polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
Peter Siller, Bertram KellerEditorial | Liebe Leserin, Lieber Leser,
um die Demokratie ist es hierzulande ruhig geworden. Zu ruhig. polar fragt: Wie steht es um die Zukunft unserer Demokratie? Unter Bedingungen zerfasernder Staatlichkeit verändern sich die Orte politischer Entscheidung ebenso wie deren Spielregeln. Die Rolle der Medien hat sich verändert, das Fünf-Parteien-System gehört der Vergangenheit an, Experten und Kommissionen definieren, was dem Gemeinwohl vermeintlich förderlich ist. Gleichzeitig entstehen neue Orte, neue Formen und neue Öffentlichkeiten. Wie also ist die Entwicklung aus demokratischer Sicht zu bewerten? Wie sieht unser Bild von der Demokratie überhaupt aus? Wo liegen Chancen und Potenziale, wo Risiken und Gefährdungen? Alle rufen nach mehr Effizienz, mehr Kompetenz, mehr Qualität. Aber ohne Engagement, Mitsprache und Repräsentation kann es keine guten Ergebnisse, keine Freiheit und keine Gerechtigkeit geben. Ohne Input kein Output.
Wenn wir von Demokratie sprechen, müssen wir fragen, welche Vorstellung wir ihr zu Grunde legen. Peter Siller skizziert in seinem Eingangsbeitrag die aktuelle demokratietheoretische Gefechtslage und versucht die Frage zu beantworten, wie demokratischer Fortschritt möglich ist (S. 9). Christoph Möllers warnt vor einer Überfrachtung der Demokratie mit falschen Erwartungen (S. 15) und Etienne Balibar bezieht sich auf das Spannungsverhältnis von Demokratie und Bürgerschaft (S. 21). Im großen polar-Interview formulieren Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Stefan Gosepath und Christoph Menke Standpunkte zur Demokratie in der »Neuesten Frankfurter Schule« (S. 26). Hubertus Buchstein erinnert an die demokratische Tradition der Lotterie (S. 41), und auch Bonnie Honig zeigt am Beispiel des Films Slumdog Millionaire, wie ein Zufall demokratische Veränderung erzeugt (S. 161).
Wenn wir über Demokratie sprechen, empfiehlt es sich, genau hinzuschauen. Demokratie findet sich nicht nur im Großen und Ganzen, sondern an vielen konkreten Orten. Axel Bruns legt im Interview dar, warum die Beteiligungslust im Web 2.0 auch der Politik zugute kommt (S. 46). Carsten Herzberg, Anja Röcke und Yves Sintomer plädieren für eine Stärkung der lokalen Demokratie über so genannte Bürgerhaushalte (S. 55). Im Interview plädiert der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, für mehr Empathie und eine medienkritische Haltung der Bürger (S. 108). Wie die Parteien mit Grassroots-Techniken ein altes Verfahren der Mobilisierung mit digitalen Kommunikationstechnologien verbinden, zeigt Rudolph Speth in seinem Praxisbericht (S. 115). Robin Celikates und Hilal Sezgin argumentieren, warum eine Demokratie, die diesen Namen verdient, Ausländern das allgemeine Wahlrecht gewähren sollte (S. 121). Und Stephan Ertner beschreibt die Schule als einen zentralen Ort der Demokratieförderung (S. 167).
Wenn unsere Demokratie einzuschlafen droht, hilft ein Blick auf andere Orte der Welt. Der Einsatz für Demokratie findet in vielen Ländern und Regionen nach wie vor unter Lebensgefahr statt. Karl Wiezorek beschreibt zwanzig Jahre nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens Stagnation und Aufbruch in China (S. 78). Christian von Soest berichtet fünfzehn Jahre nach dem Ende der Apartheid vom Stand der Demokratieentwicklung in Südafrika (S. 73). Von den Höhen, vor allem aber den Tiefen des indonesischen Demokratie-Modells erzählt Soe Tjen Marching in ihrer Reportage (S. 84). Christoph Raiser zeigt, wie sich im System Berlusconi gelenkte Demokratie auf populäre Weise verkauft (S. 93). Und Roman Deckert und Anja Wollenberg berichten von ihren Demokratieerfahrungen aus dem Sudan und dem Irak (S. 100). Auf überstaatlicher Ebene sucht die Demokratie nach wie vor nach Gestalt und Rolle. Regina Kreide zeigt die Ambivalenz internationaler Verrechtlichung als Bremse und Motor der Demokratisierung (S. 89).
Wenn wir über demokratische Öffentlichkeit nachdenken, geht es um die Kunst als Stein des Anstoßes. Anna-Catharina Gebbers inspiziert für polar die neuen Agoren der Kunstszene (S. 144), von der New Yorker X-initiative bis zur Temporären Kunsthalle in Berlin. Paula Marie Hildebrandt zeigt, wie kulturelle Interventionen als produktive Irritation Öffentlichkeiten erzeugen und demokratische Prozesse in Gang setzen (S. 151). Schließlich befragt polar die Chefdramaturgin am Schauspiel Köln, Rita Thiele, nach Möglichkeiten und Grenzen der Mitbestimmung im Theaterbetrieb (S. 154).
Daniela Dröscher versetzt uns mit ihren literarischen Momenten an ungewohnte Orte der Demokratie. Mladen Stilinovic´s Bag People laufen durch die ersten zwei Teile des Heftes mit ihren Tüten in den Händen. Im dritten Teil finden wir dann die Zeitungen, in die sie ihre Waren eingepackt hatten. Die Auszüge aus den Arbeiten von Artur Zmijewski zeigen parallel öffentliche Meinungsäußerungen auf der Straße und den privaten Alltag dreier Frauen (S. 64). Und bei Silke Wagner sieht Angela ganz anders aus, als wir sie im Wahlkampf erleben (S. 135).
Einverstanden? Bitte nicht.
Für die RedaktionPeter Siller, Bertram Keller |
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