Aus dem reichen Fundus der alten Geschichten griechischer Heldensagen und den christlichen Heiligenlegenden, sind es die besonders heftigen, die sich über Jahrhunderte hinweg einer immerwährenden Beliebtheit erfreuten. Auf Gemälden der abendländischen Museen und Kirchen ist nicht nur Blut zu sehen, es fließt in Strömen. Aus dem enthaupteten Rumpf Johannes des Täufers, gemalt von Rogier van der Weyden, spritzt dem Betrachter das Blut, das sein Herz in dem noch warmen aber schon toten Körper in den letzten Schlägen mächtig pumpt, entgegen. Caravaggio wählte genau den Augenblick der Bluttat der alttestamentarischen Judith aus, in der sie die Scharfe Klinge ihres Schwertes zur Hälfte durch die Kehle des Holofernes schnitt. Auch hier sprudelt Blut, dass Quentin Tarantino seine Freude hätte.
Doch nicht nur Blut zeugt von extremer Gewalt, sondern es werden zum Teil auch Extremitäten präsentiert, die auf barbarische Folter verweisen: Stolz präsentiert beispielsweise der Heilige Erasmus auf einer Tafel von Matthias Grünewald von 1520 eine Spindel, auf die wir mit unserem säkularisierten Blick des beginnenden 21. Jahrhunderts tatsächlich etwas ungläubig schauen, wenn wir uns darüber klar werden, dass es sein eigener Darm ist, den uns der Heilige präsentiert. Nach der Legende wurde er unter Kaiser Diokletian als Bischof von Antiochien in Syrien gefoltert, indem ihm sein Gedärm bei lebendigem Leibe mittels einer Spindel aus dem Körper gezogen wurde. Das Folterinstrument ist in der christlichen Ikonographie zu seinem Attribut geworden.
Splatter haucht uns ebenfalls an, beim Anblick des heiligen Bischof Dionysius, der in vielen Darstellungen buchstäblich kopflos ist und sein Haupt in den Händen präsentiert. Aber es sind nicht nur die christlichen Heiligenlegenden, sondern ebenfalls die Antike, die den abendländischen Malern Vorlagen für heftige Motive geliefert haben. In Tizians Häutung des Marsyas wird der Gewaltexzess zelebriert. Gut, der Satyr hatte den Gott der Künste selbst zu einem Wettstreit im Musizieren aufgefordert. Das war sicher ein törichter Fehler. Doch kostete Apoll diese Dummheit brutal aus: Er häutet den unterlegenen Gegner bei lebendigem Leib: Eine blutige Arbeit, die der mythologische Gott der Künste in dieser Szene verrichtet. Der ästhetische Schöngeist mag sich abwenden; das kleine Hündchen auf Tizians Gemälde, das im Bildvordergrund das zu Boden geflossene Blut aufschleckt, scheint sich jedenfalls zu freuen. Man könnte noch weitere Szenen und Geschichten anfügen, doch reichen diese Beispiele aus, um zu zeigen, dass Blut, Gedärme, Schweiß, Tränen, Verbrechen und Strafe, Rache und Folter keine Randszenen in der abendländischen Kunstgeschichte darstellen. Doch bleibt in unserem thematischen Zusammenhang die wichtige Frage: Sind diese Szenen drastisch? Ganz entschieden und ohne Zweifel können wir diese Frage verneinen. Drastik entsteht nur in einer wie auch immer gearteten Identifizierung. Drastische Metaphern, die uns nicht berühren, lassen uns über ferne und fremde Kulturen nachdenken. Wir können Drastik nicht wirklich denken. Drastik ist etwas, das empfunden werden muss. Domestizierte Drastik erscheint wie das Raubtier im Käfig. [...]
|