Der Blick auf die Line-Ups einiger großer Musikfestivals des Sommers 2010 ließe vermuten, dass es um den Fortschritt in der Pop-Musik schlecht bestellt ist. In Glastonbury waren U2 und Stevie Wonder Top of the Bill, in Reading gar die untoten Guns N’Roses und bei Rock am Ring, nun denn, Kiss. Kurzum: Wenn Fortschritt in der Musik heißt, dass etwas neu sein soll, waren die Festivals kein Beispiel dafür. Daraus zu schließen, dass wir musikalisch stehen bleiben als symbolische Sicherheit in der »Krise«, ist vielleicht etwas vermessen. Eine These aber soll trotzdem gewagt werden: Dass in Europa und Nordamerika zum Fortschritt in der Pop-Musik in den letzten Jahren nur wenig getan wurde, sondern vielmehr bestimmte Stilrichtungen wie Rock n’Roll oder Folk wieder ausgegraben wurden, um nihilistischem Techno oder furztrockenem Minimal etwas Handgemachtes entgegenzusetzen.
Natürlich ist diese These etwas grob und undifferenziert, aber diskussionswürdig, als die wichtigen Impulse in den letzten Jahren eben gerade nicht aus Europa oder Nord- Amerika kamen, sondern aus Afrika oder Süd-Amerika. Wichtige Impulse deshalb, weil DJs und Bands etwa aus Südafrika, Angola oder Brasilien House- und Techno-Rhythmen nehmen, bei Bedarf auseinanderbrechen und mit traditionellen Rhythmen wieder zusammenflicken, um so den Bumerang hiesiger Clubmusik wieder zurück zu schicken. Ein Fortschritt ist das sogar in zweifacher Hinsicht, weil einerseits europäische Tanzmusik einen weiteren Horizont zur Verfügung gestellt bekommt und weil andererseits auch endlich damit aufgehört werden kann, Musik aus Afrika oder anderswo immer gleich mit Weltmusik, diesem fiesesten aller Etikette, gleichzusetzen.
Ziemlich wenig mit dem, was gemeinhin als Weltmusik verstanden wird, hat etwa Zola zu tun, einer der Stars des Kwaito, einer südafrikanischen Mischung aus House und Hip-Hop. Der repetitive House-Rhythmus wird hier um einige bpm gebremst, mit einer recht klassischen Funk-Bass-Linie zusammengelegt und zumindest in der Spielart von Zola ohne Angst vor Pathos mit sehr eingängigen Gesangslinien garniert. Kein Wunder, dass Zola nicht nur einer der größten Kwaito-Interpreten in Südafrika ist, sondern auch gleich noch eine eigene Fernsehshow hat, in der er sich um die Sorgen der Anrufer kümmert. Mehr für den Clubgebrauch produziert DJ Mujava, der fast vollständig auf Instrumentierung verzichtet und statt dessen einen synkopierten Rhythmus aus dem legendären TR-808 Drumcomputer leicht übersteuert und mit einer oder zwei Synthesizer- Linien koppelt. Mit dem grandiosen Township Funk lieferte er 2008 eine Steilvorlage für Remixe europäischer DJs wie etwa dem Dubstep-Granden Skream.
Steilvorlagen bieten auch Buraka Som Sistema, ein Kollektiv aus Portugal und Angola, das die angolanische Tanzmusik des Kuduro über Portugal in die Clubs Europas getragen hat. Kuduro ist im Vergleich zum Kwaito wesentlich schneller und energetischer, aber das grundsätzliche Prinzip ist ähnlich einfach und genial: Nimm eine relativ gerade Bass-Drum, leg eine synkopierte traditionelle Trommel drüber – im Kuduro Calypso oder Soca-Rhythmen folgend – und gib noch ordentlich Techno-Synthie dazu. Was dabei herauskommt, ist in der Live-Performance sehr nah am Kindergeburtstag und schon deshalb eine Erfrischung gegenüber vielen europäischen Acts.
Bonde Do Role und Edu K wiederum sind Beispiele für den inzwischen nicht mehr nur in Brasilien extrem populären Baile Funk, einer recht zackigen Hip-Hop-Form, bei der neben dem TR-808-Drumcomputer auch traditionelle brasilianische Percussion die Grundlage für den Sprechgesang bilden. Baile Funk hat seine Wurzeln in den Favelas Rios, ebenso wie Kwaito in den Townships Sowetos groß wurde. Ob es zynisch ist, dass die europäische Mittelschicht sich an der Musik der vom wirtschaftlichen Fortschritt Ausgeschlossenen erfreut, ist eine Debatte, die hier nicht geführt werden kann. Baile Funk, Kwaito und Kuduro aber erst einmal nicht mehr als Weltmusik zu bezeichnen, ist auch schon ein Fortschritt für alle.
Statt Plattencredits schlagen wir diesmal vor, die Namen der betreffenden Bands im Netz zu suchen und im Zweifel bei MySpace zu beginnen, da die Platten der Damen und Herren eher schwierig auf dem herkömmlichen Weg zu bekommen sind.
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