Die Reise/Nel mezzo del cammin di nostra vita Etwa 1307, als es die christliche Hölle offenbar noch gab, machte sich Dante in Begleitung Vergils auf die Reise in das Reich des Grauens, der Schmerzen, der endlosen Folter der Sünder. 34 Gesänge lang. Und nimmt die Leser aller Zeiten in Ewigkeit mit auf die Reise. Das Jenseits in der Phantasie betrachtend.
690 Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts, macht sich Tom Fontana auf in das Diesseits, die Hölle der Schmerzen, der Foltern, des Mordens und der Qualen zu besuchen - nach OZ, wie das Oswald Maximum Security Penitentiary, Level 4 genannt wird. 6 Staffeln, 56 Folgen. Über 50 Stunden Brutalität, Drogen, explizite männliche Nacktheit, sexuelle Gewalt, scheinbar realistische, tatsächlich hoch artifizielle, rhythmisierte, poetische Sprache. Und nimmt die Zuschauer mit auf die Reise - mit eigenen Augen durch die, filmästhetisch in eigenartiges Grau-Blau getauchte Hölle im Diesseits zu besuchen.
Die Furcht/la paura Nicht unbeeindruckt bleibt der reisende Dante von dem Gesehenen. Von seinen Schrecken und seinen Schmerzen im Anblick der Gequälten berichtet er in berauschenden Endecasillaben und will seine Leser teilhaben lassen am Schrecken, die paura erneuern: mitleiden - was nicht nur heißt, Mitleid mit den Verdammten zu haben, sondern das eigene, drohende Leiden mitleidend vorwegzunehmen, das demjenigen blüht, der sich in derselben Weise wie die Höllenbewohner gegen die Gebote vergeht. Der lesende Leidende hat Mitleid mit den Höllengestalten - und mit sich selbst.
Fontana hingegen, der selbst amerikanische Gefängnisse besucht hat, ist nicht der Reisende in seiner Erzählung. Sein Reisender nel mezzo del cammin di sua vita ist die Figur Tobias Beecher: Ein langweiliger, mittelalter Rechtsanwalt und Familienvater, der betrunken ein Kind tot fuhr und von einer rasenden Richterin (die sich später bei ihm dafür entschuldigen will) in das Höllengefängnis geschickt wurde. Beecher leidet nicht nur durch den Anblick der Qualen wie Dante - er wird, selbst in jeder erdenklichen Form gequält und als Gequälter zur Schau gestellt. Anfangs Opfer, von Vern Schillinger, dem Führer der Aryan Brotherhood, mit einem Hakenkreuz auf dem Arsch tätowiert, wieder und wieder vergewaltigt, geschminkt und zum dienstverpflichteten, schuhableckenden»prag« (»prison fag«) entwürdigt, verwandelt er sich zum Mittäter und Täter unter Tätern, zugleich Opfer unter Opfern. Schillinger lässt ihm die Knochen brechen, sorgt dafür, dass erst die Frau Beechers, dann seine Kinder, später auch noch sein Vater brutal ermordet werden. Im Gegenzug wird Beecher dafür sorgen, dass die Söhne Schillingers zu Tode kommen, und zuletzt Schillinger erstechen.
Der Zuschauer, der bei Dante noch über die Hölle lesen und phantasieren durfte, konnte, musste - landet in der Gefängnishölle in eigener Anschauung. Schwer auszudenken, wie es einem durch die TV-Kanäle streifenden Amerikaner ergangen ist, der plötzlich nel mezzo del cammin di sua vita in dieser Hölle bei HBO gelandet ist. [...]
|