polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
KURS
KAMPF
Christian von Soest »Bring mir mein Maschinengewehr« Die Einkehr der Ernüchterung in Südafrikas Demokratie
| Karl Wiezorek Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens Stagnation und Aufbruch in China
| Soe Tjen Marching Entstellter Sinn Höhen und Tiefen im indonesischen Demokratisierungsprozess
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Regina KreideMotor und BremseDemokratisierung in Zeiten der internationalen Verrechtlichung | Die Entwicklung des internationalen Rechts ist ein zweischneidiger Prozess. Internationales Recht begünstigt den Machtverlust von Politik und kreiert hegemoniale internationale Verhältnisse. Es kann aber auch Motor der Demokratisierung und Bremse einer ungehindert wachsenden administrativen und exekutiven Macht sein.
Die internationale Politik ist gegenwärtig durch einen paradoxen Zustand gekennzeichnet: Noch nie gab es in der historischen Entwicklung so viele völkerrechtlich bindende Konventionen und rechtliche Kontroll- und Rechtsprechungsinstanzen (wie etwa den Internationalen Strafgerichtshof). Und doch verlieren diese Abkommen und Institutionen in der internationalen Politik zunehmend an Bedeutung. Sie scheinen zur »formal-rechtlichen Fassade« zu verkommen, deren Geltung zwar (noch) selten öffentlich bestritten, aber doch stetig ausgehöhlt wird: Entscheidende Weichenstellungen in den internationalen Beziehungen, die häufig den Menschenrechten oder anderen völkerrechtlich bindenden Abkommen und Konventionen zuwiderlaufen, werden nicht mehr innergesellschaftlich und in demokratischen Verfahren getroffen. Und auch UN-Gremien, die zumindest in einem gewissen Maß an universalistische oder allgemeine Prinzipien gebunden sind, haben an Bedeutung verloren.
Heißt dies aber, dass Erwartungen an eine »Konstitutionalisierung« und sogar Demokratisierung des Völkerrechts völlig weltfremd sind?
Eine genauere Analyse internationaler Verhältnisse scheint dies zunächst nahe zu legen. Ganz offensichtlich sind auf internationaler Ebene Rechtsautoren und Rechtsadressaten nicht mehr deckungsgleich. Bislang galt es als historische Errungenschaft, dass es im demokratischen Verfassungsstaat bei der Erzeugung von Normen keinen ausgesparten Bereich gibt, der den Normsetzungsaktivitäten der Bürger entzogen wäre. Genau das aber ist auf transnationaler Ebene gegenwärtig der Fall. Internationales Finanzrecht- und Wirtschaftsrecht, Patentabkommen und selbst das »Sport-Recht«, kommen ohne eine Beteiligung der Bürger zustande. Während internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank, der Internationale Währungsfond (IWF) und auch die EU durch die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten wenigstens indirekt auch den Willen ihrer Bürger vertreten, trifft dies auf nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) nicht zu. Internationales Recht ist hegemoniales Recht, das heißt Recht, das ohne hinlängliche und direkte Repräsentation aller betroffenen Interessen auf nationalstaatliche Anliegen zugreift.
Auch ein zweiter Aspekt scheint der Demokratisierung internationalen Rechts entgegenzustehen. Die internationale »Verrechtlichung« geht, so überraschend es klingen mag, mit einer zunehmenden Entrechtlichung einher. Politische Macht und Markt gehen eine Verbindung ein, die, ohne auf legalem Machterwerb zu basieren, die funktionale Differenzierung zwischen Recht und Unrecht, Regierung und Opposition, Haben und Nichthaben überlagert. Der Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung vom Zugang zu Geld, Wissen, Macht und gerichtlichen Klagemöglichkeiten zeugt davon, dass die Unterscheidung zwischen Exklusion und Inklusion zu einem entscheidenden Maßstab für die Beschreibung der Ent- und Verrechtlichungsprozesse geworden sind. Dies wirft die Frage auf, wie die vollständig Ausgeschlossenen, jene, die nicht einmal mehr über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft verfügen und auf die wechselseitige Abhängigkeit von Arbeit und Kapital bauen können, in das Rechtssystem inkludiert werden können.
Und schließlich kämpft der Staat – trotz Finanzkrise und staatlichen Rettungspaketen – um Einfluss auf internationalem Parkett. Einerseits ist nämlich die Schere zwischen der Erwartung an die Politik und den realen Interventionsmöglichkeiten von Politik auseinandergetreten: Der Politik wird eine Allzuständigkeit angetragen und die Bürger springen für Banken und Unternehmen in die Bresche. Andererseits hat der Staat längst Kompetenzen (durch die nationalen Kapitalverkehrskontrollen und den Abbau von Handelshindernissen) an internationale, private Akteure, internationale Organisationen und internationale Regierungsorganisationen abgegeben, um innerstaatlichen Problemen wie Inflation und Überschuldung zu begegnen. Die Regeln der Finanzwelt, so zeichnet sich jetzt schon ab, stellen auch nach der Krise nicht die Politiker, sondern weiterhin die privaten Akteure auf.
Angesichts dieser Entwicklungen zeichnet sich deutlich ab, dass durch ein rückwärtsgewandtes Einfordern nationalstaatlich begrenzter Volkssouveränität nichts gewonnen ist. Dazu ist die Globalisierung des Privatrechts und der Einfluss internationaler Wirtschafts- und Finanzorganisationen schon zu weit fortgeschritten. Nichtsdestotrotz bedarf es einer transnationalen Kontrolle staatlicher und privater Entscheidungsinstanzen. Doch welche Ergänzungen und Alternativen zu einem internationalen Rechtsformalismus bieten sich überhaupt an?
Bei aller gebotenen Vorsicht, lassen sich doch einige durchaus realistische Vorschläge machen. Es bedarf der »demokratischen Elemente«, das heißt der institutionellen Scharniere, die, analog zur innergesellschaftlichen Organisation, demokratische Funktionen im dezentralen Mehrebenensystem übernehmen. Wie könnten sie aussehen? Zum einen kann bloße Deliberation in Verhandlungssituationen – wie es jetzt meist der Fall ist – die Interessen marginalisierter Gruppen institutionell nicht angemessen repräsentieren: Minderheitenpositionen müssen auch tatsächlich Zugang zu den Verhandlungen erlangen und dort auch Einfluss auf die Entscheidungsfindung besitzen. Die normativ minimale Grundlage für eine Rechtseinheit sollte auch zukünftig die Charta der Vereinten Nationen darstellen. Sie könnte, im Unterschied zum Lex mercatoria, Verfassungsrang besitzen, da sie auf internationalen Verträgen beruht und sich ihre Kernelemente in innerstaatlichen Verfassungen spiegeln, die wenigstens teilweise durch Referenden zustande gekommen sind.
Zweitens bedarf es institutioneller Anstrengungen, um administrativ operierende internationale Organisationen (wie WTO oder NATO) an nationalstaatliche, demokratisch zustande gekommene Beschlüsse zurück zu binden. Erst dadurch wird die administrative Macht dem demokratischen Willen der Bürger unterworfen. Gesetzesbindung ist ein normativer Pfeiler nationalstaatlicher Demokratie, aber für die transnationale Ebene nicht leicht herzustellen. Transnational funktioniert die Einhegung der Exekutive bei klassischen internationalen Organisationen, wie etwa der NATO, deren Vertreter der Wählerschaft »zu Hause« Rechenschaft ablegen müssen, noch einigermaßen. Gerade internationale Organisationen wie die WTO, die Weltbank und der Währungsfond sind sich ihrer externen Rechtfertigungspflicht bewusst und gegenüber Betroffenen sensibel geworden. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass diese Organisationen sich in den letzten Jahren gegenüber einer Partizipation von NGOs geöffnet haben und es zur Formalisierung der Beziehungen zwischen internationalen Organisationen und den NGOs gekommen ist.
Schließlich bedarf es einer transnationalen Erweiterung der bestehenden gerichtlichen Rechtsgarantien, durch die die Gleichheit der Verhandlungspartner unabhängig von der ökonomischen und politischen Verhandlungsmacht erreicht werden kann. Das wäre ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer transnationalen gerichtlichen Rechtsgarantie. Seit den neunziger Jahren wurden für zahlreiche internationale Verfahren gerichtsähnliche Instanzen geschaffen, die für eine verbindliche Auslegung internationaler Rechtsnormen und für eine wenigstens annähernde Gleichheit der Parteien sorgen.
Die Entwicklung des internationalen Rechts ist ein ambivalenter Prozess. Einerseits geht diese Verrechtlichung mit der Entstehung hegemonialen und zugleich demokratisch defizitären Rechts einher. Andererseits aber kann Verrechtlichung auch Motor der Demokratisierung und Bremse einer ungehindert wachsenden administrativen und exekutiven Macht sein und Raum für die (Wieder-)Aneignung der Politik durch die Öffentlichkeit schaffen. Politische Partizipation und Rechtsbindung zu erreichen, muss ein vordringliches Unternehmen sein. |
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