Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #2: Ökonomisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



STANDORT

 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
Hartmut Rosa
Speed
Von der zeitlichen Ăśberforderung der Demokratie
 
Stephan Schilling
Mikro schlägt Makro
Zur aktuellen Gefechtslage wirtschaftswissenschaftlicher GroĂźtheorien
 
Evelyn AnnuĂź
Race and Space
Eine Nahaufnahme aus dem Sudan
 
Eduardo Molinari
Der Fall Mosconi
Selbstorganisation in der argentinischen Provinz
 
Alexander Somek
Standortkonkurrenz
Wider den ökonomischen Nationalismus der Globalisierung
 
Stefan Huster / Stefan Gosepath
Kontroverse >Markt<
 
Interview mit Nancy Fraser
»Gegen den Trend«
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Kinderkriegen und aussteigen<
 
Bertram Keller / Ralph Obermauer / Thomas Schramme / Peter Siller
Ist es links? >Gleichheit<



MEHRWERT

 
Joseph Vogl
Ein Spezialist der Anfänge
Was den ökonomischen Menschen ausmacht
 
Interview mit Eva Illouz
»Liebe jenseits des Marktes wäre grau und leer«
 
Michael Eggers/Martin Saar
Feindliche Ăśbernahme
Kunst, Kritik und Kapital
 
Bertram Keller
Die Vermarktung der Idee
Brauchen wir geistiges Eigentum?
 
 

Interview mit Ernst-Wilhelm Händler

»Sprache und Geld sind ungeheuer flexibel«


Worauf beruht die Macht des Marktes? Wie funktioniert Benchmarking unter Menschen? Und wann schaffen Roboter den Kapitalismus ab? Ein Interview mit dem Unternehmer und Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler.

polar: Herr Händler, Sie haben die ökonomische Welt in ihren Büchern mehrfach zum Thema gemacht, vor allem in den Romanen »Fall« und in »Wenn wir sterben«. Die Wirtschaft ist ein ganz zentraler Lebensbereich, dennoch wird sie von der Literatur weitgehend ausgeblendet. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Händler: Das liegt natürlich in erster Linie am mangelnden Erfahrungshorizont. Ich selbst lebe und arbeite in dieser Welt, aber das ist natürlich kein besonderes Verdienst. Ich habe insofern einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit. Es hängt auch damit zusammen, dass es in der Bundesrepublik die typische Schriftstellerkarriere »von der Wiege bis zur Bahre« gibt. Viele Schriftsteller haben außerhalb der Ausbildung keine Berufspraxis und kommen mit wirtschaftlichen Dingen nur selten in Kontakt. Ein tieferer Grund liegt wohl in der deutschen Romantik: Die möchte mit so trivialen Dingen wie Geld nichts zu tun haben. Man muss allerdings sagen, dass die Wirtschaft in der Weltliteratur immer eine große Rolle gespielt hat: Balzac hat das gesamte Geldwesen seiner Zeit beschrieben. In Italo Svevos »Zeno Cosini« kann man doppelte Buchhaltung lernen, um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen. Wirtschaft war immer ein Thema, weil Macht ein Thema war.

polar: In »Wenn wir sterben« beschreiben Sie einen Markt, der so mächtig ist, dass er sich nahezu alles anverwandeln kann. Es gibt keine ihm entzogene Sphäre mehr. Alles ist potenzielle Ware, auch Gedanken und Gefühle, Liebe, Schönheit und Anerkennung. Worauf beruht diese alles durchdringende Macht des Marktes?

Händler: Das ist eine ganz fundamentale Frage. Ich glaube, diese Macht beruht darauf, dass es keine Konkurrenz zum Markt gibt, denn das Wesen des Marktes ist selbst schon Konkurrenz. Das Wichtige am Markt ist - das ist meine persönliche, etwas altmodische Position -, dass der Wettbewerb gefördert wird: Der Markt ist darauf angewiesen, dass ständig neue Ressourcen erschlossen und genutzt werden. Wenn ich von einer starren, archaischen Agrargesellschaft ausgehe, dann gibt es dort keine Art und Weise, wie Wettbewerb entstehen kann, außer vielleicht um die größte Kartoffel. Die Hauptfunktion des Marktes ist aber, überall - leider überall - Wettbewerb zu schaffen und aus dem Menschen das Maximale herauszukitzeln. Das hat natürlich Schattenseiten. Es gibt diesen Krimi von Wolf Haas mit dem Titel »Komm, süßer Tod«. Dort konkurrieren zwei Wiener Rettungsunternehmen um die meisten Rettungsfälle und provozieren sie schließlich selbst. Auch das ist im Endeffekt ein Ergebnis des Marktes. Er dehnt sich immer weiter aus und sucht sich alle verfügbaren Nischen. Der Ökonom Gary Becker beschäftigt sich mit dem Forschungszweig der sogenannten »Family Economics«. Hier untersucht man, inwiefern sich auch unsere ganz privaten, familiären Beziehungen - also etwa die Frage, wer wen warum heiratet - durch ökonomische Prinzipien erklären lassen.

polar: Besonders auffällig ist, dass Sie Ihren Figuren jeweils verschiedene Sprachwelten zuordnen, die nach Sounds und Stilen anderer Gegenwartsautoren geformt sind, darunter Peter Handke, Rainald Goetz und Brigitte Kronauer. Man hat den Eindruck, auch die Sprache wird hier einem Markt ausgesetzt.

Händler: Ich ziehe ganz bewusst eine Parallele zwischen Sprache und Geld. Dass Geld ein Medium ist – im Luhmannschen Sinne –, ist keine Überraschung mehr, genauso wie die Sprache ein Medium ist. Ich möchte zeigen, dass auch die literarische Sprache ein Medium ist. Und ich glaube, das ist etwas Neues. Denn die Autoren und Leute, die überhaupt mit Literatur zu tun haben, mögen das nicht so gerne hören. Vor allem der Autor selbst möchte nicht, dass seine Sprache ein Medium ist, sondern seine Sprache soll der Grabstein sein, der möglichst witterungsfest ist. Ich möchte mit der sprachlichen Wandelbarkeit in meinem Buch demonstrieren, dass auch die literarische Sprache nur ein Medium ist und insofern viele Parallelen zum Geld aufweist. Eine ganz zentrale Gemeinsamkeit liegt in der hoch entwickelten Anpassungsfähigkeit, in der ungeheuren Flexibilität.

polar: »Wenn wir sterben« ist durchdrungen von einer großen Kälte und Depression. »Was ist der Mensch? Ein Haufen Fleisch, in Geld eingewickelt?« heißt es einmal. Eine düstere Gegenwartsdiagnose – teilen Sie die?

Händler: Ja, eigentlich schon. Ich habe dieses Bild gewählt, weil es hier doch noch Widersprüche gibt, die man überwinden muss. Gerade der Komplex »Fleisch, Körper und Gefühle« wird in unserer westlichen Form des Kapitalismus völlig verdrängt. Der Wettbewerb ist in großem Maße ein Wettbewerb zwischen den Menschen, und wir überlegen ständig: Wie stehe ich im Vergleich zum andern da, was kann ich besser, was kann ich schlechter? Es gibt ganz andere Entwicklungsrichtungen, zum Beispiel in der östlichen Philosophie. Dort kümmert man sich relativ wenig um die Außenwelt. Man hört viel mehr in den eigenen Körper hinein, fragt nach dem eigenen Ich und nach der Stellung im Universum. Diese Art zu Denken kommt in unserer Wirtschaftsgesellschaft nicht vor. Es gibt dann allerdings schon wieder bestimmte Reaktionsbildungen: Die hohe Bedeutung von Fitness gehört beispielsweise dazu oder das Thema Pornographie. Auf diese Weise kommt der Körper wieder ins System rein. Aber das Fleisch allein ist zunächst einmal etwas, das eigentlich dem ganzen Betrieb eher äußerlich und auch störend ist. Deswegen habe ich in dem Zitat diese harte Gegenüberstellung gemacht. Das klingt jetzt etwas zynisch – eigentlich bin ich überhaupt nicht zynisch: Aber ich habe die Gewissheit, dass der Kapitalismus mit dem Thema Fleisch auch noch fertig wird.

polar: Ganz unzynisch betrachtet ist das natürlich eine sehr deprimierende Diagnose. Gibt es irgendeine Hoffnung auf einen Wechsel, eine Veränderung?

Händler: Ich habe die Hoffnung schon, aber keinen Anhaltspunkt. Und ich muss auf der anderen Seite sagen: Mir fällt nichts besseres ein. Der Kommunismus war ja auch nur eine miese Form von Kapitalismus und zwar eine besonders miese, weil es keinen Wettbewerb gab. Ein Firmenboss kann seine Leute entlassen, und im Kommunismus konnte man die Leute auch noch gleich umbringen. Insofern ist der Kapitalismus schon ein gewisser Fortschritt. Ich sehe auch nicht, wo das ganz Andere sein sollte. Ich sehe es ganz bestimmt nicht in der Kirche, besonders wenn man sieht, wie diese sich gegenüber den wirklich Schutzwürdigen verhält. Ich wäre sehr dankbar, wenn mir jemand einen anderen Weg aufzeigen würde, aber ich sehe ihn nicht. Die kleine Hoffnung, die ich vielleicht habe, ist die Vorstellung, dass unsere jetzige Wirtschaftsgesellschaft letzten Endes dazu da ist, um die Natur, um die Materie zu zähmen. Das ganze Wirtschaften könnte dazu dienen, die rein materiellen Dinge eines Tages – möglicherweise mit Hilfe von Robotern – so unter Kontrolle zu haben, dass wir nicht mehr arbeiten müssen, um unsere Existenz zu sichern. Das ist die einzige Hoffnung, die ich habe. Sie betrifft uns beide aber bestimmt nicht mehr. 

Das Gespräch führte Anja Höfer



 
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Ein Freund von mir – Sehnsucht – Der Himmel über Berlin – Les Quatre Cents Coup – The Shop Around The Corner – Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug



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