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polar #16: Kunst der Drastik




EDITORIAL

 
Peter Siller/Bertram Lomfeld
Editorial



ZEIGEN

 

Peter Siller

Politik der Drastik

30 Versuche ĂĽber die Sichtbarmachung des Furchtbaren


Es ist nicht die Übertreibung, die uns schreckt, sondern die (mögliche) Wahrheit, die Objektivität einer subjektiven Verletzung oder Bedrohung. Deshalb empfiehlt es sich, Drastik als Form des Zeigens ungeliebter Wahrheiten zu verstehen, als Bildgebung gegen die Unsichtbarmachung. Erst so entsteht die Chance einer Reaktion, und damit auch ein Raum für Politik. Dabei kann die Reaktion selbst drastisch ausfallen - und zugleich zu ganz anderen Möglichkeiten verhelfen. Verhandelt wird dabei auch das Verhältnis von Leben und Kunst.

1 Die Untertreibung der Provokation
Den Begriff der Drastik als Instrument der Gesellschaftsanalyse wie der gesellschaftlichen Orientierung einzusetzen, verlangt zunächst, sich über den Gehalt dieses Begriffs zu verständigen. Dabei geht es darum, aus einer Vielzahl möglicher Definitionen diejenige auszuwählen, die uns zu den interessanten und relevanten Fragen führt, die im Umfeld des Begriffs aufscheinen. Es ist wahrscheinlich der uninteressanteste Ansatz, Drastik im Kern als Strategie der »Übertreibung« oder gar als Kunst der »Provokation« zu begreifen. Viele Darstellungen, die wir als drastisch empfinden, beinhalten bei genauerer Betrachtung gar keine »Übertreibung« und zielen auch intentional nicht auf eine »Provokation«. Im Gegenteil zielt die Unterstellung einer provokatorischen Absicht oftmals darauf, die ernsthafte Anfrage einer Darstellung zu neutralisieren oder gar zu diskreditieren.

2 Zeigen, was ist
Es empfiehlt sich vielmehr, Drastik als eine Darstellungsweise zu begreifen, die uns etwas zeigt, das wir nicht gerne sehen, das wir nicht wahrnehmen und wahrhaben wollen, weil es uns ängstigt oder schmerzt. Die Kunst der Drastik liegt danach darin, diese ungeliebten Wahrheiten immer wieder ans Licht zu befördern, darin liegt ihr Enlightment, ihre aufklärerische Funktion. Ihre Provokation besteht - wenn überhaupt - darin, dass das, was sie uns zeigt, sicher oder möglicherweise wahr ist.

3 Der Schock der Immanenz
Deshalb liegt die aufklärerische Funktion von Drastik auch nicht einfach im genauen Hinsehen der naturwissenschaftlichen Aufklärung, wie wir sie bereits aus den Sektionsgemälden des 17. Jahrhunderts kennen (siehe etwa Rembrandt 1632: Die Anatomielektion des Dr. Nicolaes Tulp) - und das heute ein wesentliches Element von Splatter und Porno darstellt. Als würde man auf etwas stoßen, indem man immer näher heran geht und immer tiefer hinein. Das Schockierende dieser Bilder liegt vielmehr - wenn man so will auf zweiter Ebene - in dem, was (an Metaphysik) zu verschwinden droht, wenn man genauer hinsieht, in der radikalen Immanenz. Dieses Herauskippen aus der Metaphysik führt keineswegs zu einer Verabschiedung der Unverfügbarkeit von Freiheit und Würde und Liebe, und doch hat es radikale Konsequenzen für die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit unseres Lebens.

4 It's a horror
In diesem Sinn sind es auch jenseits des Menschen Bilder der Natur, die uns leicht einen Schrecken einjagen können. Bilder, die uns zeigen, was nicht ist. Wir blicken hinaus in der Hoffnung auf eine Antwort und stellen fest, dass da draußen niemand antwortet, niemand zu einer Antwort fähig ist. Keine Resonanz, nirgends. Kalte Abläufe in saftigem Grün. Nur das irre Zirpen der Vögel.

5 Die Alltäglichkeit der Drastik
So verstanden ist es ein weit verbreitetes, fast schon rührendes Missverständnis zu glauben, die Krassheit läge in der drastischen Kunst, wo sie uns doch nur an Gegebenheiten erinnert, die völlig unabhängig von ihr bestehen. Dabei sind es doch in aller Regel die grundlegendsten Wahrheiten oder zumindest Möglichkeiten, die sich tagtäglich millionenfach realisieren, die uns den größten Schrecken einjagen: Memento Mori, wir werden sterben, unser Leben ist endlich, wir könnten verfallen schon bevor wir tot sind; Menschen fügen sich schwere Verletzungen zu, leiden Not, sperren sich ein, tun sich Gewalt an, physisch, seelisch; Ein Mensch verschwindet, indem die Liebe stirbt, Menschen sehen keinen Sinn mehr, da draußen ist niemand, der auf einen aufpasst. »In den nächsten 100 Jahren werden 6 Milliarden Menschen sterben! Und diese Zahl ist extrem geschönt!« (Schlingenblog, 19.11.2009) war eine der Botschaften des angeblichen »Schock-Intellektuellen« (Spex, 1/1998) Christoph Schlingensief. Danke für die Erinnerung! Das Drastische ist oftmals nicht die spektakuläre Ausnahme, sondern das Alltägliche und Triviale: Das, was jederzeit passiert, passieren wird oder kann. [...]


 
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