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polar #9: Fortschritt



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

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AUFBRUCH

 
Petra Hauffe/Judith Karcher
Stillstand ist der Tod
Worauf beruht das Postulat des steten Wachstums?
 
Isa Jahnke/Dorothea Voss-Dahm
Ambivalente Wirkungen
Digitale Demenz versus Kreativitätspotenziale
 
»Die Idee des Virtuellen ist zerplatzt«
Interview Geert Lovink
 
Justus SchĂĽtze
Power from the people
Energetischer Fortschritt fĂĽr alle
 
Rebecca Harms
Das WĂĽstenstromprojekt
Warum ökologischer und sozialer Fortschritt solare Großkraftwerke braucht
 
Neue Berliner Sprachkritik
Der wahre Text: >Krönung der Schöpfung<
 
Jan Fuhse
Unsterblichkeit im Cyber-Space
Zur Konstruktion von technischem Fortschritt in der Science Fiction
 
Michael Makropoulos
Der Raum des Fortschritts
Architekturmoderne und Massenmotorisierung
 
»So einfach wie möglich«
Interview Arno Brandlhuber/Diébédo Francis Kéré
 
Arnd Pollmann
Ein schwacher Trost
Geschichtsphilosophie fĂĽr Fortgeschrittene
 
Alban Lefranc
Mein halbes Jahr >Literatur<
Lucilio Vanini – Samuel Beckett – Don DeLillo – Pierre Michon
 
Matthias Dell
Mein halbes Jahr >Film<
Lotería – Mammut - Sandkastenspiele
 
Christoph Raiser
Mein halbes Jahr >Musik<
Zola – DJ Mujava – Buraka Som Sistema – Bonde Do Role – Edu K



AUFGABE

 
Juliane Rebentisch
Wider die ästhetische Regression
Kunstkritik jenseits von Differenzfetischismus und Retro-Modernismus
 
Thomas Biebricher
Backbeat Revolution
Geschichte wird gemacht: The (International) Noise Conspiracy
 
 

Metin Genc

Ein Detektor ist ein Detektor ist ein Detektor

Literarisches vom Standpunkt der Zeit


Teilchendetektoren haben Namen, sie heißen ALEPH, DELPHI, ATLAS, TOTEM oder ALICE. Geht es um die adäquate Vermittlung ihrer Bedeutung für den technischen Fortschritt in der quantenphysikalischen Zeitforschung, so sind die Grenzen des Vorstellungsvermögens des »Laien« schnell in Sichtweite. Abhilfe schaffen sollen dann anschauliche Bildchen, Analogien und Computersimulationen in 3D – fiktional unterfütterte, populärwissenschaftliche Narrative. Die Verwerfungen zwischen provisorischem Verständnis und der Irritation des Nicht-Verstehens sind Freiräume für literarisches Experimentieren. Thomas Lehrs Roman 42 tritt an, die Koordinaten solcher Freiräume abzustecken.

Fortschritt ist kulturell als Bewegung, als serielle Standortveränderung konzipiert. Jeder status quo gilt dabei als Übergangsstadium, das es hinter sich zu lassen gilt. Dieser Vorstellung liegt ein Entwicklungsdenken zugrunde, das Stillstand ausschließt. Glaubt man den zugegeben provisorischen Hochrechnungen, so kommt es zu einer Verdoppelung des Wissens alle sechs bis acht Jahre, von einer medizinischen Errungenschaft zur nächsten dauert es gerade mal einige wenige Minuten und in der Chemie werden neue relevante Erkenntnisse im Minutentakt verzeichnet. Fortschrittlichkeit bemisst sich entsprechend nicht mehr nur an der Anschlussfähigkeit von Innovationen, sondern auch an der erhöhten und steigenden Frequenz, in der neues Wissen generiert und Gewusstes obsolet wird. Die Intervalle zwischen den »Schritten« des Fortschritts scheinen immer kleiner auszufallen. Was sich dabei als fortschrittlich gerieren kann und was nicht, dafür gibt es keine universellen Parameter. Für das Kernforschungszentrum CERN in Genf und die dort im Einsatz befindlichen Beschleuniger, Detektoren und Collider scheint Fortschrittlichkeit ein unzweifelhaftes Attribut zu sein. Denn neben den Erkenntnisfortschritten theoretischer Art findet hier auch technischer Fortschritt statt. Hand in Hand gehen die Entdeckung von Naturphänomenen und die ständige Erfindung von neuen Apparaten bzw. die fortlaufende Präzisierung von aktuellem Forschungsinstrumentarium. Auf die Bühne der öffentlichen Wahrnehmung tritt das CERN entsprechend monströs: »largest machine in the world«, »fastest racetrack on the planet«, »biggest and most sophisticated detec156 polar 9 Metin Genc tors ever built«, »most powerful supercomputer system in the world« und so fort Diese Selbstbeschreibung steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu einem Darstellungs- und Kommunikationsproblem, an dem hochkomplexe naturwissenschaftliche Forschung grundsätzlich leidet: Wie lassen sich Forschungsvorhaben, Versuchsabläufe und Phänomenbereiche für Fachfremde anschlussfähig in Kommunikation einbringen, wo doch zum Beispiel die Geldgeber allesamt wenig anfangen können mit Bosonen, Gluonen und Higgs-Teilchen, und was lässt sich alles in der Planck-Zeit (10 -43 Sek.) noch schnell erledigen?

Ähnliche Herausforderungen muss der Wissenschaftsjournalismus bewältigen. Einerseits soll Forschungspraxis verständlich vermittelt werden, andererseits aber gilt es der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Faszination für die wissenschaftlichen Bemühungen in hohem Maße vom Superlativcharakter des Forschungsgegenstands bzw. der eingesetzten Ressourcen und Technologien ausgeht. Was intuitiv nicht mehr erfassbar oder imaginierbar ist, zum Beispiel die unvorstellbaren Zeiträume kosmischer Ereignisketten, bedarf der Bildlichkeit, um in den Bereich des Anschaulichen transferiert werden zu können. Profitieren können solche Visualisierungsstrategien wiederum vom Fortschritt der visuellen Medientechnik, der Computertechnologie und den hochauflösenden TV-Geräten, die mittlerweile durchaus frappierend die Dreidimensionalität ihrer Bilder simulieren können. In Konkurrenz zu dieser Form von Veranschaulichung kann Literatur nicht treten, wenn man bedenkt, dass sie nicht vorrangig mit unmittelbarer Visualisierung arbeitet. Das muss literarische Texte, die sich an komplexen, zumal naturwissenschaftlichen Szenarien orientieren, aber nicht in eine Defensivhaltung versetzen. Die spezifische Kraft von Literatur geht von den Möglichkeiten aus, Komplexität aufrechtzuerhalten oder gar solche imaginativ zu erzeugen. Hinzu kommt der Raum, den sich der literarische Text nehmen kann, um (seine) Medialität und Performativität zu reflektieren. Beispielhaft vollführt Thomas Lehrs Roman 42 ein solches ästhetisches Projekt und erstellt dazu ein Setting, in dem physikalische, philosophische, psychologische, bio-rhythmische und sozio-kulturelle Zeitkonzepte wirr nebeneinander und gegeneinander laufen und gleichzeitig eine poetisierte kleine Geschichte des Fortschritts aufgerollt wird.

Utopie und Achronie
Dazu entwirft Lehr ein Katastrophenszenario, in dem durch einen Unfall am Teilchenbeschleuniger LHC am Kernforschungszentrum CERN in Genf die Zeit stillgestellt wird. Ausgenommen von dieser Stasis sind 70 Besucher und Mitarbeiter des CERN, die sich als »Chronifizierte« bezeichnen. Sie sind in ihrer Mobilität nur unwesentlich eingeschränkt und können bei Überlappung ihrer Chronosphären – das sind je eigene kleine Zeitblasen – auch miteinander kommunizieren. Nach dem Unfall in alle Winde zerstreut, kehren sie nach fünf Jahren wieder ans CERN zurück, weil die stillgestellte Zeit für genau drei Sekunden weitergelaufen ist, um wieder zu erstarren. Dies führt den Chronifizierten die Instabilität des Status quo vor Augen und macht es notwendig, Vorhersagemechanismen bzw. Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Bei einigen nährt die kurze Normalisierung des Zeitlaufs jedoch Hoffnungen auf eine gänzliche Reversibilität der Zeitanomalie. Das Resultat sind unauflösliche Interessenkonflikte, denn das Ende der Anomalie bedeutet auch den Verlust von Macht über erstarrte Menschen und Dinge. Diesen narrativ überschaubaren Plot entwickelt der Roman im Anfangsstadium, um dann im Verlauf in immer schwerer durchschaubare Aufzählungen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen von Ereignissen überzugehen, die den chaotischen Charakter der Situation widerspiegeln und zugleich Resultat eines ästhetischen und formalen Kalküls sind. Aus der Perspektive des chronifizierten Journalisten Adrian Haffner schildert der Roman die Erkundung der Zeitanomalie, der Interaktionsmöglichkeiten und des Unerklärlichen zwischen stillstehender Zeit und der Gruppe der Chronifizierten. Die Kategorien individueller Zeiterfahrung, wie Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft oder Dauer, werden programmatisch in Frage gestellt.

Die Vorstellungen von Raum und Zeit, die der Orientierung in seiner Umwelt dienen, kann Haffner nicht mehr über den Abgleich mit seiner Wahrnehmung verifizieren. Was den Zugang zur Zeit halbwegs provisorisch erlaubte, nämlich, die Projizierbarkeit der Zeit auf den Raum, fällt der utopischen Rahmung des Romans zum Opfer: »Der Ort, an dem wir uns befinden, [ist] unmöglich.« Das alte Raum- Zeit-Gefüge scheint obsolet, das neue allerdings erweist sich als temporär instabil. Das Problem ist ein Dilemma: Es gibt kein »Vertrauen. In die Bewegungen, in die Starre.« Um dieses Vertrauen aber zu gewinnen, bedarf es empirischer Daten und Erfahrungswerte, um Gesetzmäßigkeiten und Konstanten zu identifizieren. Auf Erfahrung, als ein aus der Vergangenheit abgeleitetes Wissen, kann sich Haffners ›neue Physik‹ nicht stützen. Die Welt ist erst einmal wieder primär durch Wahrnehmung zu erfassen, und die philosophischen Zeittheorien von Platon bis Husserl, von Haffner und anderen gleichermaßen zu Rate gezogen, bleiben für die Herstellung einer intersubjektiven Gesamtheit der Zeiterfahrung fruchtlos.

Fortschreitende Degenerationen
Aus der zunehmenden Intensität der Ohnmachtserfahrungen erwächst in der kleinen Gruppe der Impuls für eine rudimentäre Kulturentwicklung en miniature. Das Ziel ist kein geringes: der Aufbau einer neuen Ordnung der Dinge. Doch die improvisierte Entwicklung sozialer, ethischer, epistemologischer, psychologischer Richtlinien für die neue Welt erweist sich als kaum zu leisten, weil diese nicht Ergebnis eines langen progressiven Entwicklungsprozesses sein können, und weil ihnen auch kein Differenzierungsprozess vorausgehen kann. Ohne historisch-analytische Dimension bleiben die Normierungsversuche nur auf die lückenhaften Informationen des psychischen Apparates gestützt. Aus dieser defizitären Lage heraus erfolgt provisorisch die »Formulierung von Gesetzen, die keine Paragraphen aufzählen und keine andere Strafe kennen als die Zustände, die sie beschreiben. Ihr Gegenstand ist rein psychologisch, es geht um uns, in der Form knapper, unausweichlicher Prophezeiungen […]: 1. Schock, 2. Orientierung, 3. Missbrauch, 4. Depression, 5. Fanatismus.«

Mit den physikalischen Anomalien im Hintergrund und dieser Degenerationsleiter im Fokus, gewinnt der Roman Konturen eines makrosoziologischen Experiments. Kulturgeschichtliche Entwicklung in nuce simulierend, liefert 42 auch eine kleine Geschichte der Kulturevolution im Allgemeinen und der Kulturtechnik »Zeit« im Besonderen. Als analoge, geraffte Folie erlaubt es dieses Binnennarrativ, die ethischen Schattenseiten kulturtechnischen Fortschritts am Beispiel divergierender Zeitkonzepte zu beleuchten. Plastisch wird dies im Roman durch die kulminierende Gewalt der Chronifizierten gegen die in der Zeit erstarrten Menschen. Diese unterscheidet von jenen nur ihr Verhältnis zur Zeit. Dieses Verhältnis allerdings bestimmt, wer die Position des Objekts und wer die Position des Subjekts der Machtausübung besetzt. Verlängern lässt sich eine solche Differenzlogik bis zu den Legitimationsstrategien kulturhierarchisierender Modelle, die das Verhältnis eines Kollektivs zur Kategorie »Zeit« als Indikator für den technologischen und kulturellen Fortschrittslevel heranziehen. Eine wesentliche Rolle spielte und spielt immer noch die proklamierte Fortschrittlichkeit der je eigenen Formierungen technisierter Zeitstrukturen, deren Spitze ein Denken darstellt, das Zeit als eine immer umfänglicher verfügbare und immer exakter bestimmbare Ressource konzipiert.

Andersheit
Fernab von solchen Exaktheitsansprüchen, auf denen das moderne Leben praktisch basiert, existiert eine Andersheit der Zeit(en), die das Kalkulierbare der Zeit einschränkt und somit die Möglichkeit des emergenten Ereignens von Neuem artikuliert. Weder die antiken Zeitkonzepte, noch die sich an ihnen abarbeitenden christlich-theologischen Zeitvorstellungen von Schöpfung, Apokalypse, Zeitlichkeit und Ewigkeit oder die komplexen philosophischen sowie physikalischen Theorien erweisen sich als applizierbar auf die Andersheit und die chaotische Logik der Zeitanomalie in 42. In Dialogen kombiniert Lehr das breite Repertoire verschiedener Zeitkonzepte, lässt sie von seinen Figuren eklektizistisch amalgamieren und offenbart das Scheitern der Versuche, chronologische Kohärenz zu erzeugen. Die Zeitauffassungen laufen nebeneinander, konkurrieren, kollidieren, dienen gegenseitig zur Verifizierung und Justierung, aber sie sind nicht homogenisierbar. Es gelingt nicht, die heterogenen Zeitstrukturen synchron zu schalten, damit die Korrespondenz zwischen diesen einen Rhythmus, einen Takt hervorbringt, der für jeden Einzelnen und alle Dinge gilt. Den clash von physikalischer Zeit und empfundener, immanenter Zeit erweitert Lehr um einen unerhörten Opponenten: die »Unzeit«. Synchronizität wird damit endgültig zur Fiktion, und im nächsten Schritt zur Utopie. Wenn dabei auch das utopische Moment im Fortschrittsdenken symbolisch eingeholt wird, nämlich die Annahme einer Naturnotwendigkeit und Zielgerichtetheit des Überwindens und Ausschließens kultureller oder technischer »Vorstufen« bzw. Parallelmodelle, dann finden sich auch die Mechanismen dieser Überwindungen und ihre Drastik stillgestellt und vergegenwärtigt. 


 
Barbara Holland-Cunz
Unerledigte Utopie
Zur Renaissance der 1970er Jahre – kulturindustriell und utopisch
 
Gabriele Dietze
Der okzidentalistische Geschlechterpakt
Emanzipation als uneingelöstes Versprechen
 
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Bildpolitik: >Vorwärts<
 
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Leben im Kapitalismus: >Fortschrittskontrollen und Post-Development<
 
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