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polar #9: Fortschritt



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

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AUFBRUCH

 
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Digitale Demenz versus Kreativitätspotenziale
 
»Die Idee des Virtuellen ist zerplatzt«
Interview Geert Lovink
 
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Energetischer Fortschritt fĂĽr alle
 
Rebecca Harms
Das WĂĽstenstromprojekt
Warum ökologischer und sozialer Fortschritt solare Großkraftwerke braucht
 
Neue Berliner Sprachkritik
Der wahre Text: >Krönung der Schöpfung<
 
 

Jan Fuhse

Unsterblichkeit im Cyber-Space

Zur Konstruktion von technischem Fortschritt in der Science Fiction


In der Science Fiction flieht die Gesellschaft in ferne und fremde Welten, in denen das Unmögliche möglich ist und in denen Weltraumhelden wie Cowboys mit bösen Mächten und widrigen Umständen kämpfen. Dennoch übernimmt die Science Fiction eine wichtige und oft unterschätzte Aufgabe für die Gesellschaft, wie unschwer an Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) nachzuweisen ist: In ihr werden spielerisch-ästhetisch die Folgen von technischen Neuerungen für die Gesellschaft durchgespielt.

So erscheint etwa die Horrorvision des künstlichen Menschen aus Mary Shelleys Frankenstein (1818) in der gegenwärtigen Diskussion um Gentechnik als hochaktuell. Orwells Nineteen Eighty-Four und Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) loten vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Volksempfänger die Abgründe einer staatlich gesteuerten massenmedialen Propagandamaschine aus. Immer wieder geht es also in der Science Fiction um die Folgen von technischem Fortschritt für das soziale Zusammenleben. Science Fiction bildet damit gewissermaßen ein ästhetisches Versuchslabor der Gesellschaft, in dem Entwicklungstendenzen auf ihre Plausibilität und auf ihre Ergebnisse ausgetestet werden.

Die Zukunft des Cyber-Punk

Wie sieht die Zukunft aus, die die Science Fiction der Gesellschaft prophezeit? Ich möchte mich hier mit einer Science Fiction-Richtung auseinandersetzen, die nicht über ferne Zukunft spekuliert: dem Cyber-Punk. Autoren wie William Gibson, Neal Stephenson, Bruce Sterling und Charles Stross geht es um die Exploration von zeitlich relativ nahen und zum Teil heute schon absehbaren technischen Entwicklungen. Die Narrative des Cyber-Punk verlassen meist die Erde nicht, sondern kreisen um die Veränderungen des sozialen Zusammenlebens durch das Internet, durch Nanotechnologie, durch Gentechnik und Biomedizin.

Den Cyber-Punk zeichnet erstens aus, dass das Internet oder eben web-ähnliche Datennetze eine zentrale Rolle spielen (cyber). Zweitens zeigt er gewisse anarchische Züge (punk), indem sich seine Helden in der weitgehend gesetzfreien Welt 108 polar 9 Jan Fuhse des Cyber-Space bewegen müssen. Im Mittelpunkt vieler Arbeiten des Cyber-Punk stehen damit die gesellschaftlichen Auswirkungen des Cyber-Space, für den William Gibson bereits 1984 mit Neuromancer eine ebenso düstere wie faszinierende Vision vorlegte. In den Romanen von Gibson, Sterling, Rucker und Stephenson entsteht in der Folge ein komplexes Bild der vom Internet geprägten Gesellschaft der Zukunft.

So fallen Alltagswelt und web-basierte Realitäten prinzipiell auseinander, sind aber auch immer wieder ineinander verschränkt. Die Handlungsstränge des Cyber- Punk spielen genau an diesen Schnittstellen zwischen der Realität des Cyber- Space und der der Alltagswelt außerhalb des Webs. Dabei wird der Handlungsund Kommunikationsraum durch das Internet zunehmend global. So verknüpft der 2004 erschienene Roman Pattern Recognition von William Gibson (der in der sehr nahen Zukunft des Jahres 2006 angesiedelt ist) Handlungen in London, New York, Tokyo, Moskau und natürlich im Internet.

Die relevanten Akteure dieser Narrative haben sich gegenüber den totalitären Regimen in Nineteen Eighty-Four, Brave New World und Fahrenheit 451 grundlegend geändert: Durch die Internationalisierung der Handlungszusammenhänge verlieren die Nationalstaaten an Bedeutung – sie stehen dem Treiben im weltweiten Netz weitgehend hilflos gegenüber. Die wesentlichen Akteure sind nun multinationale Konzerne, die oft nicht nur schwer zu kontrollieren, sondern auch weitgehend unsichtbar im Hintergrund agieren. Mit diesen haben Hacker und andere Individuen zu kämpfen, weil eine staatliche Kontrolle entfällt.

Die wichtigste Ressource in diesem Kampf sind Informationen. Gemäß der Diagnose der Wissensgesellschaft geht es nicht mehr um Produktionsmittel wie Fabriken oder Maschinen, sondern um Wissen und um Zugänge zu Wissen. Dadurch kann der Hacker zum Held werden, denn er besitzt das Wissen und die Fähigkeiten sich im neuen Daten-Universum zurechtzufinden. Eine besondere Bedeutung bekommt nun die Sicherheit von Informationen. Menschliche Akteure müssen immer wieder darum bangen, anhand ihrer digitalen Spuren, die Mobiltelefone, Kreditkartenabbuchungen oder das Einloggen in Mail-Accounts hinterlassen, von ihren übermächtigen Gegnern aufgespürt zu werden.

Umgekehrt gelingt es etwa den Helden in Neal Stephensons Cryptonomicon (1999), einen Internet-Datenhafen in einem südost-asiatischen Inselstaat aufzubauen. Dieser ist von staatlicher Regulierung vollkommen frei, bildet aber durch seine weltweite Zugänglichkeit im Netz als virtuelle Bank mit eigener Währung eine parastaatliche Struktur. Analog dazu sind auch andere Cyber-Punk-Romane von parastaatlichen Strukturen bevölkert, die teilweise lokal verankert sind (etwa in Stephensons Snow Crash, 1991), teilweise aber auch transnationalen, überstaatlichen Charakter haben und eine Welt von Failing States überformen (wie in Bruce Sterlings The Caryatids [2009] oder der Eclipse/A Song Called Youth- Trilogie von John Shirley [1985–1990]).

Weiter verkompliziert werden die narrativen Universen des Cyber-Punks durch autonom handelnde künstliche Intelligenzen. Diese stellen sich teilweise – wie in Neuromancer – als sehr machtvolle Akteure heraus, deren Interessen wegen ihrer Fremdartigkeit oft unverständlich bleiben. Unter den Bedingungen des Cyber- Space können solche Akteure virtuell in die reale Welt eingreifen (indem sie Anweisungen geben und Überweisungen tätigen), ohne wie in den zahlreichen Roboter- Romanen und -Filmen seit Isaac Asimov notwendig als menschenähnliche Wesen mit künstlichen Körpern zu erscheinen. Wenn man dieser Zukunftsvision glaubt, so kommen die Aliens als Rechner oder auch als web-basierte Programme unter uns – und nicht mit Raumschiffen von anderen Planeten.

Interessanterweise wird diese anarchische, düster anmutende Zukunftsvision von den Autoren des Cyber-Punk nicht eindeutig negativ bewertet. Hierin unterscheiden sie sich von Autoren wie Orwell, Huxley oder Bradbury, die als Warner vor den durch Technik ermöglichten gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen auftreten. Der Cyber-Punk nimmt dabei auch keine gesellschaftstheoretische Perspektive ein, sondern bleibt auf der Ebene des einzelnen (zumeist) menschlichen Akteurs. Aus dessen Sicht sorgen die anarchischen Bedingungen von Failing States, parastaatlichen Strukturen, globalen Konzernen und undurchschaubaren künstlichen Intelligenzen einerseits für die beständige Sorge um Sicherheit von Informationen und körperlicher Unversehrtheit. Andererseits bieten sie aber auch individuelle Entfaltungsmöglichkeiten (bis hin zum Aufstieg zum Global Player wie z.B. mit dem Datenhafen) und eine unglaubliche Vielfalt des Handelns und Erlebens. Diese ist nicht zuletzt die Bedingung für die hochkomplexen, meist gut endenden Narrative des Cyber-Punk, in denen Hacker und andere Anti-Helden Verschwörungen aufdecken und bekämpfen. Die Zukunft wird wohl in erster Linie anders, nicht eindeutig besser oder schlechter. Allerdings verweisen die Überlegungen zum Cyber-Space darauf, dass es im Internet klarer Regeln jenseits von Internet-Zensur bedarf – insbesondere zum Schutz der Privatsphäre der User aber auch zur Kontrolle von internationalen Konzernen und von Online-Gebilden. Und diese Regeln müssen wohl vor allem international ausgehandelt und durchgesetzt werden.

Post-Cyber-Punk
Internet und Word Wide Web sind nun – anders als in den 80ern und zu Beginn der 90er – keine Zukunftsfantasien mehr. Inzwischen haben sich die Autoren des Cyber-Punk anderen Technologien und deren Folgen für die Gesellschaft zugewandt. Seit einigen Jahren spricht man deswegen vom Post-Cyber-Punk, auch wenn der allgemeine Ansatz der relativ zukunftsnahen Narrative genauso gleich geblieben ist wie die Grunddiagnose einer durch internationale Konzerne, Unsicherheit und Failing States geprägten Zukunftsgesellschaft.

Eine der wichtigsten Zukunftsdebatten betrifft die Nanotechnologie – also das Bauen von Kleinstmaschinen auf der Ebene von Atomen und Molekülen. Mit den mehr oder weniger ernstzunehmenden Formulierungen von Richard Feynman, Eric Drexler und Mihail Roco oszilliert die Nano-Debatte zwischen Technik- Spinnerei und nüchternen futurologischen Einschätzungen. Zurzeit wird viel Geld sowohl in die Entwicklung solcher Nano-Maschinen (z.B. Rechen-Chips) als auch in die Einschätzung ihrer Folgen gesteckt. So beschäftigte sich etwa die Britische Royal Society im Auftrag von Prince Charles mit dem zuerst von Eric Drexler angedachten Grey Goo Scenario, in dem Nanopartikel sich selbstreproduzierend immer weiter über die Erde ausbreiten und schließlich das menschliche Leben auslöschen könnten. Glücklicherweise kam die Royal Society 2004 zu dem Schluss, dass dieses Szenario unmöglich ist.

Der wichtigste Post-Cyber-Punk-Roman zur Nanotechnologie ist Neal Stephensons The Diamond Age (1995). Es handelt sich hier um einen klassischen Bildungsroman, in dem ein (auf Nano-Grundlage produziertes) interaktives Buch in den Händen des Unterschichtenkindes Nell landet und dessen Erziehung übernimmt (und Nell nebenbei im Kampf gegen Kriminelle hilft, die das interaktive Buch an sich bringen wollen). Mit The Diamond Age gelingt Stephenson ein höchst plausibler Beitrag zu den Chancen und Risiken der Nanotechnologie. Einerseits wird (u.a. mit dem interaktiven Buch) deutlich, welche Verbesserungen im Alltagsleben die Nanotechnologie durch ihre extreme Verkleinerung möglich macht. Andererseits ist der öffentliche Raum im Roman von Nanopartikeln durchzogen, die alle Menschen ständig überwachen. Deren Bewegungen werden allerdings nicht nur an staatliche Instanzen, sondern auch an parastaatliche Konzerne und Gruppen berichtet. Dabei werden teilweise konkurrierende Nanopartikel eingesetzt, die die Bewegung und Reproduktion der Nanopartikel von rivalisierenden Akteuren einschränken sollen und auf diese Weise bestimmte Gebiete von der Überwachung frei halten sollen.

Wie viele andere Werke des Cyber-Punk und des Post-Cyber-Punk ist The Diamond Age durch das Nebeneinander von verschiedenen sozialen Gruppen gekennzeichnet (phyles bei Stephenson). Diese haben ihre eigene soziale Organisation und ähneln in vielerlei Hinsicht den von Michel Maffesoli theoretisierten »Neo-Stämmen« der Postmoderne. Wie schon im Blade Runner (Ridley Scott 1982) besteht die Gesellschaft aus verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen, die sich durch eigene Kulturen, aber auch durch sehr unterschiedliche Partzipationschancen und finanzielle Möglichkeiten auszeichnen.

Daneben beschäftigen sich Werke des Post-Cyber-Punks verstärkt mit Klimawandel und Umweltschutz (z.B. Bruce Sterlings Heavy Weather [1994] und The Caryatids [2009]) und mit wirtschaftlichen Prozessen in einer (technisch ermöglichten) Welt ohne Knappheit (Cory Doctorow: Down and Out in the Magic Kingdom [2003], Charles Stross: Accelerendo [2005]). Eine eher abseitige Idee, die sich aber inzwischen in einigen Science Fiction-Werken durchgesetzt hat, ist die der »technologischen Singularität« – einer Art übermenschlichen Intelligenz, in der sich viele Rechner oder Nanomaschinen zusammenschließen und die das menschliche Dasein an den Rand drängen könnte (etwa Vernor Vinge, Charles Stross, Rudy Rucker oder der Technikpapst und Erfinder Ray Kurzweil).

Demgegenüber erscheinen die Überlegungen des Post-Cyber-Punk zu Fortschritten von Gentechnik und Biomedizin umso wichtiger. Wie gehen wir und geht die menschliche Gesellschaft mit immer längerem Leben oder sogar mit Unsterblichkeit um? Fangen wir wie in Doctorows Down and Out in the Magic Kingdom an, stärker unseren Neigungen zu folgen und verschiedene berufliche Karrieren (wie das Komponieren von Opern oder das Management von Vergnügungsparks) aneinander zu hängen? Oder werden wir versuchen, unsere Körper mit Hilfe von Mental-Training, Gentechnik und technischen Einbauten weiter zu entwickeln (Bruce Sterling: Schismatrix [1985])? Denkbar sind auch das periodische Einfrieren- Lassen (wie bei Doctorow) oder der Wechsel unseres Geistes (nach erfolgreichem Herunterladen aus dem Gehirn) in verschiedene Erscheinungsformen oder eine zeitweise vollständig rechnergebundene Existenz (etwa bei Gibson und Stross).

Jedenfalls würden auch diese zunächst rein positiv scheinenden technischen Fortschritte in Gesundheit und Lebenserwartung nicht nur existenziell-psychische, sondern auch gravierende gesellschaftliche Probleme mit sich bringen: zum einen Überbevölkerung und das Problem der Verstopfung von Aufstiegspositionen durch ältere Generationen (die ja nun ihren Platz nicht mehr biologisch räumen), zum anderen Ungleichheit im Zugang zu immer teureren medizinischen Maßnahmen. Auch dieses Problem wirkt extrem aktuell: Kann unsere Gesellschaft eine medizinische Vollversorgung für alle sichern, wenn künstliche Organe und medizinische Verfahren immer aufwendiger und immer teurer werden? Können und wollen wir den Übergang in den Post-Humanismus überhaupt bezahlen – oder müssen wir damit leben, dass einige dies aus ihrem Privatvermögen tun, während viele Maßnahmen für die breite Masse unerschwinglich bleiben?

Die genauen Prognosen von Cyber-Punk und Post-Cyber-Punk werden wohl Zukunftsmusik bleiben. Viele der Einschätzungen von Technik und Technikfolgen ergeben sich auch aus der Notwendigkeit, ein gutes Buch zu schreiben. Die Science Fiction liefert uns wohl keine Beschreibung von zukünftiger Gegenwart. Aber sie macht Zukunft – oder besser: verschiedene Zukunften – gegenwärtig. Dadurch können wir über gegenwärtige Entwicklungslinien, über das Wünschbare und das zu Vermeidende reflektieren. Und die verschiedenen Werke aus Cyber-Punk und Post-Cyber-Punk machen zumindest eines deutlich: Was immer wir uns an technischem Fortschritt denken und wünschen können – er wird nie vollkommen ohne Folgeprobleme kommen, ohne dass hierdurch das ökologische Gleichgewicht, soziale Gegebenheiten und politische Strukturen zumindest ein bisschen durcheinander kommen. 



 
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