Ende der 1990er Jahre war ich bei einer Einweihungsfeier in der nicaraguanischen Stadt Masaya. Eine Schreinereikooperative hatte geladen – sie feierte ihren neuen Werkstattbau. Es war ein heißer Tag, die Werkstatt war mit Girlanden geschmückt und die zahlreichen internationalen Gäste aßen Fleisch mit Krautsalat. Ein paar von ihnen hatten am Ehrentisch Platz, der wie ein Podium vor diversen Stuhlreihen stand – das waren die Vertreterinnen und Vertreter jener entwicklungspolitischen Organisationen, die in den vorangegangenen Jahren, Monaten und Wochen entweder die Schreinereikooperative als solche, den Werkstattneubau oder die Einweihungsparty unterstützt hatten. Die Schreiner von Masaya waren äußerst beliebt in der entwicklungspolitischen Szene des Landes – sie waren gut organisiert, ökonomisch halbwegs erfolgreich und produzierten sogar für den Weltmarkt, denn sie exportierten Schaukelstühle in die USA. Die nach Nicaragua entsandten Expertinnen und Experten für Kleingewerbeförderung rissen sich darum, die Schreiner von Masaya zu unterstützen. Denn in regelmäßigen Abständen mussten sie Projektfortschrittskontrollen an die Zentralen ihrer Organisationen in Nordamerika und Europa schicken. In einem Land, das in der Szene als »überfördert« galt, konnte ein und dieselbe Kooperative da schon mal in den Zwischenberichten ganz unterschiedlicher Organisationen den Erfolg der Arbeit verbürgen. Und die Schreiner wussten das zu nutzen. Sprachen bei ihrer Einweihungsfeier mit rauer Stimme von den Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung und davon, dass sie für diese Herausforderungen bereit seien – während auf der Wiese hinter dem Ehrentisch und damit im Blickfeld des gemeinen Publikums dünn gewordene Wäsche auf der Leine trocknete. »Entwicklungshilfe ist die Unterstützung der Reichen in armen Ländern durch die Armen aus reichen Ländern«, witzelten die Sarkasten unter den Entsandten manchmal beim Feierabendbier.
Wer sich heute für die Kritik des entwicklungspolitischen Fortschrittsdenkens interessiert und zu diesem Zweck wissenschaftliche Literatur lesen möchte, sucht diese am besten unter dem Begriff »Post-Development«. »Post-Development« ist der Name für postkoloniale Entwicklungspolitikkritik. In den 1990er Jahren, als der Begriff »Post- Development« aufkam, stand er für postmoderne Entwicklungspolitikkritik. Das Label »postmodern« hat sich inzwischen ja etwas überlebt – bei »Post-Development« jedenfalls geht es um kritische Analysen der Machteffekte des westlichen Entwicklungsdiskurses und der damit einhergehenden Praktiken. »Postkolonial« wiederum steht nicht zuletzt dafür, dass koloniale Denkmuster und Strukturen noch heute nachwirken und thematisiert werden sollten – Jahrzehnte oder, wie in Nicaragua und anderen Ländern Lateinamerikas, Jahrhunderte nach Ende des Kolonialismus. Zentral für die postkoloniale Entwicklungspolitikkritik ist die Ablehnung der Modernisierungstheorie und eine generelle Skepsis gegenüber Positionen, die Europa zum Motor des Weltfortschritts erklären. Daraus muss keineswegs die Romantisierung alternativer, ganz anderer Entwicklungswege folgen. Man kann vielmehr zeigen, inwiefern schon die Modernisierung Europas auf weltweiten Interaktionen basierte, von denen wiederum viele imperial und kolonial waren und damit Herrschaftsbeziehungen. Ferner kann man fragen, inwiefern heutige Entwicklungspolitik vormalige Herrschaftsbeziehungen reproduziert, obwohl die beteiligten AkteurInnen oft sehr gute Absichten haben und wirkliche Entwicklungen zum Besseren wollen. Solche Überlegungen sind noch keine Lösung der benannten Probleme. Im Feld der Post-Development-Kritik ist sogar höchst umstritten, ob die Entwicklungspolitik grundsätzlich reformfähig ist, also vom Problem zur Lösung fortentwickelt werden könnte. Die Sache mit Fortschritt und Entwicklung ist komplex – in der Theorie wie in Masaya.
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