polar #7: Ohne Orte
EDITORIAL
KURS
KAMPF
Christian von Soest »Bring mir mein Maschinengewehr« Die Einkehr der Ernüchterung in Südafrikas Demokratie
| Karl Wiezorek Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens Stagnation und Aufbruch in China
| Soe Tjen Marching Entstellter Sinn Höhen und Tiefen im indonesischen Demokratisierungsprozess
| Regina Kreide Motor und Bremse Demokratisierung in Zeiten der internationalen Verrechtlichung
| Christoph Raiser History Repeating Wie das System Berlusconi sich Italien einverleibt
| Roman Deckert/Anja Wollenberg Wählen gehen Erfahrungsberichte aus dem Sudan und dem Irak
| Interview Thomas Krüger »Zu Mittätern werden«
| Rudolf Speth Von Mensch zu Mensch Grassroots-Campaigning als Strategie im Bundestagswahlkampf
| Robin Celikates/Hilal Sezgin Die Freiheit der Barbaren Warum eine Demokratie Ausländern das allgemeine Wahlrecht gewähren muss
| Matthias Dell >Film< Katrins Hütte – Im Glanze dieses Glückes – Letztes Jahr Titanic – Kehraus – Material
|
|
Julia Roth>Literatur<Münkler – Kowalczuk – Obama –Morrison | Mit Bewunderung und nicht ohne gewissen Neid haben in Deutschland viele den Wahlkampf und die Vereidigungs-Extravaganza Barack Obamas verfolgt. Obama – Yes he can! – ist es gelungen, wieder Charisma und Glamour auf die Bush-gebeutelte politische Bühne der USA zu bringen und viele ehemals Politikverdrossene für den Wahlkampf zu mobilisieren. Obama ist es gleichzeitig geglückt, den Gründungsmythos der USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Hort der Vielfalt und der Demokratie zu reaktivieren.
In Deutschland fehlt dem »wandelnden Ein-Mann-Think-Tank« (Die Zeit) Herfried Münkler zufolge ein vergleichbarer Gründungsmythos. Der Negativmythos Auschwitz sei derzeit einziger einem Gründungsmythos ähnelnder Bezugspunkt. Im Anschluss an einen historischen Exkurs durch deutsche Mythen von der Varusschlacht bis zum Wirtschaftswunder stellt sein Buch »Die Deutschen und ihre Mythen« vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise eine düstere Zeitdiagnose. Denn, so behauptet Münkler, »je stärker der Grad an politischer Partizipation, desto größer das Erfordernis solcher Großerzählungen.« Kurzlebige Events wie die Fußball-WM 2006 und von Spezialisten forcierte Kampagnen wie der BILD-Slogan »Wir sind Papst« oder der Werbespot »Du bist Deutschland« besetzen diesen Bereich ohne nachhaltige Wirkung. Wenn es den politischen Akteuren nicht gelingt, diesen Bereich mit neuem Leben zu füllen, prophezeit Münkler, droht die Gefahr, dass er von den Rechten besetzt wird. Dabei wäre die demokratische Revolution 1989 in der DDR ein positiver, Identität stiftender Moment gewesen. Dieser Moment wurde von den westdeutschen politischen Eliten vereinnahmt. Und die meisten westdeutschen Linken fühlten sich narzisstisch zu gekränkt: Zum einen fiel die lange Zeit idealisierte sozialistische Alternative im Osten weg, zum anderen waren sie nicht die Protagonisten dieser friedlichen Revolution.
Hier setzt »Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR« von Ilko-Sascha Kowlczuk an. Kowalczuk erzählt genau die Gegenseite offizieller Geschichtsschreibung, indem er konsequent die Ostseite und vor allem die oppositionellen Akteure fokussiert. Das Buch eröffnet – besonders der Wessi-Leserin – wertvolle Einblicke in Gesellschaft und Alltag in der DDR. Auf sehr kurzweilige Weise gibt Kowalczuk Einblicke in das vielschichtige Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren und Akteure – den oppositionellen Bürgerbewegungen, der bedeutenden Rolle der Kirchen, aber auch von Kunst, Literatur und vor allem Theater – durch deren Zusammenwirken schließlich die DDR-Diktatur in die Knie gezwungen wurde. Ganz nebenbei wird deutlich, dass weder Gorbatschow von vornherein der milde Gönner war, zu dem ihn der Westen im Nachhinein stilisierte, noch Kohl an den Nöten in der DDR von Anfang an sonderlich interessiert war. In »Endspiel« werden die Bürgerinnen und Bürger, die unter immenser Gewaltandrohung für Freiheit und demokratische Rechte kämpften, zu den Protagonistinnen und Protagonisten des Wandels.
Münkler zufolge drückt sich die Vereinnahmung dieses Prozesses und der Verzicht auf dessen »symbolpolitische Aufbereitung« darin aus, dass das Datum der Wiedervereinigung, nicht der des Mauerfalls oder der Massendemonstrationen zum Nationalfeiertag geworden ist. Das bevorstehende 20-jährige Jubiläum der friedlichen Revolution böte nach der Lektüre von »Endspiel« Gelegenheit, diese Folgen der Prozesse zu reflektieren und über ein neues, demokratisch-revolutionär begründetes deutsches Selbstverständnis nachzudenken. Keine Revolution ist auch keine Lösung!
Als Beispiel, wie man die eigene Geschichte öffentlich und politisch machen kann – und weil man nicht nur Sachbücher lesen kann – empfiehlt sich abschließend die Lektüre der Autobiographie Barack Obamas. Aber nicht dem rund gelutschten politischen Manifest »The Audacity of Hope,« sondern »Dreams From My Father« des damals gerade 33-jährigen politischen Neueinsteigers. Beim Lesen vermittelt sich unweigerlich das Gefühl, dass Obamas Charimsa keineswegs oberflächliche Glamourinszenierung ist, sondern von tiefer Authentizität zeugt. Zumindest beweist Obama, wie brillant er erzählen bzw. schreiben kann. Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison bescheinigte Obama in einem offenen Brief während des Wahlkampfs, er besitze neben Authentizität und Integrität eine »creative imagination which coupled with brilliance equals wisdom.« Morrisons neuesten Roman »A Mercy« erzählt mit der Geschichte des Sklavenmädchens Florence vor der Institutionalisierung der Sklaverei im späten 17. Jahrhundert eine Art Gründungsmythos des rassistischen Amerika. Obama prophezeite Morrison die Möglichkeit einer »national evolution (even revolution).«
Herfried Münkler. Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt, 2009
Ilko-Sascha Kowalczuk. Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. C.H. Beck, 2009
Barack Obama. Dreams From My Father. A Story of Race and Inheritance. Three Rivers Press, 1995
Toni Morrison. A Mercy. Chatto & Windus, 2008.
|
| Johannes von Weizsäcker >Musik< Health – Mika Miko – The Mai Shi
|
KONVENT
SCHÖNHEITEN
Diese Seite steht zur Zeit nicht zur Verfügung. |
|
nach oben
|
|
|
|