Gibt es einen Fortschritt in der Kunst? Ist, um konkreter zu werden, Kubricks Film 2001: A Space Odyssey von 1968 künstlerisch avancierter als Velazquez’ Gemälde Las Meninas von 1656? Diese Frage klären wir beim nächsten Mal. Für heute bescheiden wir uns damit zu registrieren, ob es einen Fortschritt gibt, was die gesellschaftlichen Diskurse angeht, die im Kino verhandelt werden. Und da kann Ja sagen, wer etwa Janine Möbius Film Lotería gesehen hat.
Die Dokumentation spielt mit den Gefühlen, die beim Heranwachsen im Einsatz sind, ohne diese nicht ernst zu nehmen. Wie beim Einarmigen Banditen würfelt der Film die Erzählungen der drei beteiligten Parteien durcheinander: die der wohlständigen Mütter, die der erziehenden Kindermädchen, die der erwachsenen Kinder. Schauplatz dieses Lehrstücks über die Mechanik der Fürsorgeketten ist Mexiko. Die Muster, die sich daraus ergeben, dürfen aber global Geltung beanspruchen: dass die Kinder sich emotional stärker zur erziehenden, denn zur leiblichen Mutter hingezogen fühlen; dass die allgegenwärtigen Kindermädchen ihrerseits auf ein eigenes (Familien)Leben gänzlich verzichten beziehungsweise die eigenen Kinder vernachlässigen; dass nicht selten Konflikte entstehen aus der konkurrierenden Wertevermittlung der kaum gebildeten, eher konservativen, meist religiösen »Nanas« und den atheistischen, qua Berufstätigkeit nicht selten schon moderneren Müttern. Möbius’ Film versteht, die Universalität dieser Erfahrungen in der Druckkammer der Gemeinschaft herauszuarbeiten, ohne dabei die Eigenheiten der jeweiligen Geschichten zu unterschlagen.
Dem schwedischen Regisseur Lukas Moodysson gebührt das Verdienst, diesen Themenkomplex der Gefühlsirritation für ein größeres Publikum kompatibel gemacht zu haben. Mammut heißt sein Film, in dem der gegenwärtige Darling des spanischsprachigen Kinos, Gael Garcia Bernal gemeinsam mit Michelle Williams ein reiches, aber irgendwie auch cooles Ehepaar verkörpert, das wegen seines sonnig-dynamischen Lebensstils in einer pittoresken Wolkenkratzerwohnung auf die Dienste einer philippinischen Kinderbetreuerin zurückgreift.
Leo Vidales (Bernal) ist ein großes Kind, das nur Computer spielen will und darüber unabsichtlich reich geworden ist. Die Organisation und Behauptung dieses Reichtums übernehmen kalte Managerfiguren in grauen Anzügen, die Geschäftsverträge mit teuren Füllern aus Mammut-Elfenbein unterzeichnen, in Nobelhotels absteigen und den Massageservice mit fließenden Übergängen zur Sexarbeit routiniert mitnehmen, während Leo seine Frau liebt, menschliche Nähe und Zuneigung sucht und deshalb vom einfachen Leben des Rucksacktouristen träumt. Das soziale Gewissen, das sich bei Leo als bürgerliche Sexualmoral und scheinbare Ablehnung von Luxus äußert, ist an Gattin Ellen outgesourced, die als so genannte moderne Frau als Ärztin in einem Hospital mit prekärer Klientel arbeitet. Deshalb bleibt die Erziehung von Tochter Jackie der Nana überlassen, deren Kinder daheim derweil die Mutter vermissen und für deren Rückgewinnung Opfer von Sexualverbrechern werden. Ellen kapituliert vor der Kompetenz des Kindermädchens Gloria, weshalb sie sich mit ihren Muttergefühlen zu einem Koma-Patienten auf der Intensivstation flüchtet, derweil Leo versucht, thailändischen Sexarbeiterinnen moralische und finanzielle (die teure Uhr!) Unterstützung für ein bürgerliches Leben zu geben.
Mammut bietet zwar lauter globale Motive auf (Mammut, Kosmos, Privatflugzeug), übersieht aber in einer fast rührenden Hilflosigkeit den Anteil an den globalen Verwerfungen, den das Glück seiner Protagonisten hat, das am Ende gerettet werden muss. Zur Reinigung von so viel falschem Gefühl scheinbar unschuldiger Lifestyle-Wellness empfiehlt sich Sandkastenspiele von Irvin Kershner. Darin gebären Barbra Streisands Versuche der Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch ohne Nanny abgefahrenste Tagträume von Weltpolitik und Gesellschaftsorganisation. Der Film ist von 1972.
Lotería, 2009, D/Mex, Regie: Janina Möbius, 60 Min. Mammut, 2009, D/SWE/DÄN, Regie: Lukas Moodysson, 120 Min. Sandkastenspiele, 1972, USA, Regie: Irvin Kershner, 97 Min.
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