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polar #9: Fortschritt



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

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AUFBRUCH

 
Petra Hauffe/Judith Karcher
Stillstand ist der Tod
Worauf beruht das Postulat des steten Wachstums?
 
Isa Jahnke/Dorothea Voss-Dahm
Ambivalente Wirkungen
Digitale Demenz versus Kreativitätspotenziale
 
»Die Idee des Virtuellen ist zerplatzt«
Interview Geert Lovink
 
Justus SchĂĽtze
Power from the people
Energetischer Fortschritt fĂĽr alle
 
Rebecca Harms
Das WĂĽstenstromprojekt
Warum ökologischer und sozialer Fortschritt solare Großkraftwerke braucht
 
Neue Berliner Sprachkritik
Der wahre Text: >Krönung der Schöpfung<
 
Jan Fuhse
Unsterblichkeit im Cyber-Space
Zur Konstruktion von technischem Fortschritt in der Science Fiction
 
 

Michael Makropoulos

Der Raum des Fortschritts

Architekturmoderne und Massenmotorisierung


Auch wenn das meiste, was einmal ein Fortschritt war, heute schon wieder verworfen, kritisiert oder zumindest mit Skepsis betrachtet wird: Es gab den Fortschritt, er war spürbar, er war erfahrbar und er war sogar messbar – in Metern oder in Kilometern, in Quadrat- oder in Kubikmetern, in Celsius- oder in Fahrenheitsgraden, in Watt und Lux, in Stunden, Minuten und Sekunden und nicht zuletzt in einer Maßeinheit, die so ungenau ist, dass sie zur absoluten Maßeinheit wird, nämlich Freiheit, ausgedrückt in Mobilität.

Dass der messbare Fortschritt nicht der moralische Fortschritt des Menschen war, den sich die Aufklärung erhofft hat, die den Fortschritt als Perfektibilität konzipierte und damit zum konkurrenzlosen geschichtsphilosophischen Orientierungspunkt im politischen Horizont normativer Menschenführung machte, schmälert die Sache nicht. Diesseits geschichtsphilosophischer Perfektibilitätsmetaphysiken hatte der Fortschritt schließlich von Beginn an etwas Konkretes und Materielles. Fortschritt bedeutete vor allem Steigerung der Lebensqualität durch Technisierung der Lebenswelt – und das weit über die immer wieder kulturkritisch verballhornten Kühlschränke, Fernsehapparate oder Mittelklassewagen hinaus. Fortschritt realisierte sich nämlich als objektvermittelte Erweiterung alter und Erfindung neuer Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, in denen sich die neuzeitliche Idee des selbstmächtigen Bessermachens – wie man den Begriff des Fortschritts definieren könnte – so unabweisbar manifestierte wie nirgends sonst. Das gab dem Fortschritt stets etwas Situatives und Extrapolatives, etwas, das diesseits des Absoluten lag und das weniger mit Utopie und mehr mit Optimierung zu tun hatte. Deshalb hatte Fortschritt im strikten Sinne auch kein fixierbares Ziel. Fortschritt – so ließe sich vielleicht seine technologische Dimension mit seiner anthropologischen in eine analytische Verschränkung bringen – bestand dort, wo er konkret wurde, in der organisierten Herstellung funktionierender Infrastrukturen der individuellen Selbstentfaltung, die auf allgemeine Nutzung angelegt waren. Dafür steht vor allen anderen das raumorganisatorische Projekt der Moderne mit seiner funktionellen Synthese von standardisierter Massenarchitektur und individualisierter Massenmobilität.

Dieses Projekt hatte mindestens drei Aspekte. Es war zunächst einmal die praktische Antwort auf die Krise der traditionellen Stadt nach den Industrialisierungsund Migrationsschüben des 19. Jahrhunderts, die zur heillosen Überbevölkerung der alten städtischen Quartiere und zu katastrophalen Wohn- und Lebensverhältnissen für große Bevölkerungsgruppen geführt hatten – mit kaum vorstellbaren hygienischen und mit dramatischen sozialen und politischen Problemen. Das raumorganisatorische Projekt der Moderne war aber auch eine konzeptuelle Antwort auf die Destrukturierung traditionaler Vergesellschaftung mit ihren akuten Integrationsproblemen in den Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts: Obwohl die demiurgischen Utopien klassisch-moderner Urbanisten mit autoritärem Pathos vorgetragen wurden und nicht selten erziehungsdiktatorische Optionen verfolgten, war die Verschränkung von Architekturmoderne und Massenmotorisierung das allgemeine Modell einer anonymen objektvermittelten Vergesellschaftung, die keiner autoritativen Instanz der Ordnungsstiftung bedurfte, weil sie Organisationsprozesse ermöglichte, die sich aus kommunikativen Strukturen generierten, die kein integrierendes Zentrum hatten. Nicht zuletzt war das raumorganisatorische Projekt der Moderne allerdings auch eine spezifische Antwort auf die Frage nach der adäquaten Form einer technisierten Optimierungskultur im weitesten Sinne des Technikbegriffs – eines konstruktivistischen Weltverhältnisses also, dessen ultima ratio nicht die Nachahmung der Natur war, sondern ihre gegennatürliche Überbietung mit wissenschaftlichtechnischen Mitteln. Pars pro toto dieser Optimierungskultur war die funktionelle Stadt, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem radikalen Pathos des totalen Neuanfangs propagiert wurde und als Inbegriff einer wünschbaren artifiziellen Objektivität galt, die sowohl mit den technokratischen Modernisierungserwartungen der tayloristischen und fordistischen Organisationsmodelle korrespondierte als auch mit den funktionalistischen Gestaltungskonzepten der Neuen Sachlichkeit.

Der Rationalismus der Frankfurter Küche
Im Prinzip ging es dabei um die Übertragung rationalisierter Methoden der Organisation betrieblicher Produktionsabläufe auf die gesamte Gesellschaft. Über die industrielle Produktion hinaus zielte das Dispositiv der Rationalisierung damit auf die sozialstaatliche Regulierung des Alltagslebens und auf dessen materielle wie immaterielle Gestaltung durch Architektur und Massenkultur im engeren, kulturindustriellen Sinne des Begriffs. Die Ausweitung und Entgrenzung der Rationalisierung vom Methodenreservoir wissenschaftlich-technischer Produktionsoptimierung zum allgemeinen Dispositiv planerischer Lebensführung zielte damit auf einen Subjektivitätstyp, der auf Selbstoptimierung ausgerichtet war und die anthropologische Weiterführung der industriellen Revolution in die individuellen Selbstverhältnisse bedeutete. Trotz seiner ideologischen Überhöhungen und unbeschadet seiner außermoralischen Outrierungen in den verschiedenen totalitären Politiken der Zwischenkriegszeit, stand der Funktionalismus daher für das Projekt einer materiellen, nämlich objektvermittelten Rationalisierung des Alltagslebens, die im Kontext sozialreformerischer Strategien erklärtermaßen in emanzipatorischer Absicht betrieben wurde. Das funktionalistische Design von Alltagsgegenständen, der geometrische Purismus des industrialisierten Bauens und die glatten Fassaden der neusachlichen Modellbauten sind hier allerdings nur Oberflächenphänomene. Wichtiger waren strukturbildende Innovationen, die die alltägliche Lebensführung veränderten, wie etwa die systematische Taylorisierung der Hausarbeit im Kontext des Neuen Bauens, die ihren vielleicht bemerkenswertesten Ausdruck in der spezialisierten, durchrationalisierten und bis ins letzte Detail funktional durchgestalteten Frankfurter Küche fand, die nicht nur das Vorbild der späteren monofunktionalen Einbauküchen in sämtlichen Neubauten der Nachkriegszeit war, sondern auch ein Paradigma objektvermittelter Sozialisation, weil sie die politische Idee der weiblichen Emanzipation an das sozialtechnische Prinzip disziplinärer Rationalisierung des Verhaltens koppelte. Dass die räumliche Konditionierung der elementaren Lebensvollzüge dementsprechend fortschrittslogisch als Gewinn an Freizeit und damit an Lebensqualität positiviert wurde, versteht sich in der Logik einer emanzipatorischen Optimierungskultur dann beinahe von selbst.

Allgemeines Ziel der funktionalistischen Raumorganisation war die rationale Neustrukturierung der städtischen Funktionen nach Maßgabe verkehrstechnischer, produktionstechnischer und ökonomischer Effizienz, wobei das grundlegende Prinzip der Funktionstrennung, die sich in der räumlichen Struktur objektiviert, zwei einander wechselseitig konstituierende Aspekte hatte. Einerseits war die Funktionstrennung gleichsam die strukturelle Garantie für die dauerhafte Differenzierung und die autonome, eigenlogische Entfaltung einzelner Funktionen; andererseits war die Funktionstrennung aber zugleich die Bedingung für die Möglichkeit der artifiziellen Kombination, Konstellation und Verschränkung dieser Funktionen zum komplexen interdependenten Ganzen einer abstrakten und dennoch materiellen Realität, die durch ihre Organisiertheit mehr sein sollte als die Summe ihrer konkreten Realien. Entscheidend für die praktische Integration dieser artifiziellen Realität war das Prinzip der Standardisierung ihrer Elemente als Bedingung für die Möglichkeit ihrer umfassenden Neuorganisation nach Kriterien der funktionalen Passung – wobei es nicht unwichtig ist, dass diese Kriterien nicht zweckrational waren, wie sich verdinglichungstheoretisch denken ließe, sondern verfahrensrational. Standardisierung war daher alles andere als ein nivellierendes oder homogenisierendes Verfahren; Standardisierung war vielmehr der Versuch, die Realitätsproduktion auf ein durchgehend höchstmögliches und gleichzeitig generalisierbares Formniveau zu heben, indem der Konstruktion materieller Wirklichkeit eine elaborierte und weitestgehend freie Kombinatorik normierter Elemente zugrundegelegt wurde. Standardisierung bedeutete deshalb gerade nicht Vereinheitlichung, sondern maximale Vielfalt der Kombinationen bei gleichzeitiger maximaler Anschlussfähigkeit der Elemente. Und Urbanismus wurde damit programmatisch zu einem Medium, also zu einer konstituierenden Modalstruktur sozialer Wirklichkeiten, in deren Zentrum die funktionale Anschlussfähigkeit standardisierter Elemente als gesellschaftliches Organisationsprinzip und als individuelle Verhaltensdisposition stand.

Gebaute Mittelschichtgesellschaft
Mit diesem kombinatorisch-kommunikativen Dispositiv korrespondierte die Mobilisierung, Dynamisierung und Flexibilisierung aller Abläufe und Verhaltensweisen, die von der funktionalen Differenzierung strukturell erzwungen wurde. Und vielleicht etabliert funktionale Differenzierung aus diesem Grund nicht nur eine geradezu strukturell garantierte Freiheit in einer Gesellschaft, sondern auch den strukturellen Zwang zur materiellen wie immateriellen Kommunikation. Daher der Primat des Verkehrs im funktionellen Raum, oder genauer, des technisch gestützten, infrastrukturell beschleunigten und vor allem individuell organisierten Verkehrs. Daher auch die zunächst nur erträumte, dann vehement betriebene und am Ende fast schrankenlos realisierte Massenmotorisierung samt ihrer verschiedenen Infra- und Parastrukturen, die als zentraler Bestandteil der industriellen Massenkultur der Moderne zugleich zu einer der wirksamsten Tendenzen weitgehender Technisierung des Alltags im 20. Jahrhundert werden sollte. Diese industrielle Massenkultur, deren zentrales Element die motorisierte Massenmobilität war, die seit den 20er Jahren propagiert und bis zu den 70er Jahren mit Nachdruck und quer durch die verschiedenen politischen Regime hindurch nach und nach auch realisiert wurde, erforderte nicht nur die individuelle Einübung in die Beherrschung vergleichsweise komplexer Technik, sondern auch die kollektive Einübung in die spezifischen infrastrukturellen Erfordernisse ihrer massenweisen alltäglichen Nutzung. Dazu gehörte die Konditionierung der menschlichen Wahrnehmung auf abstrakte Zeichen, deren Inbegriff die Piktogramme sind, ohne die sich heute wahrscheinlich niemand mehr im Alltag orientieren könnte. Dass dies nichts Geringeres als die alltägliche Diffusion der abstrakten Malerei der Klassischen Moderne in die visuelle Kultur der mobilitätsorganisierenden Zeichenwelten bedeutet, ist vielleicht nicht der unwichtigste soziale Effekt der ästhetischen Avantgarden und ein Musterbeispiel für die Ästhetisierung des Sozialen im 20. Jahrhundert. Dazu gehörte aber auch die Konditionierung des menschlichen Verhaltens auf arbiträre, den Prinzipien technisierter und beschleunigter Mobilität entsprechende Regeln im urbanen Straßenverkehr und im regionalen wie überregionalen motorisierten Fernverkehr, der bemerkenswerterweise ausgerechnet im »Dritten Reich« als massenhafter Individualverkehr konzipiert, propagiert und mit dem Autobahnbau zumindest infrastrukturell auch vorbereitet wurde.

Die funktionelle Stadt sollte bis in die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht nur die hegemoniale urbanistische Doktrin, sondern auch der dominierenDer Ra um des Fortschritts de Phänotyp des sozialen Fortschritts bleiben. Das ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die funktionalistische Massenarchitektur, die die modernen Hochhaussiedlungen prägt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West entstanden sind, lange Zeit die einzige praktikable Möglichkeit bot, die Wohnqualität großer Populationen in kurzer Zeit entscheidend zu verbessern, ohne die Landschaft zugleich rücksichtslos zu zersiedeln. Der Architekturfunktionalismus war deshalb nicht nur ein essentieller Bestandteil der technokratischen Versuche sozialer Optimierung im Horizont umfassender und nicht selten totalitärer Rationalisierungstendenzen der Zwischenkriegszeit; der Architekturfunktionalismus wurde vielmehr in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg und im Verbund mit seinen infrastrukturellen Ergänzungen weithin zur materiellen Form einer gesellschaftlichen Modernisierung, die zumal in Westdeutschland im politischen Horizont sozialstaatlicher Demokratisierung stattfand und im doppelten Sinne auf Mobilität gegründet war, weil sie die Entgrenzung der individuellen Erfahrung durch räumliche Mobilität optimierungslogisch mit der Statuskontingenz einer Mittelschichtgesellschaft verschränkte, die den Fortschritt mit sozialer Mobilität und vor allem mit massenhaftem sozialem Aufstieg identifizierte. 



 
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