polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
KURS
Peter SillerOhne Input kein OutputEine Inspektion unserer Demokratie | Ein Slogan wie »Mehr Demokratie wagen« ist in dieser Durchschlagskraft momentan nicht vorstellbar. Doch darüber, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, scheiden sich die Geister. Unterliegt unsere Demokratie einem schleichenden Verfall, leben wir gar bereits in einer »Postdemokratie«, wie manche unterstellen?
Viele Ursachen. Welche Wirkung?
Weitgehende Einigkeit besteht in der Liste der problematisierten Faktoren, die auf die Verfasstheit moderner Demokratien Einfluss nehmen, und die Liste ist lang. Angeführt wird dabei insbesondere das Folgende: eine globalisierungsgetriebene Zerfaserung von Staatlichkeit und klassischer demokratischer Verantwortlichkeiten; der damit einhergehende Zuwachs an wirtschaftlichen Einflüssen auf die politischen Systeme; insbesondere eine Vermischung von privatwirtschaftlichen und staatlichen Handlungsformen; ein Verlust an weltanschaulicher Bündelung in einer »postideologischen Situation«; eine sinkende Bindekraft von Parteien; eine wachsende Komplexität gesellschaftlicher Prozesse einhergehend mit einer »Steuerungsüberforderung« der Demokratie; damit verbunden ein Zuwachs an Expertokratie und eine Gewichtsverlagerung zu Gunsten von Exekutive und Judikative; ein Rückgang an Medienvielfalt und Medienqualität; sowie ein sinkendes Interesse an demokratischen Prozessen, das schlichtweg auf Gewöhnung und Abnutzung basiere. Genannt werden aber auch: ein gestiegener durchschnittlicher Bildungsgrad in den letzten Jahrzehnten; gesellschaftliche Individualisierung und Pluralisierung; ein deutlicher Bedeutungsgewinn digitaler Medien; eine Verschiebung der Wählergruppen durch den demographischen Wandel; die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in die Kommunalverfassungen und eine verstärkte Anwendung derselben; eine wesentlich höhere Wählermobilität; ein Kompetenzzuwachs der Europäischen Union, auch verbunden mit einer Stärkung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments; überhaupt eine gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit für globale Fragen und zumindest ein stärkerer Fokus auf zwischen- und überstaatliche Institutionen.
Bilanziert man die Effekte der einzelnen Faktoren, so bestehen erhebliche Zweifel, ob in das nostalgische Lamento des Niedergangs der Demokratie einzustimmen ist. Statt eines Verfalls scheint es sich eher um eine Transformation mit starken Ambivalenzen zu handeln, mit Demokratiegefährdungen, aber auch mit Stärkungen an anderer Stelle und neuen Potenzialen. Das ist wichtig, um das Erkämpfte bewusst und die Möglichkeit demokratischen Fortschritts wach zu halten. Eine solche Einordnung ist aber auch wichtig, um die historischen Relationen im Auge zu behalten. Wann war dieses Damals, als die Demokratie noch in Ordnung war? Das in der Erinnerung idealisierte Früher zerrinnt immer mehr, je näher man es heranholt.
Im Folgenden geht es weniger darum, einzelne dieser Faktoren weiter auszuführen. Stattdessen erfolgen einige quer liegende, systematische Überlegungen, die helfen können, das Knäuel etwas zu entwirren.
Verfahren und Ergebnis
Ein tiefgreifender Faktor liegt in der zunehmend einseitigen Fokussierung auf den »Output« von Entscheidungen, in der Fixierung auf die Effizienz von Steuerungsinstrumenten. Es ist sicher auch keine neue Beobachtung, dass zahlreiche Menschen in Alltagsfragen dazu neigen, Entscheidungen am Ergebnis zu messen, und weniger daran, wie sie zustande kommen. Was wir jedoch heute erleben, ist eine deutlich tiefer liegende Veränderung des Verständnisses davon, woran sich die Legitimation einer politischen Entscheidung bemisst. Der – für die Demokratie – fundamentale Ansatz der Legitimation durch Beteiligung, also der »Input-Legitimation« wird vielfach abgelöst durch eine Vorstellung von »Output-Legitimation«.
Die so genannten Governance-Ansätze in der politischen Theorie stellen dem ein Theoriegerüst und ein Begriffsarsenal zur Seite und stabilisieren so die Perspektive. Ursprünglich als »Global Governance« für den unterdemokratisierten globalen Raum entwickelt, wurde die Governance-Philosophie in den neunziger Jahren zunehmend zur Blaupause für das Selbstverständnis und die Begrifflichkeiten nationaler Politiken. In diesem Feedback auf nationaler Ebene ist Governance die Fachvokabel, Agenda 2010 und Hartz IV der öffentliche Sound. Die Sprache des Managements und der Effizienz hat sich mittlerweile tief in das Verständnis des Politischen selbst eingeschrieben, der fundamentale Anspruch demokratischer Legitimation hat dadurch kaum bemerkt an Kraft verloren.
Ohne Demokratie im Sinne gleicher Beteiligungsmöglichkeiten ist nicht nur die Vorstellung gleicher, reziproker Anerkennung als Freie in einer wichtigen Dimension elementar verletzt. Ohne Demokratie ist weder ein gerechter Interessensausgleich möglich, noch werden jene Voraussetzungen gesellschaftlichen Fortschritts genutzt, die im Wettstreit um das bessere Argument, die bessere Rechtsfertigung liegen. Woran will eine Politik der »Good Governance« erkennen können, ob ein Ergebnis gut ist, wenn sie das Ziel einfach voraussetzt, anstatt es selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen? Und was ist Effi¬zienz wert, ohne vorher gemeinsam zu klären, wohin die Reise gehen soll? Ohne Input kein Output.
Demokratie ist Menschenrecht
Im inter- und supranationalen Raum liegt eine Schlüsselfrage in der Verhältnisbestimmung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Welche institutionellen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der Menschenrechte notwendig sind und welche Rolle demokratische Strukturen dabei spielen, ist nach wie vor umstritten. Auf praktischer Ebene gibt es ohne Zweifel in vielen Fällen starke Gründe gegen den Versuch einer externen, möglicherweise sogar gewaltsamen Durchsetzung demokratischer Mindeststandards. Innergesellschaftliche Kräfte der Demokratie werden so vielfach eher geschwächt als gestärkt. Umgekehrt sollte jedoch auf normativer Ebene kein Zweifel bestehen, dass es keinen vollständigen Begriff der Menschenrechte geben kann, ohne das elementare Recht der demokratischen Beteiligung einzubeziehen. Es gibt zwar keine »one size fits all«-Lösung, da es »die« Demokratie nicht gibt. Den konkreten Bauplan einer demokratischen Regierungsform muss jede Gesellschaft selbst – und immer wieder neu – aushandeln. Menschenrechte sind aber nicht Voraussetzungen für Demokratie, sondern Demokratie ist Menschenrecht. Es ist eine tiefgreifende Verletzung des Grundsatzes gleicher Anerkennung, einer Person die Möglichkeit zur Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess zu verweigern. Deshalb wäre es ein schwerer Fehler, bereits auf normativer Ebene einen universellen Kern der Demokratie in Frage zu stellen oder gar als »neocon« zu brandmarken. Es ist schlimm genug, dass die Neocons zur Rechtfertigung der Irak-Intervention das Demokratieargument für andere Zwecke benutzt haben, mit den bekannten fatalen Folgen.
Wer entscheidet was?
Ein globalisierungsbedingter Steuerungsverlust nationalstaatlicher Demokratien ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb liegt ein entscheidender Beitrag nationalstaatlicher Demokratien zur Verteidigung und Stärkung von Demokratie darin, zur Herausbildung inter- und supranationaler Ebenen beizutragen, in denen Elemente einer neuen, handlungsfähigen Demokratie begründet werden – und insofern leer gewordene nationalstaatliche Souveränität abzutreten.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben nach wie vor starke Handlungsspielräume für die nationalen Demokratien bestehen. Wir wissen nicht erst seit den Studien von Gøsta Esping-Andersen und anderen, dass es beispielsweise sehr unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Antworten darauf gibt, mit der ökonomischen Globalisierung umzugehen. Das nicht in allen Punkten unproblematische »Skandinavische Modell« beispielsweise hat vorgeführt, dass sich auf nationaler Ebene eine qualitative öffentliche Infrastruktur mit qualitativer Arbeit und Steuergerechtigkeit verbinden lässt. Zwar ist auch diese Antwort keineswegs unabhängig von der europäischen und globalen Ökonomie – aber sie bleibt eine Antwort von mehreren möglichen. Es ist eine lähmende Übertreibung, dass der Globalisierungsprozess die nationalen Demokratien »entmachtet« habe. Demokratischen Fortschritt kann es nur geben, wenn wir die Möglichkeiten zur Veränderung sehen – in Europa, aber auch in der Bundesrepublik.
Expertise in der Krise
Ein weiterer Einwand gegen demokratische Verfahren besteht in der Annahme einer zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Sachverhalte und einer damit einhergehenden Überforderung der Demokratie bei der Problemlösung. Die Welt zu kompliziert, zu schwierig für die Demokratie? Einfach war die Welt nie, auch nicht, als die ersten Demokratien das Licht der Welt erblickten. Vor allem aber fragt man sich verwundert, wo die Komplexitätsdiagnostiker ihren Glauben an die Experten hernehmen. Die berechtigte Kritik an expertokratischen Politikvorstellungen ist nicht neu. Sie wurde beispielsweise bereits in den siebziger Jahren in der Auseinandersetzung um die Atomkraft und den damit verbundenen expertokratischen Allmachtsphantasien vorgetragen. Gleichwohl lässt sich eine bedenkliche Tendenz zu zunehmender Expertokratisierung feststellen. Die Schröder-Jahre waren geprägt durch Experten-Kommissionen aller Art. Zum Trend der Expertokratisierung gehört aber vor allem die wachsende Auslagerung legislativer Entscheidungsbefugnisse an die Exekutive oder Judikative, wo man den entsprechenden Sachverstand vermutet.
All das könnte jedoch nur das Vorspiel für einen größeren expertokratischen Schub sein, der mit einem wachsenden Krisenbewusstsein einhergehen könnte. Hier ist es neben dem Sachverstand der Zeitfaktor, der demokratische Verfahren enorm unter Druck setzt. Bereits in der dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise seit Herbst 2008 wurde spürbar, wie die Legislative bei weitreichenden Entscheidungen in eine Statistenrolle gedrängt wurde – und sich hat drängen lassen. Gigantische Ausgaben wurden unter dem Druck der Krise über Nacht zusammengeschustert und ohne großartige parlamentarische Debatte oder auch nur Prüfung beschlossen. Verwaltet werden sie im Fall des Finanzmarktstabilisierungsfonds ohne parlamentarische Beteiligung und ohne Öffentlichkeit.
Egal, wann sich die Weltwirtschaft wieder fängt: Die Psychologie der Krise wird uns mit dem Klimawandel auf jeden Fall erhalten bleiben. Die Gefahr, dass mit Zuspitzung der Klimakrise der autoritäre Ruf nach expertokratischer Lenkung immer lauter wird, ist immens. Eine solche Entwicklung wäre eine Katastrophe für die Demokratie und damit ein Angriff auf die politische Freiheit aller. Der Ruf nach mehr Demokratie darf deshalb die Klimakrise nicht ignorieren, sondern muss sie zum Thema machen. Es geht darum zweierlei zu zeigen: Dass der Kampf gegen den Klimawandel als ein Kampf für Freiheit und Selbstverwirklichung aller zu verstehen ist, und damit auch als ein Kampf für unsere politische Freiheit von morgen. Und dass eine Lösung der Klimakrise nur demokratisch zu bewerkstelligen ist – wie sonst kann man der Willkür der Lenker und Experten begegnen, wie sonst können sich die Betroffenen der Veränderung überzeugen lassen, und wie sonst lässt sich ein produktiver Wettbewerb der besten Ideen und Ansätze herstellen.
Orientierung und Einmischung
Bei der Besichtigung unserer Demokratie kann der aktuelle Mangel an erkennbaren Grundsätzen und Orientierungen, die zur Wahl stehen, nicht ignoriert werden. Die parteipolitische Kultur in Deutschland geht seit geraumer Zeit ganz und gar in der Praxis auf. Der ganze Stolz der jungen Politiker-Generation ist nach wie vor ihr »Pragmatismus«, der undogmatische, unbefangene Problemlöser das herrschende Leitbild. Dass eine öffentliche Debatte so nicht in Gang kommt, ist nicht weiter verwunderlich. Wer den Bürgerinnen und Bürgern nicht erklären kann, wohin die Reise gehen soll, wird keine Weggefährtinnen und Gefährten finden.
Ohne den Antrieb politischer Ideen und Grundsätze kann es keine lebendige Demokratie geben. Dabei kommt den Parteien in ihrer Funktion als Transforma¬tionsriemen zwischen Gesellschaft und Institutionen – und damit auch zwischen Partikularität und Universalität – eine neue Aktualität zu.
Gefragt ist aber auch die Einmischung der Intellektuellen. Die Habermas-Festspiele dieses Jahres können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politisch-öffentlichen Interventionen von seiten der jüngeren Akademiker-Generationen rar sind. Deutschland hat viele Experten, aber wenig Intellektuelle. Die Gründe dafür liegen tief: im tradierten Selbstverständnis des universitären Betriebs, in den aktuellen Karriereanforderungen, auch in den Kapriolen des gegenwärtigen Theorie-Zeitgeistes. Hinzu kommt sicher auch hier das andauernde Gefühl einer neuen Unübersichtlichkeit, das verunsichert und zur Zurückhaltung mahnt. Die Welt: zu komplex für öffentliche Empathie? Bei allen nachvollziehbaren Irrungen und Wirrungen fragt man sich auch hier, bis wohin die Komplexitätsthese trägt, und ab wo sie zur Ausrede wird. Ob soziale Frage, Wirtschaftskrise oder Klimawandel, die massiven Probleme liegen offen vor uns und warten darauf, aufgegriffen zu werden. Es sage keiner, es gebe keine grundlegenden Alternativen in den Grundannahmen, Begrifflichkeiten und Lösungsstrategien, es gebe keine Alternativen hinsichtlich der Rolle von öffentlichen Institutionen und öffentlichen Gütern, hinsichtlich der Rolle von Menschenrechten und Demokratie, hinsichtlich der ökonomischen Paradigmen. Es mag seit einiger Zeit die große Bewegungsemphase fehlen, auf der man surfen kann. Etwas kleiner täte es auch.
Gesucht ist nicht der Experte als Entscheider und Lenker. Gefragt ist auch nicht die intellektuelle Autorität auf dem Sockel. Angewiesen sind wir auf diejenigen, die sich etwas überlegt haben und dies als Bürgerinnen und Bürger unter Gleichen weitergeben. Als Stein des Anstoßes für die Demokratie. Was Letztere damit anfängt, liegt dann ganz bei ihr.
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