polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
KURS
KAMPF
Christian von Soest »Bring mir mein Maschinengewehr« Die Einkehr der Ernüchterung in Südafrikas Demokratie
| Karl Wiezorek Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens Stagnation und Aufbruch in China
| Soe Tjen Marching Entstellter Sinn Höhen und Tiefen im indonesischen Demokratisierungsprozess
| Regina Kreide Motor und Bremse Demokratisierung in Zeiten der internationalen Verrechtlichung
| Christoph Raiser History Repeating Wie das System Berlusconi sich Italien einverleibt
| Roman Deckert/Anja Wollenberg Wählen gehen Erfahrungsberichte aus dem Sudan und dem Irak
| Interview Thomas Krüger »Zu Mittätern werden«
| Rudolf Speth Von Mensch zu Mensch Grassroots-Campaigning als Strategie im Bundestagswahlkampf
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Robin Celikates/Hilal SezginDie Freiheit der BarbarenWarum eine Demokratie Ausländern das allgemeine Wahlrecht gewähren muss | Ein Hörsaal an der Uni, eine Veranstaltung in der Stadtbibliothek, eine Diskussionsrunde im Familienzentrum. Es geht um deutsche Außenpolitik und neue Weltordnung, um jugendliche Bildungsdefizite oder darum, dass die Stadt die Gelder für soziale Einrichtungen kürzt. »Und darum dürfen Sie Ihre Stimme nicht verschenken«, wird der Referent früher oder später sagen. »Gehen Sie wählen!« In jedem Wahljahr sind solche Appelle zu hören, und auch in diesem »Superwahljahr« werden Politiker und Engagierte ihre Mitmenschen noch mit ermüdender Häufigkeit zur Wahlurne rufen. Ungewöhnlich wäre es nur, wenn einer der Angerufenen aufstünde und unpassender, aber auch ehrlicher Weise ausspräche, was vermutlich viele Anwesende denken: »Ich würde ja gerne – darf aber nicht.«
Immerhin fünf Millionen nicht wahlberechtigte so genannte Ausländer stehen den 62,2 Millionen Wahlberechtigten bei der nächsten Bundestagswahl gegenüber. Und dabei wurden nur diejenigen (erwachsenen) Ausländer berücksichtigt, die schon seit mindestens vier Jahren in Deutschland leben; nur zum Teil in dieser Zahl enthalten sind die etwa 50.000 erwachsenen Asylberechtigten und 55.000 Personen mit Flüchtlingsschutz. Alle drei sind keine Bürger in dem Sinne, dass sie dem »deutschen Volk« angehören, weder per Abstammung noch durch Geburtsort, Einbürgerung oder Erklärung. Und doch gehören sie zur Bevölkerung, sie leben und arbeiten in diesem Land, sind Träger zumindest der Menschenrechte, und auch für sie gilt der berühmte Satz, mit dem Jean-Jacques Rousseau einst seinen Gesellschaftsvertrag begann, dass der Mensch nämlich frei geboren sei.
Es lohnt sich, kurz auf Rousseau zurückzugreifen, weil er als Einflussreichster seiner Zeit diejenige Idee des politischen Zusammenschlusses von Menschen zu einer demokratischen Republik formulierte, an die sich die gesamte politische Theorie der Aufklärung anschließt und die bis heute den Kern jeder normativen Demokratietheorie bildet: Der Mensch ist frei und berechtigt, über sich selbst zu bestimmen; doch Gesetze und staatliche Herrschaft schränken diese Freiheit offenbar ein. Wir müssen uns an die herrschenden Gesetze halten; wenn wir es nicht tun, werden wir bestraft. Wie kann man also staatliche Herrschaft, Gesetze, Politik begründen und legitimieren, ohne dass sie das Selbstbestimmungsrecht des Menschen begrenzen? Rousseaus bis heute wegweisende Lösung lautet: Politische Herrschaft beschneidet unsere Freiheit nur dann nicht, wenn wir sie selbst ausüben. Der Gedanke der res publica als res populi – des Gemeinwesens als Angelegenheit des Volkes – war wiedergeboren.
Bereits Rousseau hat natürlich gesehen, dass es, gerade wenn die Bevölkerung sehr heterogen ist, zu nicht unwesentlichen Unstimmigkeiten kommen kann. Auch die Gesetze innerhalb einer Demokratie mögen uns nicht immer im Einzelnen behagen; manchmal können Entscheidungen etwa über Krieg und Frieden sogar unserem Gewissen zuwiderlaufen. Doch anders als in einer Diktatur sind die Bürger einer Demokratie an dem Verfahren beteiligt, das diese Entscheidungen hervorbringt, und daher ist demokratische Herrschaft, anders als die einer Diktatur, legitim – zumal sie Raum dafür lässt, die Legitimität der gefällten Entscheidungen nicht nur diskursiv, sondern auch praktisch zu bezweifeln, bis hin zum zivilen Ungehorsam. Können sich die Adressaten der Gesetze nicht zugleich als deren Autoren verstehen, so wird dieser Rousseausche Gedanke später von Jürgen Habermas ausgeführt, sind sie politisch fremdbestimmt und also unfrei; und der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser zufolge, müssen alle einer Regierungsstruktur Unterworfenen – ob sie nun formell Mitglieder des Gemeinwesens sind oder nicht – »zählen«, und das heißt: ein politisches Mitspracherecht haben.
Demokratie oder Fremdherrschaft
Neben diesen prozeduralen Anforderungen an demokratische Legitimität gibt es weitere substantielle und formale Merkmale heutiger Demokratien – das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beispielsweise oder ein wie auch immer ausgestalteter Solidaritätsgedanke; und es gibt weitere Argumente, die für die Befragung und Entscheidung der Bevölkerung und gegen eine Oligarchie oder auch Expertokratie nach Art von Platons Staat sprechen. Natürlich ermisst sich der Erfolg politischer Verfahren auch an der Qualität der Ergebnisse – eine einseitige Fixierung auf dieses Kriterium setzt aber voraus, dass sich soziale Interessenlagen und gemeinwohlorientierte Problemlösungen unabhängig von der Partizipation der Betroffenen objektiv bestimmen lassen. Das Bestimmen von Interessen – vom Gemeinwohl ganz zu schweigen – ist aber selbst eine politisch höchst umstrittene Angelegenheit, und hierfür kann es zumal in einer Demokratie keine andere Instanz geben als die Betroffenen selbst. Dass damit auch die Qualität, Akzeptanz und Umsetzbarkeit der Politikergebnisse erhöht wird, ist eine erfreuliche Nebenfolge. Die prozeduralistische Grundintuition ist jedoch primär: Freiheit bleibt allein gewahrt durch Selbstgesetzgebung, individuelle allein durch kollektive Autonomie.
Aus dieser Perspektive erscheinen die fünf Millionen Menschen, die in Deutschland von der Teilhabe an der Gesetzgebung ausgeschlossen, ihr aber gleichwohl unterworfen sind, als keine vernachlässigenswerte Größe. Man braucht sie nur mit der Zahl der Wahlberechtigten zur Bundestagswahl zu verrechnen: Acht Prozent der hier dauerhaft ansässigen erwachsenen Bevölkerung dürfen nicht wählen! Bei den Wahlen zum Europaparlament waren es 6,5 Prozent. Konsultieren wir die demokratietheoretische Tradition, bedeutet dies in einer milden Auslegung, dass diese fünf Millionen Menschen zum Befolgen hiesiger Gesetze nicht aus normativen Gründen, sondern nur aus praktischen Gründen verpflichtet sind, etwa um Gefängnisstrafen zu vermeiden oder einer Ausweisung zu entgehen. Sie sind von den gesetzgebenden Verfahren ausgeschlossen, haben den für sie geltenden Gesetzen nie zugestimmt und können die von der Mehrheitsgesellschaft als rundum gelungen gefeierte Demokratie deshalb eigentlich nur als – freilich rechtsstaatlich gezähmte – Fremdherrschaft erfahren. Diese Menschen sind den Gesetzen Unterworfene statt Freie oder Selbstbestimmte.
Und das ist noch die milde Lesart. In einer härteren Lesart müsste es heißen: Weil dieser Staat, in dem wir leben, einen signifikanten Teil seiner Bevölkerung seiner Herrschaft bloß unterwirft, statt ihn teilhaben zu lassen, ist im Grund der Staat selbst zur Herrschaftsausübung nicht befugt. Er darf sich nicht mit vollem Recht »Demokratie« nennen und behaupten, er sei legitimiert, weil in ihm das Volk regiere. Auch der Bürgerstatus der Vollmitglieder des Gemeinwesens wird durch die staatlich sanktionierte Exklusion beschädigt. Heute belächeln wir die griechischen Stadtstaaten, in denen Frauen, Sklaven und »Barbaren« nicht abstimmen durften und die sich trotzdem Demokratien nannten. Doch der Ausschluss der »Barbaren« setzt sich bis heute fort.
Alle Staatsgewalt geht von der Bevölkerung aus
Nun mag man einwenden, das Rousseausche Kriterium der Autonomie finde hier keine Anwendung. Hier lebende Ausländer sind nicht Unterworfene, weil sie freiwillig hier sind; salopp gesagt: Es kann ja jeder wieder gehen, dem es nicht passt. Doch dieser Einwand – von der Zumutbarkeit der vermeintlichen Alternative einmal abgesehen – gilt nicht nur für Ausländer, sondern auch für Staatsangehörige, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik leben. Auch »wir Deutschen« können anderswo hingehen, wo uns die Gesetze besser gefallen; wäre Deutschland keine Demokratie, hätten wir aber Zutritt zu freiheitlicheren Nachbarländern, wäre es demnach nicht ungerecht, wenn wir die eigene Regierung nicht wählen dürften… Der Einwand der Wahlfreiheit des Wohnsitzes läuft normativ offensichtlich ins Leere.
Es gibt jedoch ein weiteres Argument, das auf den ersten Blick zwingend wirkt: die Verknüpfung des Wahlrechts mit der Staatsangehörigkeit. In Wahrheit trägt es genauso wenig. Das Grundgesetz formuliert noch etwas unbeholfen altertümelnd: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Konservativ assoziiert man hier gerne, es heiße »vom deutschen Volke«; so steht es allerdings nicht da. Das Wort »Volk« jedenfalls ist, fast so sehr wie der hier verwendete Dativ, aus der Mode gekommen; einst war diese Formulierung, genau wie der republikanisch gesonnene Nationalismus früherer Jahrhunderte, progressiv gemeint. Wenn es hieß, das Volk habe zu bestimmen, sollte der Begriff der Herrschaft geöffnet werden für den wahren Souverän, also die Menschen, die unter den Gesetzen zu leben haben. Beschränkend wirkt die Idee des Volkes erst, wenn man damit eine bestimmte Abstammung oder Staatszugehörigkeit gegen den Begriff der »Bevölkerung « – der faktisch der staatlichen Herrschaft Unterworfenen – auszuspielen sucht.
Wie die politische Philosophin Seyla Benhabib in wichtigen Beiträgen zum Kosmopolitismus gezeigt hat, funktioniert die Verknüpfung der Konzepte von Nation, politischer Gemeinschaft, Staatsbürgerschaft und Bürgerrechten allerdings längst nicht mehr so einfach. Es gibt befristete und unbefristete Aufenthaltstitel; man kann Bürger der EU und gleichzeitig Bürger eines einzelnen Landes sein; auf kommunaler Ebene dürfen EU-Bürger anderer Länder schon mitwählen (die restlichen Ausländer dürfen sich nun doppelt ausgeschlossen fühlen), und auch das allgemeine Wahlrecht muss – Island geht voran – nicht an die Staatsbürgerschaft gekoppelt sein. Es sind die Lebensbedingungen moderner Einwanderungsgesellschaften, die das überkommene Modell, dass Staatsangehörigkeit, Loyalität und politische und soziale Rechte »in einem Paket« kommen müssten, an seine Grenzen gebracht haben und nach und nach als Fiktion entlarven. Was für viele aus ökonomischem Zwang, für einige auch aus freier Wahl zur Normalität geworden ist – dass sie ihr Leben in unterschiedlichen Ländern leben –, wird oft noch immer mit politischer Ausgrenzung bestraft.
Gegen die Demokratievergessenheit
Vor diesem Hintergrund wirkt es besonders absurd, wie sehr sich große Teile der deutschen Politik bis heute dem Gedanken regulärer doppelter Staatsbürgerschaften verweigern. Unter anderem Bürgern der EU, der Schweiz und Besitzern einer US-amerikanischen Greencard ist sie erlaubt, und dank diverser Staatsverträge und Abkommen für den Kriegsfall etc. hat sich nirgends das Schreckgespenst der Identitätsspaltung und des permanenten Loyalitätskonflikts bewahrheitet, das die Vertreter der deutschen Leitkultur so gerne an die Wand malen. Natürlich darf ein Gemeinwesen regeln, unter welchen Bedingungen jemand als vollwertiges Mitglied aufgenommen wird und wann und wie lange jemand im Land bleiben darf. Umgekehrt will ja auch nicht jeder, der für ein paar Jahre in einem Land studiert und arbeitet, dauerhaft dazugehören. Allerdings unterliegen auch diese Regeln basalen Anforderungen der Gerechtigkeit und der Demokratie.
Noch wichtiger ist jedoch, dass es sich mit dem Recht auf Selbstbestimmung eben anders verhält. Beide Fragen – die nach der doppelten Staatsbürgerschaft und die nach dem Wahlrecht – sind nicht identisch und erfordern unterschiedliche Antworten. Ganz unabhängig davon, dass viele Gründe für multiple Staatsbürgerschaften sprechen, sprechen mindestens ebenso viele, und sogar grundsätzlichere Überlegungen dafür, jedem hier Lebenden die vollen politischen Rechte zu gewähren, wenn man es mit der Demokratie denn ernst meint. Das Recht mitzubestimmen kommt mit dem Recht zu bleiben. Ab welchem Zeitraum man von einem längerfristigen Aufenthalt zu sprechen gewillt ist, wird dabei variieren. Unabhängig von der Bleibedauer müssten aber auch Asylberechtigte volle politische Rechte ab dem Zeitpunkt ihrer Anerkennung besitzen. Indem ihr Gesuch anerkannt wird, wird ihnen bestätigt, dass sie nicht in ihre Heimat zurück können. Wir bieten ihnen eine vorübergehende Ersatzheimat an. Diese Menschen können – anders als Staatsangehörige und Migranten – nirgendwo sonst hingehen. Anerkannte Flüchtlinge können tatsächlich nur hier leben – und wieso sollten sie dies als Unterworfene tun? Auch für sie muss gelten, dass, wer frei geboren ist, nicht in Ketten zu leben gezwungen werden darf.
Die Forderung eines Wahlrechts für anerkannte Asylbewerber wird für viele befremdlich klingen – noch befremdlicher als die nach dem vollen Wahlrecht für dauerhaft hier lebende Ausländer. In einer Art Demokratievergessenheit scheinen wir uns angewöhnt zu haben, das Wahlrecht als ein Privileg anzusehen, das der Staatsbürger oder die Staatsbürgerin besitzt und das – gewissermaßen als Gratifikation – auch bewährten und geprüften Einbürgerungswilligen zugestanden wird. Doch das Wahlrecht, abgeleitet aus dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen, ist weder Privileg noch Gratifikation. Es ist eine Minimalbedingung der Demokratie und das Grundrecht eines jeden, der auf dem Gebiet eines nichtautoritären Staates lebt. Und allein der ungehinderte Zugang der gesamten Bevölkerung zu diesem Grundrecht erlaubt dem Staat, sich eine Demokratie, und seinen Bürgern, sich frei zu nennen. |
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