polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
KURS
KAMPF
Christian von Soest »Bring mir mein Maschinengewehr« Die Einkehr der Ernüchterung in Südafrikas Demokratie
| Karl Wiezorek Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens Stagnation und Aufbruch in China
| Soe Tjen Marching Entstellter Sinn Höhen und Tiefen im indonesischen Demokratisierungsprozess
| Regina Kreide Motor und Bremse Demokratisierung in Zeiten der internationalen Verrechtlichung
| Christoph Raiser History Repeating Wie das System Berlusconi sich Italien einverleibt
| Roman Deckert/Anja Wollenberg Wählen gehen Erfahrungsberichte aus dem Sudan und dem Irak
| Interview Thomas Krüger »Zu Mittätern werden«
| Rudolf Speth Von Mensch zu Mensch Grassroots-Campaigning als Strategie im Bundestagswahlkampf
| Robin Celikates/Hilal Sezgin Die Freiheit der Barbaren Warum eine Demokratie Ausländern das allgemeine Wahlrecht gewähren muss
| Matthias Dell >Film< Katrins Hütte – Im Glanze dieses Glückes – Letztes Jahr Titanic – Kehraus – Material
| Julia Roth >Literatur< Münkler – Kowalczuk – Obama –Morrison
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Johannes von Weizsäcker>Musik<Health – Mika Miko – The Mai Shi | Ich mache jetzt hier mal Diktatur. Wer die falsche Popmusik hört, wird nachts abgeholt. In meiner Zentrale an einen Stuhl gefesselt, ergeht es ihm wie Terrorismusverdächtigen in der Fernsehserie 24, wenn sie Jack Bauer und seinen die Demokratie und Menschenrechte beschützenden Kollegen in die Hände fallen: Große Männer brüllen permanent auf ihn ein und injizieren ihm ein megafieses Nervenserum. Er beginnt zu stöhnen und zu schwitzen. Meine Männer brüllen weiter, er stöhnt und schwitzt. Höre gefälligst die richtige Musik, brüllen sie und injizieren immer weiter, bis der Gefesselte halb besinnungslos verspricht, fortan die richtige Musik zu hören.
Dann gibt es eine kurze Verschnaufpause; ich komme hinter dem Beobachtungsfenster hervor und erläutere voller wohlwollender Autorität, welche Musik zu hören, welche zu meiden sei. Ich erkläre, dass ja in so genannten Demokratien auch niemand bei der Privatbeschallungsauswahl je frei gewesen sei, weder im Internet-Zeitalter, noch davor. Alle Hits sind und waren schon immer gekauft. Alle so genannten Underground-Szenen dagegen bilden in ihrem Abgrenzungswahn zu einem angeblichen Mainstream Regelsysteme allerhöchster Rigidität. Sie entwickeln dabei Gehirnwäsche-Methoden, deren Anwendung sich ihr Publikum in der Annahme, hier folge man einer Art systemkritischen Kurs, in der Regel wissend unterzieht. Undergroundmusikszenen (und hier entwickelt mein Vortrag etwas mehr emotionale Vehemenz als geplant) sind also noch schlimmer als der so genannte Mainstream. Szenen, in denen Grassroots-Partizipation großgeschrieben steht (in denen also irgendwelche Menschen mit Haarschnitten in handkopierten Kritzelpamphleten oder noch schlimmer, auf Myspace oder Facebook, ohne Lektorat oder Zensur musikalisches Unwissen verbreiten) sind der Tod alles Kreativen. Dies ist die zentrale Erkenntnis, aus der meine Diktatur der reinen Ästhetik in der Popmusik resultiert.
Der Gefesselte guckt nun verwirrt, da meine These natürlich sehr lückenhaft ist. Aber mir kann das ja schnuppe sein, das ist ja das Schöne an der Diktatur. Gerne würde ich weiter dozieren. Bevor ich allerdings allzu emotional werde, breche ich den Vortrag ab, lasse den Gefesselten losbinden und nach Hause schicken. Im Vorzimmer bekommt er noch das Startpaket »Richtig Popmusik hören mit Johannes« auf den Heimweg mitgegeben. Auf der Broschüre ist ein Bild von mir in Aktion bei einem Projekt mit Jugendlichen.
Soviel zu Demokratie. Im letzten halben Jahr habe ich mir alle Staffeln von 24 angesehen. Auch war ich in Austin, Texas, beim South by South West-Festival, dessen Ausmaß das der Popkomm um ein Vielfaches übersteigt. In Downtown Austin kämpft man sich durch Abertausende von Menschen, die aussehen, als spielten sie in Bands, während jedes Lokal und jede Pommesbude auf jeder Straße mit Live-Musik beschallt wird. Unter den ungefähr 3.000 Bands, von denen ich etwa 30 gesehen habe, stachen dann aber doch diejenigen der momentan ja eh ausgiebig dokumentierten L.A.-Szene heraus, zum Beispiel Health. Die Musik dieser aus brüllenden großen Männern bestehenden Gruppe klingt wie ein megafieses Folterinstrument, liefert aber den Jammergesang des Gefolterten gleich mit. In einer Pommesbude direkt nebenan spielten die großartigen Mika Miko, eine Frauenpunkgruppe mit einem Schlagzeuger. Sie sahen aus wie Sekretärinnen auf einem Firmenretreat, sangen durch einen Telefonhörer und tanzten wie meine Schwester vor zwanzig Jahren in ihrer Laura Brannigan-Phase. Schön, dass es auch 2009 noch möglich ist, generischen Punkrock mit Charme aufzuführen. The Mae Shi schafften es, über das Wochenende 15 Konzerte zu spielen, deren eines ich sah und auch ganz lustig fand. Sie machen so Popmusik mit viel ekstatischem Geschrei und rollten eine große Flagge aus, wie im Fußballstadion.
Die beschriebenen Bands entstammen alle der Szene um den Club SMELL, einer Art Projekt mit Jugendlichen, das durch Grassroots-Partizipation und Fanzine-Gekritzel am Leben gehalten wird. Allerdings geht ihrer Szene das Dogmatische, Stilbindende angenehm ab. Trotzdem: Da sieht man mal, warum ich es noch nicht zum Diktator gebracht habe.
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KONVENT
SCHÖNHEITEN
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