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polar #7: Ohne Orte



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



KURS

 
Peter Siller
Ohne Input kein Output
Eine Inspektion unserer Demokratie
 
Christoph Möllers
Vom Leiden an der Demokratie
Einige Irrtümer im Umgang mit demokratischen Ordnungen
 
Etienne Balibar
Klassenkampf um die Demokratie?
Zur historischen Dialektik von Demokratie und Bürgerschaft
 
Interview Nicole Deitelhoff/Rainer Forst/Stefan Gosepath/Christoph Menke
»Das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen«
 
Hubertus Buchstein
Gehen Sie über Los!
Das Zufallsprinzip als demokratisches Lebenselixier
 
Interview Axel Bruns
»In der Open-Source-Demokratie wartet man keine Einladung ab«
 
Christoph Egle, Stefan Huster, Arnd Pollmann, Peter Siller
Ist es links?: >Direkte Demokratie<
 
Carsten Herzberg/Anja Röcke/Yves Sintomer
Mehr lokale Demokratie wagen
Möglichkeiten und Grenzen des Bürgerhaushalts
 
Neue Berliner Sprachkritik
Der wahre Text: >Antragsübersicht<



KAMPF

 
Christian von Soest
»Bring mir mein Maschinengewehr«
Die Einkehr der Ernüchterung in Südafrikas Demokratie
 
 

Karl Wiezorek

Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens

Stagnation und Aufbruch in China


4. Juni 2009: Ein Mann läuft alleine durch Pekings 2008 neu erfundenes Zentrum. »Was essen wäre schön«, denkt er. Überfordert von der reichen Auswahl, treibt er ein wenig in der Menge. Eine Melodie dringt an sein Ohr: »Fünf gestirnte rote Fahne. Ich bin so stolz auf Dich. Dein Name ist wichtiger als mein Leben«. Er wundert sich. »Es gibt also doch noch etwas in der Welt, das wichtiger ist, als Essen, trinken und Spaß haben?« Bewegt von dieser Neuigkeit entscheidet der Mann, alle Gedanken an Essen fahren zu lassen. Er fährt zum Tienanmen-Platz, wo die größte Fahne Chinas jeden Tag gehisst und eingeholt wird. Als er am Eingang der U-Bahn vorbeikommt, sieht er ein kleines Mädchen, das weiße Blumen verkauft. Keiner der Passanten will ihr eine der Blumen abkaufen. Der Mann erbarmt sich. Als er aus dem U-Bahn-Eingang heraustritt wird er von Polizisten angehalten. »Warum tragen Sie Trauerblumen auf den Platz des Himmlischen Friedens?« Sie stellen den Mann vor die Wahl. Entweder er wirft die Blume weg, oder er muss sofort gehen. »Warum? Ich werfe doch keine Blumen weg.« Statt des Fahnenrituals sieht der Mann eine Polizeiwache von innen. Alles dauert sehr lange. Immer wieder Fragen. »Was wollten sie am 4. Juni mit den Blumen auf dem Tienanmen-Platz?«. »Keine Ahnung wovon sie reden, was ist denn so besonders am 4. Juni?« antwortet der Mann wieder und wieder.

Internetüberwachung und Protest

Geschichten wie diese kursierten Anfang Juni in chinesischen Internet-Foren. Mit Ausnahme von Hong Kong, wo die Meinungsfreiheit fast uneingeschränkt weiterbesteht, ist in der Volksrepublik China das Internet der einzige Ort, der es ermöglicht, sich weitgehend ungefährdet zu den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 zu äußern.

Die Regierung beschäftigt 30.000 Polizisten mit der Überwachung des Internets. Werden Äußerungen als zu gefährlich eingestuft, werden die Seiten schnell gesperrt. Kurz vor dem 4. Juni wurden Weblogs, die im Verdacht standen, auf das blutige Schlüsselereignis der jüngeren chinesischen Geschichte Bezug zu nehmen, im Rahmen eines »Nationalen Server-Wartungstages« einfach aus dem Netz genommen.

Auf Chinas Lehrplänen ist Demokratie kein Thema, der 4. Juni weiterhin ein Tabu. Die Hälfte der chinesischen Bevölkerung ist zu jung um sich direkt an die Ereignisse zu erinnern. Es verwundert daher nicht, dass die meisten Chinesen nur eine vage Vorstellung von dem haben, was vor zwanzig Jahren auf dem Tienanmen-Platz geschehen ist.

Und es ist davon auszugehen, dass sich daran sobald nichts ändert. New York Times-Kolumnist und Augenzeuge der Massaker Nicholas D. Kristof beschreibt das Dilemma mit den Worten eines chinesischen Freundes: Wenn er laut protestieren würde, nähme man ihn fest, wenn er leise protestiert, wäre es reine Zeitverschwendung. Dann doch lieber die Zeit damit verbringen, eine raubkopierte DVD zu schauen.

Wovor hat Hu Jintao Angst? In der südchinesischen Metropole und Ex-Kolonie Hong Kong darf frei über Demokratie und Menschenrechte geredet werden. Am Abend des 4. Juni wühlen sich bedeutend mehr Menschen als üblich durch Hong Kongs Shopping District Causeway Bay zum Victoria Park. Sie tragen Kerzen in kleinen Trichtern aus Papier. 150.000 Menschen füllen die sechs Fußballplätze. Xiong Yan, einer der 21 in Peking meistgehassten Dissidenten, spricht unter dem Jubel der Anwesenden: »Wir werden den Traum von einem freien gerechten und demokratischen China niemals aufgeben. Hong Kong ist der Stolz Chinas, denn in Hong Kong wagen die Menschen, sich für ihre Freiheit einzusetzen.« Xiong Yan ist der einzige Dissident von 1989, der an diesem Abend live zu sehen ist. Anderen, wie Wu’er Kaixi, der sich den chinesischen Behörden stellen wollte, um seinen Fall zu verhandeln, wurde der Zutritt zum Territorium Hong Kongs verwehrt. Ein Pekinger Arzt, der während der Proteste als 23-jähriger Medizinstudent an den Protesten teilnahm, trifft hier alte Freunde. Er fragt: »Wovor hat Hu Jintao Angst? Die KP kann stolz darauf sein, was sie erreicht hat. Vermutlich haben sie einfach Angst, dass alles ins Rutschen gerät, sobald sie Fehler eingestehen.«

Es sind es vor allem junge Menschen aus Hong Kong, viele erst nach 1989 geboren, die sich im Victoria-Park versammeln, um ihrem Wunsch nach einem gerechten, freien China Ausdruck zu verleihen. Hong Kong besitzt, wie die ehemalige portugiesische Kolonie Macau, einen politischen Sonderstatus. Dieser wurde mit den Regierungen Großbritanniens und Portugals im Rahmen der Rückgabeverhandlungen vereinbart.

Die Ein-Staat – Zwei-Systeme-Politik erlaubt den Einwohnern bis auf weiteres ein Leben in liberalen Verhältnissen, wie man sie aus Europa kennt.

Verglichen mit den Repressionen in Peking scheinen die Hong Konger Probleme harmlos. »Wir sind hier alle sehr verärgert über Donald Tsang«, erklärt einer der jungen Demonstranten. Donald Tsang Yam-kuen, der Kopf der Hong Konger Regierung, hatte sich einige Tage vor dem 4. Juni mit der Äußerung unbeliebt gemacht, er sei sicher, dass die Bürger Hong Kongs im Lichte der ökonomischen Fortschritte, die China in den letzten zwanzig Jahren errungen hat, die Ereignisse des 4. Juni »objektiv« bewerten würden und ergänzte sein Statement mit dem Satz: »Ich repräsentiere die Meinung der Hong Konger Bevölkerung«.

Donald Tsang you don’t represent me

Das scheinen die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, oder doch zumindest einige der heute hier versammelten, anders zu sehen. »Donald Tsang you don’t represent me« ist der T-Shirt-Slogan des Abends. Tsang musste sich für diese Äußerung entschuldigen. Er ist nicht durch die Bevölkerung Hong Kongs gewählt, doch im Gegensatz zu Festlandchina wird in Hong Kong eine kritische Öffentlichkeit geduldet. Im Jahr 2017 soll der Regierungschef direkt und allgemein gewählt werden, 2020 auch der Legislativrat, das Parlament Hong Kongs. Zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft genossen Hong Konger kein allgemeines Wahlrecht.

Chinesen, die zum ersten Mal vom »anderen System« nach Hong Kong kommen, sind oft überrascht, dass es in China einen Ort gibt, in dem es offenbar ungefährlich ist, Bilder des Dalai Lama zu sehen und in dem offiziell keine Pressezensur stattfindet. Dass es eine Selbstzensur der Medien gibt, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass viele Zeitungen auf den Verkauf außerhalb Hong Kongs angewiesen sind, um ökonomisch zu überleben.

Die Zentralregierung in Peking sieht dem Treiben in Hong Kong nicht tatenlos zu. 2002 versuchte Peking das Grundgesetz der Stadt so abzuändern, dass die Hong Konger Regierung »Gesetze erlassen solle, die Verrat, Sezession, Aufruhr und Subversion gegen die Regierung der Volksrepublik China« unter Strafe stellen.

500.000 Menschen gingen 2004 auf die Straße, um gegen diese Einmischung zu protestieren. Sie hatten Erfolg. Die Initiative wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. In Macau, in unmittelbarer Nähe zu Hong Kong, ist das Gesetz allerdings seit dem 3. März 2009 gültig. Menschen in Hong Kong fühlen, dass sie für ihr politisches System streiten müssen.

Am 4. Juni ist spürbar, dass Hong Kong etwas hat, wovon Festlandchinesen nach 1989 zu träumen aufgehört haben: Eine Zivilgesellschaft, die sich eine Stimme gegen ihre Regierung gibt.

Eine unbequeme Wahrheit

Mangels Alternativen konzentrieren sich die meisten Festlandchinesen vor allem darauf, Geld zu verdienen, und interessieren sich nicht sonderlich für politischen Wandel. Politische Auseinandersetzungen nehmen keinen großen Raum mehr im alltäglichen Geschehen ein, die »Ideologie« ermüdet die meisten, kaum jemanden interessiert noch, was in den zuständigen Leitmedien veröffentlicht wird. Selbst Mitarbeiter der Medien haben keinen Bedarf mehr an staatlicher Wahrheit. Ein CCTV-Journalist aus Sichuan beschreibt seine Arbeit als frustrierend: »Wie sie vielleicht wissen, versteht sich chinesischer Nachrichtenjournalismus nicht als investigativ. Nachrichten fallen aus einem Loch in der Decke und dann schreibt man auf, was passiert ist und wirft es in ein Loch im Boden. Ich hasse meinen Job, aber wenn ich auch nur ein Zeichen anders schreibe, als es gewünscht wird, werde ich alles verlieren, was mir lieb ist.«

Es ist eine unbequeme Wahrheit für die westliche Welt, dass China seit 1989 trotz politischer Repression eine gigantische Entwicklung ohne geschichtliches Vorbild durchlaufen hat. Der Ökonom Jeffrey Sachs fasst es in die einfachen Worte: »China ist die erfolgreichste Entwicklung in der Geschichte der Welt.«

Die nanxun jianghua, die ökonomischen Reformen des Jahres 1992, verhalfen hunderten Millionen Chinesen zu einem vergleichsweisen Wohlstand. Die Kommunistische Partei China konnte einen bisher erfolgreichen Sozialvertrag etablieren, der ihrer Herrschaft eine gewisse Legitimität verleiht: Die Partei stellt sicher, dass der Wohlstand wächst. Im Austausch fordert die Öffentlichkeit keine politischen Rechte. Sie werden gewährt, wenn es der ökonomischen Prosperität dient. Und die Notwendigkeit nach weiteren Reformen wird in Peking wohl verstanden.

Für große Teile der Bevölkerung ist die ökonomische Entwicklung der letzten dreißig Jahre mit höherer Lebenserwartung, rasant anwachsender Bildung und größerer materieller Teilhabe an der Wirtschaftsleistung verbunden als im demokratischen Nachbarstaat Indien. Das mag im Westen als »Ausverkauf der Freiheitsrechte « wahrgenommen werden. Eine Bauernfamilie aus Sichuan besitzt noch Erinnerungen an den Hungertod, der während Mao Zedongs Politik des »Großen Sprung Vorwärts« zwischen 16 und 40 Millionen Menschen das Leben kostete.

Mittelschicht und Demokratisierung

In Shenzen, der nördlichen Nachbarstadt Hong Kongs, in der die Wirtschaftsreformen in den neunziger Jahren ihren Anfang nahmen, versucht die lokale Parteiführung das Erfolgsrezept von damals zu wiederholen. Mit der Erlaubnis der Zentralregierung wird in den kommenden Jahren in Shenzen der Bürgermeister der Stadt durch den städtischen Parteikongress gewählt. Bisher wird der Kandidat benannt und »durchgestimmt«. Zukünftig soll es mehr Kandidaten geben. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass die Kandidaten durch das lokale Parteikomitee nominiert werden, doch die Richtung der Entscheidung gibt eine Idee, wie sich die politische Landschaft in China in den kommenden Jahren verändern wird.

Keine Frage, Einparteienherrschaft und Medienzensur werden weiterhin bestehen bleiben. Von einem repräsentativen Wahlsystem ist China weiter entfernt, als es sich der Westen und die Intellektuellen in China wünschen. Doch innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas, einer Partei mit mehr als 70 Millionen Mitgliedern, ist ein Demokratisierungsprozess auf dem Weg, der sich mit der Zeit auf die politischen Verhältnisse im Lande auswirken wird.

Unbegrenzte Zeit hat die KP für diese Reformen nicht. Zu schnell bildet sich eine neue, selbstbewusste Mittelschicht heraus, die offenbar in der Lage ist, unpopuläre Entscheidungen zu blockieren, ohne dabei ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel zu setzen. So wurden 2005 die Arbeiten an einem Projekt, das Ähnlichkeiten mit dem Dreischluchtenstaudamm hat, wegen öffentlicher Proteste eingestellt.

Ein anderes Damm-Projekt wurde erst kürzlich beendet. Die Software »Grüner Damm«, die darauf abzielt, das Surf-Verhalten der chinesischen Internet-Community drastisch zu kontrollieren, sollte verpflichtend auf jedem neuen Rechner installiert werden. Das Vorhaben scheiterte aufgrund massenhafter Proteste chinesischer Internetnutzer. Die Software war zum einen unbrauchbar, zum anderen inkorporierte sie ein prüdes Weltbild, das sich offenbar auch in einer Einparteiendiktatur nicht mehr ohne weiteres durchsetzen lässt. Der Plan wurde still und leise zu einer Service-Initiative der Regierung zum Schutz der Jugend Chinas umdefiniert.

Diese Reaktion zeigt das eigentliche Problem der politischen Führung in China. Wer sich nicht durch Wahlen legitimiert, weiß nie, wann das Volk die Nase voll hat. 


 
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