Von den großen Fragen gibt es solche, die man mit dem gesunden Menschenverstand eher gut lösen kann und solche, bei denen es schwieriger ist. Die Wachstumsfrage scheint zur ersten Gruppe zu gehören. Ist angesichts von endlichen Ressourcen ein stetes Wachstum möglich? Kann man mit einer bestimmten Menge Mehl immer mehr Kuchen backen? Nein. Es kann noch eine ganze Weile funktionieren, aber ein stetiges Höher, Schneller, Weiter widerspricht jeder Logik. Diese Antwort steht im Kontrast zum herrschenden Diktum: Eine Volkswirtschaft muss wachsen, anders geht es nicht. Eine Stagnation kommt einem Zusammenbruch gleich. Stehen bleiben bedeutet fallen. Es gilt die Devise »wachse oder geh unter«. Stillstand ist der Tod.
Wer könnte dieses Dilemma erklären? Die Ökonomen scheinen dafür prädestiniert. Man stellt sich vor, dass es unter ihnen zwei verfeindete Lager gibt: Eines welches der Meinung ist, es muss und kann stetiges Wachstum geben und ein anderes, welches das Primat des Wachstums ablehnt. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Weit und breit gibt es keine Wissenschaftler, die eine Wirtschaft ohne Wachstum erklären oder propagieren. Eine systemkohärente Wachstumskritik gibt es nicht. Sobald jemand das Wachsen in Frage stellt, katapultiert er sich damit an den Rand der ökonomischen Zunft. Warum gibt es keinen berühmten Ökonomen, der ein Wirtschaftsmodell beschreibt, welches ohne Wachstum funktioniert? Gerade angesichts der Dringlichkeit der Wachstumsfrage und dem großen öffentlichen Interesse, wäre eine solche Theorie als bahnbrechend zu beschreiben. Dass es keine Ideen zum praktischen Wirtschaften ohne Wachstum gibt, ist leicht anhand der Sachzwänge erklärt. Warum gibt es aber kein theoretisches Gedankenspiel, welches die Möglichkeit eines solchen Unterfangens untersucht? Versagt hier die Wissenschaft? Betrachten wir also genauer, an welcher Stelle das Wachstum in der ökonomischen Theorie vorkommt.
Nutzenfunktion, Zeitpräferenz und technologischer Fortschritt
Auf der Suche nach dem Ort des Wachstumsparadigmas lassen sich drei grundlegende Prinzipien identifizieren: Nutzenfunktion, Zeitpräferenz und technologischer Fortschritt. Die Nutzenfunktion beschreibt, wodurch Menschen Nutzen erlangen. In diese Funktion wird all das integriert, aus dem ein Individuum Befriedigung ziehen kann. Grundsätzlich gilt, dass mehr immer besser ist. Mein Nutzenniveau ist höher, wenn ich mehr von etwas habe, als wenn ich weniger davon besitze. Man spricht hier von einem positiven Grenznutzen, wenn jede zusätzliche Gütereinheit zusätzlichen Nutzen stiftet. Die Ökonomen sind jedoch nicht so weltfremd, dass sie davon ausgehen, dass mir der erste Schluck Wasser den gleichen Nutzen spendet, wie der tausendste. Daher wird von einem positiven, aber abnehmenden Grenznutzen gesprochen. Umso mehr ich von etwas habe, um so geringer ist der Nutzenzuwachs, den ich durch eine zusätzliche Einheit erlange. Mit anderen Worten ist der Nutzen, den ein besitzloser Mensch aus einem Euro zieht größer als derjenige, den ein Millionär aus demselben erzielen würde. Der Wachstumsgedanke basiert hier auf dem subjektiven Verlangen nach Mehr. As simple as that.
Ein weiteres grundlegendes Prinzip, das dem Wachstumsgedanken zugrunde liegt, ist die Zeitpräferenz der Individuen: Ich ziehe die Gegenwart der Zukunft vor, da sie ungewiss ist. Mit anderen Worten konsumiere ich lieber jetzt als später. Wenn ich also meinen jetzigen Konsum auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe, dann nur unter der Voraussetzung, dass ich dann mehr konsumieren kann als heute. Daher bin ich nur dann bereit mein Geld an andere zu verleihen, wenn ich zu einem späteren Zeitpunkt mehr zurückbekomme als ich ursprünglich hatte. Ansonsten würde ich es nicht verleihen, sondern jetzt ausgeben. In der Hoffnung auf einen Zugewinn in der Zukunft, bin bereit zu sparen. Meine Ersparnis stelle ich Anderen für Investitionen zur Verfügung, wenn mein Konsumverzicht in Form von Zinsen kompensiert wird. Mit Investitionen können Kapazitäts- und Effizienzsteigerungen einhergehen. Mit anderen Worten: man kann mehr Output mit weniger Input herstellen. Es entsteht also Wachstum. Grundsätzlich basiert also auch hier der Wachstumsgedanke auf subjektivem, einzelwirtschaftlichem Verhalten in Form der Zeitpräferenzrate.
Drittens ist es der technologische Fortschritt, der in der ökonomischen Wachstumstheorie eine zentrale Rolle spielt. Wachstum entsteht hier durch eine Verbesserung der Technologien oder des Humankapitals, wodurch ein effizienteres Wirtschaften ermöglicht wird. Der technologische Fortschritt hat wiederum eine befruchtende Wirkung auf weiteren technologischen Fortschritt. Wenn Innovationen eines Unternehmens von Konkurrenten nachgeahmt werden, kommt es zu einer gesamtwirtschaftlichen Effizienzsteigerung und damit zu Wachstum.
Eine Annahme wird zur Wahrheit
Woher kommen jedoch diese Grundannahmen, dass der Mensch immer mehr will und lieber jetzt konsumiert als später und dass technischer Fortschritt sich selbst positiv verstärkt? Die Antwort ist ernüchternd: Eine theoretische Herleitung gibt es nicht, die Annahmen beruhen auf empirischen Erfahrungswerten. Diese basieren aber keinesfalls auf einer aufwendigen, länderübergreifenden Befragung einer kritischen Masse, sondern es wird einfach unterstellt, dass es sich um einen grundsätzlichen Charakterzug des Menschen handelt. In ähnlicher Weise beruht die Begründung des Marktes auf den Beobachtungen des Stammvaters Adam Smith, der im 18. Jahrhundert das rege Treiben in den britischen Hafenstädten beobachtete und feststellte, dass sich die Güter wie durch eine unsichtbare Hand zwischen den Menschen zu verteilen schienen.
An diesem Punkt geht es uns nicht darum, die empirische Basis der Ökonomik zu bemängeln, sondern im Gegenteil: es ist zu kritisieren, dass die empirischen Wurzeln nicht thematisiert werden. Man versteckt sich hinter der Fassade einer präzisen Wissenschaft und verhindert damit eine grundsätzliche Kritik. In der Wirtschaftswissenschaft wird nicht erwähnt, dass alle hoch formalisierten und komplizierten Modelle auf einfachen Beobachtungen beruhen: Beobachtungen der Art, dass Menschen zufriedener sind wenn sie mehr haben als vor einem Jahr, mehr haben als ihre Nachbarn und mehr zurückbekommen als sie verliehen haben. Diese Betrachtungen entwickelten sich mit der Zeit zu scheinbaren Gesetzmäßigkeiten und Allgemeingültigkeiten innerhalb der ökonomischen Modelle. In den Sozialwissenschaften hat man die Freiheit, eine zugrunde liegende Annahme zu modifizieren oder auch fallen zu lassen, da es sich nicht um ein Gesetz im Sinne der Naturwissenschaft handelt. In der Physik macht es wenig Sinn die Erdanziehungskraft außer Acht zu lassen, wenn man die Bewegung eines Körpers berechnen möchte. In der Ökonomik kann man Annahmen prinzipiell verändern. Jedoch nur, wenn man sie auch als solche benannt hat. Die Ökonomik verwehrt sich diese Freiheit, wenn sie ihre empirischen Grundlagen verleugnet. Am Ende setzt die Wissenschaft das, was sie eigentlich erklären sollte, als Annahmen voraus.
Ist dies ein ganz normaler Ernüchterungsmoment innerhalb einer wissenschaftlichen Beziehung? Geht es anderen Akademikern nicht genauso, wenn sie der Relativität und Ungenauigkeit ihrer Wissenschaft auf die Schliche kommen? Der Unterschied ist jedoch folgender: Die Ökonomik tritt in der öffentlichen Wahrnehmung wie kaum eine andere als präzise Wissenschaft auf. Man denke nur an die verschiedenen Konjunkturprognosen der Wirtschaftsinstitute: da wird zwischen Düsseldorf, München und Köln darüber gestritten, ob mit 1,6 Prozent oder doch nur 1,4 Prozent Wachstum zu rechnen sei – und sowohl Aktienmärkte als auch Haushaltspolitik reagieren hoch sensibel auf die verschiedenen Nachkommastellen. Der Ökonom tritt mehr denn je als ein neutraler Vertreter der Vernunft und Kalkulierbarkeit auf. Die Bauchlandung seiner unzureichenden Einschätzungen der Weltwirtschaftskrise ist schon lange überwunden. Es scheint manchmal gar so, als ob die Ökonomen nach dem Bedeutungsverlust der Religionen und der abnehmenden Durchschlagskraft philosophischer Aufklärungszüge nun den Thron der Vernunft bestiegen hätten.
Ein Missverständnis
In Wahrheit ist alles ein großes Missverständnis. Der Ökonom denkt zu wissen wie die Menschen sind und was sie wollen. Dies will er nicht bewerten. Er sieht seine Aufgabe darin, unter den gegebenen Umständen – unendliche Bedürfnisse der Menschen bei knappen Ressourcen – die optimale Allokation an Ressourcen zur Produktion der größtmöglichen Menge an Gütern zu berechnen. Wachstum ist also nicht sein primäres Ziel, sondern die Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Wenn diese jedoch ständig neue und wachsende Bedürfnisse entwickeln, muss der Ökonom einen Weg finden, sie zufrieden zu stellen. Dies geht nur in einem System stetigen Wachstums, ein theoretisches Wirtschaftsmodell, welches kein Wachsen voraussetzt, würde also wenig Sinn machen. Die Menschen wiederum fühlen sich von den Ökonomen dazu angetrieben, mehr zu wollen und weiter zu wachsen. So verstärkt sich der wechselseitige Prozess immer weiter. Es gilt also nicht, das Wachstum zu attackieren oder die Ökonomen, da sie dieses propagieren, sondern die unstillbaren Bedürfnisse der Menschen. Das Wachstum ist nur der Pappkamerad, der Prügelknabe, während die wahre Problematik im Verborgenen bleibt. Der in der Theorie angenommene Sättigungspunkt, der aufgrund des abnehmenden Grenznutzens eintreten muss, stellt sich nicht ein, da die Vielfalt an Bedürfnissen immer weiter zunimmt. Wenn bei einem Produkt die Sättigung eingetreten ist, sind schon wieder zehn neue auf dem Markt. Und so geht es weiter. Immer weiter.
Da dieses Spiel schon eine ganze Weile läuft, befinden wir uns inzwischen tatsächlich in einer Situation, in der wir aus diversen praktischen Gründen wie Staatsverschuldung, internationalem Wettbewerb und leeren Rentenkassen nicht mehr auf Wachstum verzichten können, ohne dass uns das bestehende System um die Ohren fliegt.
Abgesehen von diesen praktischen Zwängen stellt sich jedoch noch eine andere wichtige Frage: Wenn wir aus den bekannten Gründen ein Immer-Weiter-Wachsen hinterfragen wollen, suchen wir nach einem stationären Zustand, einem Gleichgewicht, in dem die Wirtschaft verharren könnte. Wer könnte dieses Gleichgewicht bestimmen? Wer könnte für sich und andere Menschen bestimmen, dass es nun reicht, dass es nun genug ist? Weder eine praktische noch eine moralisch integere Antwort auf diese Frage ist in Sicht.
Zudem würde sich die globale Verteilungsfrage bei einem Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung in einer nicht gekannten Heftigkeit stellen. Bisher konnten sich die westlichen Länder mit der Ausrede retten, dass wir nichts von unserem Teil des Kuchens abgeben müssen, da der Kuchen weiter wächst. Wir können behalten was wir haben, weil doch ständig mehr dazukommt und theoretisch nichts dagegen spricht, dass sich die anderen bei nächster Gelegenheit ein größeres Stückchen ergattern.
Können Ökonomen bei dieser Problematik Hilfestellung leisten? Wirtschaftliches Wachstum bringt Bewegung ins gesellschaftliche Gefüge und eröffnet damit neuen Handlungsspielraum für soziale und ökologische Veränderungen. Wenn wirtschaftliches Wachsen als Katalysator für sozialen und ökologischen Fortschritt verstanden wird, dann bleibt Wachstum für eine positive Entwicklung der Gesellschaft unumgänglich. Die Herausforderung der optimalen Allokation der begrenzten Ressourcen bleibt also weiterhin bestehen und damit Aufgabe der Wirtschaftswissenschaftler. Auf der normativen Ebene, auf der diskutiert wird, welche positiven Veränderungen auf welche Art und Weise zu verwirklichen sind, müssen sich jedoch andere Gehör verschaffen. Es gilt nicht, die Ökonomen von ihrem hoheitlichen Thron des Wirtschaftens zu stoßen, sondern sie auf diesen zurück zu schicken, wenn sie sich Deutungshoheiten über soziale und gesellschaftliche Fragestellungen herausnehmen.