prenzlauerberg. Stolze junge Eltern schieben ihre Kinderwägen an hippen Jungdesignerschaufenstern zur nächsten Sushibar. Sonntags abends beobachte ich bezaubert die Paare, die auf der Plaza Dorrego in San Telmo im Abendlicht unter freiem Himmel Tango tanzen, als zelebrierten sie ein altes Ritual. Die Tangolehrerin Amanda im legendären Salon Canning ist schätzungsweise 70 und trägt passend zum Lippenstift knallrote, sehr hohe Schuhe und weit ausgeschnittene Blusen mit Leopardenmuster. Nachts während der Milongas verkauft Amanda auf der Damentoilette abgelegte Tangokleidung.

Alle sollen abhauen!
Buenos Aires im Jahr fünf nach der Wirtschaftskrise ist schwer (be)greifbar. Einerseits hat sich die Stadt erstaunlich schnell wieder aufgerappelt. Kaum vorstellbar, dass hier vor kurzer Zeit alles aus den Fugen geraten ist. Dass Massen von Menschen auf die Strasse gingen, »¡Que se vayan todos!« riefen und randalierten, weil sie kein Geld mehr von den Banken bekamen und nichts mehr zu essen hatten. Als ich in meiner ersten Woche in der Stadt an der Station Malabia aussteige, sehe ich einen etwa fünfjährigen Jungen, der mit seinem Vater die Mülltüten durchwühlt. Der Junge hält eine Tüte mit Brot in den Händen. Ich bin geschockt, glaube, er sammele Essensreste aus dem Müll. Carolina, bei der ich wohne, klärt mich später auf, dass die Geschäfte das übrig gebliebene Brot abends für die Armen auf die Strasse stellen. Der Junge gehört zu einer der tausenden Cartoneros-Familien, deren Arbeitstag beginnt, wenn es dunkel wird und die Bewohner von Buenos Aires ihre Mülltüten auf die Strasse stellen. Sie sortieren das Papier aus, für das man in Recyclingfirmen Geld bekommt und durchsuchen den Müll nach noch verwendbaren Dingen.

So werde ich mindestens einmal am Tag jäh aus meinem bequemen Europäeralltag gerissen. Über die vielen obdachlosen, hungernden, zahnlosen Menschen, die bettelnden und schon im Grundschulalter für ihren Lebensunterhalt arbeitenden und in Müllhaufen sitzenden Kinder, kann man nicht hinwegsehen. Doch das wohlfahrtsstaatsgewohnte, langzeitstudierte Hirn hat keine Parameter dafür, mit diesen Bildern umzugehen. »Die Krise als temporärer Ausnahmezustand hat dem Leben in Ungerechtigkeit und Prekarität als permanente Situation Platz gemacht.« lese ich auf der verzweifelten Suche nach Erklärungsmustern in der Einleitung des Katalogs zur Ausstellung La Normalidad. Gegen Mittag drängen sich die Verkäufer, die Heftpflaster, Gummihaken oder Che-Guevara-Schreibblöcke anbieten durch die U-Bahnabteile.

Im Alltag der Mittelklasse äußern sich die Spuren der Krise auf feinere, subtilere Weise. Einige WGs, die ich bei Partys von innen zu sehen bekomme, überbieten an Stil und Style das meiste, was ich aus Berlin gewohnt bin. Viele Leute, die ich kennen lerne haben hingegen keine feste Wohnung. Mieten sind teuer und Mietwohnungen rar. Die meisten Hausbesitzer wollen gar nicht an Einheimische vermieten. Zu groß ist die Gefahr, dass die Miete nicht bezahlt wird. Und dankbar zahlende Europäer gibt es genug. Man verdient in Pesos, viele Waren tragen die Preise in Dollar. Computer etwa oder Flüge sind für die meisten unerschwinglich geworden. Viele haben ihre Ersparnisse verloren. Carolina ist Autorin und Regisseurin und betreibt mit mehreren Freunden das kleine Off-Theater Espacio Callejón in der Calle Humahuaca im Stadtteil Abasto. Carolina lässt sich die Miete für das kleine Zimmer mit Dachterrasse, das sie an durchreisende Europäer vermietet, am liebsten in Euro auszahlen. Die bewahrt sie in einer hölzernen Zigarrenkiste auf. Wenn sie Geld braucht, tauscht sie die Euros gegen Pesos ein. Den Banken vertraut sie schon lange nicht mehr. Die Miete sichert ihr eine gewisse Grundlage. Häufig gewährt sie Freunden, die keine Wohnung finden oder das Geld für die Miete nicht aufbringen können, Unterschlupf. Carolina hatte Glück. Die Wohnung hat sie noch kurz vor der Wirtschaftskrise gekauft. Der Staat zahlte ihr damals eine Entschädigung, weil ihr Vater als politischer Dissident von den Schergen der Militärdiktatur ermordet wurde.

An einem kalten, sonnigen Sonntag fahre ich in den Süden der Stadt, um die Fotoausstellung a cartography of the affect in der Casona de los Olivera anzusehen. Der Künstler Gabriel Glaiman dokumentiert seine Erfahrung, als er nach der Krise aus London zurückkam nicht mehr verstand, was in Argentinien passiert war. Diese Sequenz bewegt mich tief. Allzu gut kann ich mich mit der Hilflosigkeit, dem Gefühl des Nichtbegreifenkönnens und sich doch irgendwie Erklärenwollens, identifizieren, das die Bilder transportieren.

»Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escrache
Viele, mit denen ich spreche, versichern mir zwar, dass das Gefühl der Freiheit und der Solidarität von 2001, als der Staat kurzzeitig total wegbrach, inzwischen längst verpufft ist. Doch verspüre ich in diesem Land noch eine kämpferische Energie, eine Wut, wie sie mir in Europa so oft fehlt. Täglich kreuzen Demonstrationszüge meinen Weg. Engagement und Solidarität sind Ehrensache. Es gibt unzählige neue soziale Bewegungen. Die Arbeiter der ehemals besetzten und inzwischen selbst verwaltete Aluminiumfabrik IMPA betreiben eine Schule, in der Uniprofessoren ehrenamtlich unterrichten. Die Stadt ist von politischen Graffitis bedeckt. Viele stammen von den Escraches, medienwirksamen Aktionen, die Kindern während der Militärdiktatur »Verschwundener« gegen Schergen der Diktatur und korrupte Politiker initiierten. Im Escrache-Buch lese ich »dass die transformierende Aktion heute oder gar nicht stattfindet. [Sie ist] das Gegenteil einer Melancholie, die ohne sich zu rühren, eine bessere Welt abwartet.« Letzte Woche hat die Stadt das Espacio Callejón vorläufig geschlossen. Eine Nachbarin hatte wegen Lärmbelästigung geklagt. Carolina will kämpfen und öffentlich mobilisieren. Solange die Situation ungeklärt ist, verdienen sie und ihre sechs Sozios nichts. Carolina bleibt bewundernswert gefaßt. »In diesem Land rechnen wir immer damit, dass morgen alles anders ist«, erklärt sie mir. 



 
Jan Engelmann
Blood Sugar Sex Magic
Leben mit chronischer Effizienz
 
Friedrich Breyer/René Röspel
Kontroverse >Organhandel<
 
Aram Lintzel
Mein halbes Jahr >Musik<
Honest Jon’s – Damon Albarn – Terry Hall – Vert
 
Peter Siller
Mein halbes Jahr >Literatur<
Wolf Haas – Heinz Havemeister – Alexander Pehlemann – Wolfgang Welt
 
Susanne Schmetkamp
Mein halbes Jahr >Film<
Ein Freund von mir – Sehnsucht – Der Himmel über Berlin – Les Quatre Cents Coup – The Shop Around The Corner – Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug



AUSVERKAUFT

 
Rahel Jaeggi
Die Zeit der universellen Käuflichkeit
Vermarktlichung als Problem
 
Gespräch zwischen Axel Honneth, Rainer Forst und Rahel Jaeggi
Kolonien der Ă–konomie
 
Anna LĂĽhrmann
Kapitalismus der Genossen
Sustainopolis. Ein Plädoyer für eine Politisierung der globalen Ökonomie
 
Barbara Bleisch/Regina Kreide
Ohne Klo kein blaues Gold
Wasser zwischen Wirtschaftsgut und Menschenrecht
 
Kathrin Töns
Sollen wir Humboldt vergessen?
Zur Ă–konomisierung der Hochschulpolitik
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Vorsicht Kamera<
 
Aram Lintzel
Sinncontainer: >Nachhaltigkeit<



SCHÖNHEITEN

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