Nichts macht in der Kunstwelt heute einen so veralteten Eindruck wie die Rede vom Fortschritt. Der Fortschritt hat, wie es scheint, die Seite gewechselt: Er gehört mittlerweile selbst dem Bestand der Tradition an, dem er zuvor programmatisch entgegentrat. Tatsächlich haben sich die Fortschrittserzählungen der Moderne überlebt. Die Kunst, könnte man meinen, hat einen Stand erreicht, dessen Neuheit sich dadurch auszeichnet, dass er sich mit linearen Fortschrittsmodellen nicht mehr fassen lässt.
Dem entspricht die Diagnose vom Ende der Kunst. Ihr zufolge bezieht sich die Gegenwartskunst weder kritisch auf die Vergangenheit noch greift sie auf eine utopische Zukunft voraus; vielmehr soll sie ihr Jetzt verselbständigt und als Zeitlosigkeit auf Dauer gestellt haben. Die andauernde Produktion von Neuem, die in der Gegenwartskunst dennoch zu verzeichnen ist, erhöbe dann keinen Anspruch auf ein gegenüber der Tradition Anderes. Sie wäre bloß Effekt einer allumfassenden ökonomischen Logik: Das Neue wäre nur noch originell, nicht mehr originär – es setzte sich allenfalls individualistisch ab, aber es produzierte keinen neuen, über die Originalität des Einzelnen hinausreichenden Anfang mehr (vgl. Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt am Main 1999, 38–41). In ihrer desintegrierten Vielfalt scheint die Kunst dann allenfalls noch Gelegenheit zu mehr oder weniger intensiven Formen konsumistischen Erlebens bieten zu können. Im Blick auf das unübersichtliche Feld der Gegenwartskunst scheint sich mithin zu erfüllen, was Adorno als »nominalistische Situation« kritisiert hat: dass Kunst auf das herunterkommt, was Kunst genannt wird. Demnach lebten wir heute in einer ästhetischen Posthistoire jenseits begrifflicher Bestimmung, historischer Entwicklung und kritischem Diskurs. Dies wäre überdies eine Situation, die sich aufs Beste mit einer postdemokratischen Fetischisierung sozialer Differenzen vertrüge, die den Status quo dadurch bestätigt, dass sie vorgibt, jedem kulturell das Seine oder Ihre zu geben: eine Nische für die Frauen, eine für die Schwarzen, eine für die Schwulen etc.
Vor dem Hintergrund dieser Diagnose erklärt sich vielleicht die derzeitige Begeisterung für Alain Badious Ruf nach einer Neuerfindung des ästhetischen Universalismus. Was hier jedoch projektiert ist, ist bei näherer Betrachtung keine Neuerfindung, sondern die ästhetische Wiederbelebung des universalistischen Projekts des, wie Badiou formuliert, »großen 20. Jahrhunderts« (Alain Badiou, Dritter Entwurf eines Manifests für den Affirmationismus, Berlin 2007, 19f.). Weder die Rückwärtsgewandtheit noch die autoritäre Geste, mit der Badiou zur Verehrung des modernistischen Kanons auffordert, lässt aber erstaunlicherweise bei den Anhängern den Verdacht aufkommen, dass aus der Perspektive des Meisters lediglich diejenigen »Ereignisse« »Treue« reklamieren können, die die eigene Jugend geprägt haben. Danach wird bekanntlich alles immer schlechter. Dem korrespondiert der Unwille, spätere Entwicklungen überhaupt als Ereignisse mit eigenem Recht wahrzunehmen. Einer solchen Wahrnehmung entspräche nämlich nicht die Treue des Kulturkonservativen, sondern eine Treue zum Ereignis selber, zum Unvorhergesehenen. Nun kann man natürlich einwenden, dass Badiou präzise eine solche Treue zum Ereignis fordert – dass aber aus seiner Perspektive eben nur jenen Werken Ereignischarakter zukommen kann, die mit dem diagnostizierten Sieg des Differenzfetischismus über den Universalismus brechen. Selbst jedoch wenn etwas dran sein sollte an der düsteren Verfallsdiagnose, die Badiou der Gegenwartskunst stellt – die Rückkehr zu einem ästhetischen Programm, das seinen Höhepunkt in den 50er Jahren hatte, wäre eine reichlich undialektische Antwort auf das Problem einer partikularistisch desintegrierten Kunstwelt. Der regressive Charakter von Badious Retro-Modernismus kann indes erst dann kenntlich werden, wenn sich Tendenzen der Gegenwartskunst identifizieren lassen, die gegen ihre kulturpessimistische Karikatur verteidigt werden können, und zwar als Fortschritt gegenüber dem von Badiou propagierten ästhetischen Universalismus.
Eine Art Gegenmanifest 1) Die Rückkehr zur Abstraktion ist für Badiou eine notwendige Voraussetzung, um der Kunst ihre universale Bedeutung zurückzugeben. Die jüngsten künstlerischen Entwicklungen nun weisen einen solchen Universalismus schon dadurch zurück, dass sie gegen das Abstraktionsdogma der 50er Jahre auf konkreter Welthaltigkeit insistieren. Damit wenden sie sich auch gegen den Versuch, die Kunst auf eine gegenüber der Realität ebenso utopische wie unüberbrückbar jenseitige Position festzulegen. Zeitgenössische Kunst ist oft zu entwaffnend konkret und in dieser Konkretion zu komplex, um sich einer solchen Lesart zu fügen. Sie bietet sich nicht mehr als Ort der Utopie an – aber nicht, weil sie die Utopie aufgegeben hätte, sondern weil sie sich auf deren ursprünglichen Ort besonnen hat: Die Kunst der Gegenwart gibt die Utopie an die Politik zurück.
2) Badiou verbindet seine Forderung nach einer Rückkehr zur Abstraktion mit der Forderung, alle Partikularität zu transzendieren. Subjektivität, so Badiou, ist in der Kunst nicht auf die empirischer Subjekte reduzierbar: weder auf die des Künstlers noch auf die des Betrachters. Im Kunstwerk, Badiou nennt es auch »Werk-Subjekt«, soll sich vielmehr etwas wie eine universale Subjektivität manifestieren, ein reines, von allen Beschränkungen empirischer Gemeinschaften gereinigtes Wir. Die Gegenwartskunst hingegen widersteht der modernistischen Überfrachtung der Kunst mit dem utopischen Projekt, das nichtexistente Subjekt einer nichtexistenten Gesamtgesellschaft zu antizipieren, ganz ausdrücklich. Dieses Projekt erscheint vielen KünstlerInnen heute korrumpiert: In zu vielen Hinsichten hat sich der modernistische Universalismus als Partikularismus erwiesen. Die Kunst der Gegenwart zielt daher auch nicht mehr darauf, die empirische Subjektivität ihrer Rezipienten zu transzendieren, sondern thematisiert sie im Gegenteil. Durch ihre Öffnung auf konkrete gesellschaftliche Kontexte adressiert die zeitgenössische Kunst immer auch die sozial heterogene Zusammensetzung ihres Publikums. Aber damit geht, anders als Badiou befürchtet, keine Bestätigung jeweiliger Partikularitäten einher. Die Erfahrung solcher Werke öffnet die Subjekte für sich selbst nicht durch eine Figur der Selbstvergewisserung, sondern der reflexiven Selbstentfremdung. Die Subjekte dieser Erfahrung werden in genau dem Maße an sich selbst zurückverwiesen, wie sie sich gegenüber den Objekten nicht einfach identifikatorisch zu verorten vermögen, wie ihnen ihre eigenen Prägungen am Objekt fremd entgegentreten (das ist die Logik des ästhetischen Scheins). Sofern Kunst tatsächlich eine Veränderung des Bewusstseins erreichen mag, die in politische Handlung umschlagen kann, geschieht dies nicht, weil sie mit unseren endlichen Welten von der prätentiösen Position eines »hoch stehenden Sterns« bricht, sondern weil wir diesen Welten in den Spiegelungen und Brechungen der Kunst anders begegnen.
3) Im Zentrum von Badious Polemik gegen die Gegenwartskunst steht der Verdacht, diese sei nichts als das Symptom einer von der Logik des Kapitals korrumpierten – ihren Begriff betrügenden – Demokratie. Demgegenüber gelte es, die Kunst von den »westlichen« Imperativen der Kommunikation und der Zirkulation zu befreien: Kunst müsse deshalb absolut »immobil und unkommunizierbar « sein. Was die Idee einer immobilen Kunst betrifft, die ihrer Zirkulation als Ware widersteht, so hat das Schicksal früher ortsspezifischer Kunst deutlich gemacht, dass Immobilität keine hinreichende, noch nicht einmal eine notwendige Bedingung ist, um den Warencharakter von Kunst zu überwinden. Ortsspezifische Installationen, die in ihren Anfängen als untransportierbar und deshalb als unvermarktbar galten, genießen heute breiteste kulturelle Akzeptanz, werden von Institutionen in Auftrag gegeben und erworben; sekundäre Produkte solcher Arbeiten werden auf dem Markt gehandelt. Dass mit Kunst wie mit anderen Dingen auch gehandelt werden kann, ist aber nichts anderes als die schlichte Begleiterscheinung des Umstands, dass auch die Kunst an den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen teilhat. Immobilität von Objekten hilft da nicht weiter – die entsprechende Forderung verdankt sich vielmehr dem Kurzschluss vom Problem der Warenform auf die Gestaltung von Objekten. Die modernistische Ästhetik war in dieser Hinsicht eigentlich weiter – denkt man etwa an Adornos Hinweise darauf, dass es Kunst nur durch die Warenform hindurch geben kann und gerade nicht durch die trotzig-naive Behauptung, von ihr als Kunst sich frei halten zu können. – Was nun die Idee betrifft, dass Kunst unkommunizierbar sein soll, so ist natürlich entscheidend, wie man das Inkommunikable der Kunst versteht. Während Badiou von einem Bruch der Kunst mit allen konkreten Netzen der Kommunikation träumt, einem Bruch, der ihrer wahrhaft universalen Bedeutung vorausgesetzt wäre, etabliert die Gegenwartskunst eine Distanz zu unseren üblichen Kommunikationsgewohnheiten, -strukturen und -netzen, indem sie deren Energien – ähnlich den Taktiken asiatischer Kampfkunst – umlenkt, auf sich selbst zurückbiegt und dadurch ihr automatisches Funktionieren unterminiert.
4) Badiou schreckt auch vor dem populistischen Mittel des Political Correctness Bashing nicht zurück, um die Übergriffe von Frauen, Schwulen, anderweitig »Subalternen« sowie der proletarischen und Jugend-Subkulturen auf den modernistischen Universalismus zu delegitimieren. Die Polemik gegen eine »totale Zurschaustellung von Partikularismen« vermag zwar einige tatsächlich differenzfetischistische Zweige der Gegenwartskultur zu treffen; sie verleugnet aber jene Politik der Differenz, die sich nie als das Andere des Universalismus verstanden hat, sondern als dessen Dynamisierung. So erhebt auch die Kunst der Gegenwart weiterhin Anspruch auf Anerkennung durch jenes universale Wir, wie es durch das ästhetische Urteil impliziert ist, stellt aber zugleich die Homogenität dieses Wir infrage. Der Idee, dass Kunst für alle sei, wird von der Gegenwartskunst offenkundig nicht dadurch die Treue gehalten, dass sie against all odds weiterhin die objektive Unparteilichkeit des universalen Werks für sich beansprucht, sondern dadurch, dass sie diese Idee in ein Spannungsverhältnis zu ihrer jeweiligen konkreten Bestimmung setzt. Wahrhaft demokratischer Politik ist eine solche Kunst durch die permanente Auseinandersetzung mit der Frage nach der Legitimität dessen verpflichtet, was universale Geltung beansprucht. Ein derart kritisches Commitment aber ist bekanntlich nicht die schlechteste Form von Treue.
Wenn sich die Gegenwartskunst also dort, wo sie ihren Begriff, den der Kunst, verdient, nicht dem Bruch mit, sondern im Gegenteil einer kritischen Fortsetzung des modernen Projekts verschreibt, so muss es heute darum gehen, sie gegen zwei regressive Tendenzen zu verteidigen: gegen den differenzfetischistischen Nominalismus einerseits, gegen den pseudouniversalistischen Retro- Modernismus andererseits. |