Die meisten von uns sind noch Energie-Junkies an der Nadel einer Industrie, die uns für unseren »Stoff« teuer bezahlen lässt. Nicht nur in Form von Geld, sondern auch in Form von globaler Umweltzerstörung und sozialem Elend. Wir könnten die mächtigen Energiekonzerne dafür verantwortlich machen. Alternativ könnten wir unsere Hoffnung in »grüne« Konzerne stecken, die uns Desertec und Offshore-Windparks als Fortschritt verkaufen wollen. Wir könnten uns aber auch der Macht unserer energetischen Gewohnheiten bewusst werden. Und dass sich diese Gewohnheiten in den letzten Jahren fundamental verändert haben. Wenn wir dann noch die emanzipatorischen Kräfte des Web 2.0 auf das Energie- Internet übertragen, steht – nach der Befreiung des Content – der Befreiung der Energie als zweiter wichtiger Dimension unseres Daseins nichts mehr im Wege.
Die Befreiung des Content am Beispiel der Musik
Im Interview mit Jan Engelmann in polar Nr. 7 erklärt Axel Bruns das Web 2.0 am Begriff des »Produtzers« – also des Produzenten und Nutzers von Content in einer Person – und wie dieser die »Umkehr der bislang üblichen politischen Produktionsweise« bewirkt.
Die Umkehr hat noch größere Kreise gezogen und weitere bislang übliche Produktionsweisen grundlegend verändert. Beispiel Musikindustrie: Die 1980er Jahre prägten meine Generation mit zwei bemerkenswerten Innovationen: Der CD und MTV. Beide konnte man nur konsumieren. Für den Konsum, aber auch für den Traum vom Musiker, also der Produktion, wurde damals teuer bezahlt. Man befand sich in den Fängen der Musikindustrie – einem Kartell, das mit seinen fünf Mitgliedern deutlich besser funktionierte als die gefürchtete OPEC mit ihren rund 30. Die Konzerne des Kartells kontrollierten die gesamte »Wertschöpfungskette « (besser Geldabschöpfungskette) vom Plattenvertrag des Künstlers bis zum Konzertticket des Fans.
Musik ist als Content heute deutlich freier als damals. Zwar plagt mich nach wie vor ein Phantomschmerz, wenn ich vergebens nach einem Musiksender im Fernsehen zappe und nicht verstehen kann, dass es MTV und VIVA nicht mehr gibt. Oder auch der Schock, dass mein 13-jähriger Patensohn, den ich in den Ferien zu Besuch habe, keinen »Fernsehabend« (als Inbegriff von Lotterleben auf höchstem Niveau) mit mir verbringen will. Ich bin überhaupt verstört darüber, dass er nicht mehr fernsieht. Dann jedoch erklärt er mir, dass ich alle »Videoclips« von damals auch bequem auf YouTube anschauen kann. Und zeigt mir, wie auf seinem Notebook ein komplettes digitales Tonstudio läuft, mit Software, die er im Internet »umsonst« heruntergeladen hat. Ich erinnere mich an den Preis einer CD, an den Preis meines analogen Tonstudios, für das ich damals ein Vermögen bezahlen und kilometerweise Kabel löten musste. Und wie mir das die Energie für die Produktion als solche raubte.
Langsam dämmert es mir, dem musikalischen Offliner alter Schule, dass die Musikbranche jetzt frei ist. Ich bin plötzlich versöhnt mit dem mir bis dahin suspekten Web 2.0, denn schließlich hat es die Musikkonzerne entmachtet. Ich verstehe den Paradigmenwechsel, den die Arctic Monkeys eingeläutet haben und der SonyBMG, EMI, TimeWarner und Universal in die Knie gezwungen hat.
Der Traum vom Popstar flackert wieder in mir auf. Ich sehe die Chance für einen zweiten Anlauf: Als moderner Produtzer komponiere, arrangiere, produziere, vertreibe und konsumiere ich meine Musik selbst. Bis der Traum Wirklichkeit wird, machen mir die Berliner Visual Thrash Punks Bonaparte mit ihrer Anti- Konsum-Hymne Mut (natürlich auf YouTube): »I boykott everything that’s not made by my hands.« Musikkonzerne: On your knees – freie Musik für alle! Content ain’t Energy Wenn Content – wie am Beispiel der Musik erfahren – frei sein kann, warum nicht auch Energie? Content und Energie stehen offensichtlich in einer engen Wechselbeziehung zueinander. Damit zum Beispiel Popmusik (Content B) entstehen kann, bedarf es Strom (Energie) für die E-Gitarre. Damit Strom entstehen kann, bedarf es Kommunikation und Information (Content A) beim Bau des Kraftwerks.
Dennoch unterscheiden sich Content und Energie in wesentlichen Punkten. Content und Energie werden auf unterschiedliche Art und Weise produziert. Während Musik in einem kreativen Prozess in den Köpfen der Leute generiert wird, entsteht Strom durch einen maschinellen Umwandlungsprozess von Primär- in nutzbare Endenergie. Ähnliche Unterschiede gelten spiegelbildlich für die Nutzung bzw. den Konsum von Content und Energie. Während Content auch über weite Strecken ohne Verluste übertragen werden kann, gilt dies nicht für Energie. Auch kann Content heute sehr einfach und günstig gespeichert werden. Energie hingegen nicht.
Die für Produktion, Nutzung, Übertragung und Speicherung benötigte Materie (die sog. Hardware) unterliegt bei Content und Energie jeweils anderen Gesetzmäßigkeiten. Zum Beispiel wird die digitale Revolution dadurch beschleunigt, dass sich die Leistung von Computerchips bei gleichem Preis alle 20 Monate verdoppelt. Dem stehen vergleichsweise homöopathische Steigerungsraten, etwa beim Nutzungsgrad von Energiewandlern und -speichern, gegenüber.
Jenseits der chemisch-physikalischen gibt es bemerkenswerte psycho-soziale Unterschiede zwischen Content und Energie. Zu Beginn des Dritten Jahrtausends befinden wir uns bereits jenseits des Informationszeitalters. Beim Thema Energie steckt uns das Erbe der Industriellen Revolution jedoch noch tief in den Knochen. Der energetische Paradigmenwechsel dieser Revolution bestand darin, den Einzelnen aus seiner Autonomie herauszureißen, ihn in den arbeitsteiligen Produktionsprozess (auch von Energie) einzugliedern, um ihm die Energie jetzt als Produkt gegen Geld zu verkaufen. Fortschritt bedeutete damals, dass die so genannte Produktivität, also der Warenausstoß pro Arbeiter, mittels Energieeinsatz dramatisch gesteigert werden konnte. Energie überall, ständig und billig verfügbar zu machen war das Gebot der Stunde. Die dazu notwendigen Investitionen konnten nur von Großorganisationen gestemmt werden. Der »Energieversorger « war geboren, egal ob als staatliches Unternehmen oder als Privatkonzern.
Unsere Energiegewohnheiten sind bis heute vom Konzept des Versorgtwerdens bestimmt, also von der Vorstellung, dass eine höhere Macht sich um unsere Energieangelegenheiten kümmert. Auch wenn uns als »Multioptionalen« im interaktiven Zeitalter die Subordination unter einen »Versorger« zunehmend anachronistisch erscheint, fallen wir gerne immer wieder in den unfreien, aber sorglosen Zustand von Energiesklaven zurück. Undenkbar, dass heute irgendjemand in ähnlicher Weise über seinen »Contentversorger« spricht wie er dies noch ganz selbstverständlich über seinen Energieversorger tut.
Content war in den zurückliegenden 200 Jahren nie in dem Maße verstaatlicht oder industrialisiert wie Energie, weshalb sich hier keine entsprechende Versorgermentalität breit machen konnte. Zudem hat Content – besonders in den letzten 25 Jahren – deutlich mehr Innovationskraft auf sich gezogen als Energie. PC, Internet, Breitband prägen subjektiv unser Dasein, während die großen energetischen Innovationen (Großkraftwerk, Stromnetz, Ferrariszähler) antiquiert wirken und de facto auch sind.
Innovationskraft und freier Wettbewerb der IT-Branche verdrängen mit immer besseren und günstigeren Produkten die letzten Reste von Staat und Konzernen aus der Content-Sphäre. Zwar hat die Diskussion um Energie- und Klimakrise wieder etwas frischen Wind in die Energiebranche gebracht und es weht sogar ein Hauch von Innovation. Dennoch richtet sich der Blick des besorgten Publikums reflexartig nach oben, nämlich auf Politik und Konzerne, die schließlich unsere »Versorger« sind. Das Ergebnis sind ergebnislose »Energiegipfel«, in denen letztendlich nur um Förderungen und »Planungssicherheit« gefeilscht wird. Das Milliardengrab Desertec etwa soll durch umfangreiche staatliche Abnahmegarantien gesichert werden. Die neuen Helden der Erneuerbaren-Industrie haben das politische Spiel ihrer konventionellen Vorgänger verstanden und übertreffen diese mittlerweile in der Virtuosität, mit der sie die Politik mit Arbeitsplätzen erpressen und Lobbyarbeit für Subventionen betreiben. Die erst vor gut einem Jahrzehnt begonnene Liberalisierung des Energiemarktes ist gerade durch den Boom der Erneuerbaren zur Farce verkommen. Planwirtschaft 2.0 statt Web 2.0. Desertec statt Wikipedia. Versorgermentalität, Korporatokratie, Innovationslosigkeit: Die Energie scheint noch Jahrzehnte von einer Befreiung entfernt, wie sie der Content vor unseren Augen erfährt.
Der Energieprodutzer und das Ende der Energiekonzerne
Doch es gibt auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen Content und Energie; auf der chemisch-physikalischen Ebene die Tatsache, dass beide im Überfluss vorhanden sind: Content durch die unbegrenzte Kreativität der Produtzer, Energie durch die Sonne. Beide brauchen Materie (Hardware), um transportiert und transformiert zu werden, beide werden über bestehende Netze verbreitet.
Für die psychosoziale Ebene hat gerade der letztgenannte Aspekt wichtige Implikationen, denn er bedeutet, dass die Grundprinzipien des Web 2.0 zum Beispiel auch für das Stromnetz gelten müssen: Der User frönt seinem Bedürfnis zu produzieren, zu (ver)teilen, sich mit anderen zusammenzutun. Bei aller Kritik an der hochsubventionierten Markteinführung der Erneuerbaren hierzulande muss man ihr eines lassen. Sie hat einen bedeutenden Kulturwandel eingeleitet, denn jeder hat begriffen: Man kann seine Energie selbst machen. Dafür stehen sinnbildlich Tausende von Solaranlagen. Es ist nicht ihre heute noch sehr geringe installierte Leistung, sondern ihre Symbolkraft. Sie markieren den ersten Schritt des modernen Energiesklaven auf seinem Weg in die Freiheit. Wir erleben die Geburtsstunde des Energieprodutzers, der die bislang übliche energetische Produktionsweise umkehrt. Gibt es Hoffnung, dass er mit ähnlicher Macht wie sein großer Content-Bruder die Menschheit in ein wahrhaft fortschrittliches Energiezeitalter führen kann – ein Zeitalter, in dem Energie umweltverträglich und machtfrei produziert, geteilt, gespeichert und genutzt werden kann?
Die Vorboten sind vielversprechend. Die Kehrseite der oft gescholtenen Schnäppchenmentalität hierzulande ist ein tiefes Bewusstsein für Preise. Es hat die Preise für Energieprodukte (inkl. Hardware) längst als falsch identifiziert. Die Falschheit der Energiepreise hängt zum einen mit ihrer Höhe zusammen, besonders auch im Vergleich zu Preisen digitaler Produkte, die immer günstiger und zum Teil gratis angeboten werden. Der User fragt sich, warum eine Email gefühlt nichts, eine Kilowattstunde jedoch immer mehr kostet; warum ein Notebook 399 Euro, eine Solaranlage aber 10.000 Euro kostet.
Die Falschheit der Energiepreise wird aber zunehmend auch hinsichtlich ihrer Inkonsistenz und Intransparenz wahrgenommen. Wenn der Preis an der Strombörse auf Null fällt, weil eine Schwemme an Wind- und Sonnenstrom im Netz herrscht, ich dadurch aber keine Erleichterung meiner Stromrechnung, sondern im Gegenteil ständige Erhöhungen erfahre, müssen die Preise falsch sein. Natürlich auch dann wenn ich nicht weiß, wohin das Geld fließt, dass ich als Teil meiner Stromrechnung bezahle. Das Unbehagen an den falschen Preisen unserer Energie-Planwirtschaft verstößt fundamental gegen das Integritäts- und Konsistenzbedürfnis einer immer größeren Masse von aufgeklärten Digital Citizens, die dank Web 2.0 die aktuelle Energiewirtschaft durchschaut haben.
Die Bewegung formiert sich in »Energiewenden«, die im ganzen Land aus dem Boden schießen und sich zum Ziel gemacht haben, ihre jeweilige Region energieautark und erneuerbar zu machen. Die Energiesklaven begehren auf und wenden sich mit Leidenschaft ihrer neuen Freiheit als Energieprodutzer zu. Die Industrie, die die Fähigkeit zu innovieren – ja nur zu erklären – längst verloren hat, muss hilflos zusehen, wie sich ihre einstigen »Kunden« anschicken, selbst zu (Selbst)Versorgern zu werden und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Doch die Zeichen stehen nicht nur auf Gegenstrom, sondern auch auf vereintes Handeln einer frustrierten Masse, der es bei ihren Energiebedürfnissen immer weniger um Schnäppchen, sondern um nicht-monetäre Bedürfnisse geht. Auf den ersten Blick wirkt es paradox, dass ausgerechnet diese Bedürfnisse Kaufkraft etwa für miniaturisierte Energie-Hardware (Photovoltaikmodule, Mikro-Blockheizkraftwerke, Kleinwindanlagen) erzeugen, und zwar jenseits von Renditeerwägungen. Die Commodification, also der Übergang vom Investitions- zum Konsumgut der Energie-Hardware ist in vollem Gange. Sie ähnelt der Commodification in der Content-Sphäre und sorgt für fallende Preise bei den Tools der Produtzer. Das Ende der Energieindustrie wird beschleunigt durch die Flucht des Kapitals aus energetischen Großprojekten. Wer will angesichts der bevorstehenden Flut von selbst gemachtem, dezentralem Strom noch in Projekte wie Desertec investieren? Der Energieprodutzer ist real und hat den Anfang vom Ende der Energiekonzerne eingeläutet.
Power to the people – from the people
Was ist das zentrale Momentum für ein fortschrittliches Energiezeitalter? Es ist in der Tat die Umkehr. Zum einen die Umkehr der bislang üblichen Produktionsweise. Kein Energieprodutzer würde auf die Idee kommen, ein Deep Water Horizon, ein Atomkraftwerk oder eine CO2-Endlagerstätte in seinem Haus zu installieren. Zum anderen die Umkehr der Flussrichtung: nicht mehr auf der Einbahnstraße von einer Pipeline oder Hochspannungsleitung bis in meine Stadt, sondern von meinem Haus zu dem meines Nachbarn im selben Niederspannungsnetz. Dann die Umkehr von Industrie in Leidenschaft bei der Herstellung, beim (Ver)teilen, beim Konservieren, bei der Nutzung von Energie. Schließlich die Umkehr der Macht, weg von den Konzernen, hin zu den Leuten. Power to the people – from the people, in voller Doppeldeutigkeit des englischen Wortes. Freier Content, freie Energie – rasanter Fortschritt für alle.