Eine historische Betrachtung, was den schillernden Begriff der »Linken« zusammenhalten könnte, kommt ohne den Begriff »Fortschritt« nicht aus. Die Idee von der gesellschaftlichen Veränderung zum Besseren ist geradezu konstitutiv für die verschiedenen Etappen und Ausprägungen linker Theorie und Praxis – in ihren hellsten wie auch in ihren dunkelsten Phasen. Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Eine andere, eine bessere Welt ist möglich.
Left is the new conservatism?
Hält man sich dies vor Augen, so wird erst das ganze Ausmaß der Verunsicherung und der Krise deutlich, in der sich die gesellschaftliche Linke heute befindet. Verdrehte Welt. Es sind heute nicht nur, aber auch und gerade linke Milieus, die ein tiefes Misstrauen gegen gesellschaftliche Veränderung mobilisieren. Begriffe wie »Reform« oder »Modernisierung« verweisen aus dieser Sicht auf eine unheilvolle Dynamik, gegen die man sich sträubt und zunehmend auch zur Wehr setzt. Linke Politik heute heißt vielfach die Verteidigung des Status quo gegen Veränderung. Wenn man das Rad schon nicht zurückdrehen könne in ein goldenes Zeitalter des Früher, so solle doch bitte wenigstens alles so bleiben wie es ist. Left is the new conservatism?
So falsch dieser Paradigmenwechsel im Ergebnis sein mag, so hat er doch Gründe, die auf der Hand liegen. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben dem linken Fortschrittsoptimismus einen schweren Schlag versetzt. Und da wo die Linke ungebrochen an Vollstreckung der Geschichte festhielt, waren Gulag und Stacheldraht nicht weit.
Hinzu kommen für die bundesrepublikanische Linke die Reformerfahrungen der rot-grünen Jahre im neuen Jahrtausend, an welchen sie sich (auf unterschiedliche Weisen) bis heute abarbeitet. So richtig und wichtig zahlreiche Schritte auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik waren, die damalige Modernisierungsrhetorik hatte in der Tat etwas Hohldrehendes, Ungerichtetes, das zu Recht zunehmend auf Unverständnis stieß. Im Rahmen des allgemeinen Hyper-Pragmatismus fehlte vielfach das nachvollziehbare Ziel, die nachvollziehbare Richtung, kurz: eine 24 polar 9 Peter Siller »Philosophie« und auch eine dazu gehörige »Erzählung«. Es ist in gewisser Weise die Tragik dieser Jahre, dass Rot-Grün zu dieser »Philosophie« zu wenig Kraft hatte. Menschen lassen sich auf Dauer nur bewegen, wenn sie wissen, wohin die Reise gehen soll. Und Pragmatismus ist nur dann eine Tugend, wenn er sich an Zielen und Grundsätzen messen lässt. Möglicherweise beruhte die beschriebene Tragik tiefenpsychologisch auf dem Trauma der langen Kohl-Jahre, auf die man mit einer Art Überkompensation reagierte. Nach dem Dornröschenschlaf der achtziger und neunziger Jahre war nicht nur der Handlungsdruck für Rot-Grün enorm, sondern auch die Unsicherheit, denn die konzeptionelle und programmatische Vorarbeit hielt sich – gerade bei der SPD – doch sehr in Grenzen. Und so wollte man sich wohl absichern, indem man die Konservativen mit den eigenen Waffen schlug: noch pragmatischer, noch dynamischer, noch bessere Anzüge. Der Zeitgeist der neunziger tat sein Übriges.
Modernisierungslinke und Linkskonservatismus
So verständlich also die Gründe für die Entstehung des linken Konservatismus der Gegenwart sein mögen, so kritikwürdig ist diese Entwicklung gleichwohl. Unsere Gesellschaft (und nicht nur die) braucht eine neue Idee von Fortschritt, denn Veränderung zum Besseren ist in vielen Bereichen nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Eine Linke, die eine solche Idee nicht formuliert, verfehlt nicht nur eine ihrer zentralen Aufgaben, sondern darüber hinaus auch die Herzen und Köpfe der UnterstützerInnen und WählerInnen, auf die sie angewiesen ist. Welche Effekte ein gerichteter Optimismus der Veränderung zeitigen kann, hat Obama – bei allen weiteren Faktoren – der westeuropäischen Linken eindrucksvoll vorgeführt. Es ist deshalb an der Zeit, den Anspruch und die Konturen einer »Modernisierungslinken« neu zu formulieren, auch in einer produktiven Auseinandersetzung mit dem herrschenden Linkskonservatismus. Ergebnis sollte dabei nicht die bloße Verfestigung der Fronten sein, sondern ein dynamischer Prozess, der berechtigte Ängste und Sorgen aufnimmt und den Menschen so erst einen neuen Optimismus der Veränderung zum Besseren eröffnet.
Reflexiver Fortschritt: Eine Neuformulierung progressiver Politik
Wir müssen heute also neu über »Fortschritt«, über »progressive Politik« nachdenken, auch in den Kategorien von »Modernisierung« und »Reform«. Dieser Ansatz hat jedoch nur dann eine Berechtigung und Aussicht auf Erfolg, wenn er sich zugleich auf eine vertiefende Auseinandersetzung über diese Begriffe einlässt, aus Fehlern lernt und ihnen Kontur und Richtung gibt. Ein nostalgischer Rückgriff auf einen ungebrochenen Fortschrittsgedanken ist normativ falsch und strategisch zum Scheitern verurteilt. Diese Suchbewegung, die einen Fortschrittsgedanken mit Kontur und Richtung verbindet, ist gerade aus zwei Gründen so dringend:
Zum einen mobilisiert sich in SPD und Grünen – in Gegenreaktion auf die allgemeine Linksverschiebung in den jeweiligen Parteien – schon wieder ein Pragmatismus, der Begriffe wie »Fortschritt« oder »progressive Politik« nur als leere Signifikanten verwendet. »Fortschritt« wird so wieder nur zu einem rhetorischen Instrument, um beliebige Anliegen etwa im wirtschaftspolitischen Bereich mit Appeal zu versehen. Der Aufruf etwa, dass sich die »progressiven Kräfte« über die Parteigrenzen hinweg zusammentun müssten, bleibt so lange völlig leer, bis nicht zumindest in Umrissen geklärt ist, an welchen Zielen und Grundsätzen dieser Fortschritt zu messen ist.
Zum anderen gibt es in der traditionalistischen Linken Ansätze, den beschriebenen Linkskonservatismus zumindest wieder mit einem linken Fortschrittsgedanken zu ergänzen, der sich die Mühe einer neuen Konturierung und Ausrichtung erst gar nicht macht und so tut, als gebe es dabei keine zu bewältigenden Fragen und Probleme. Konzepte? Kompromisse? Bündnispartner? Fehlanzeige. So wenig ein blinder Pragmatismus für links-progressive Politik taugt, so wenig taugen groß verschlagwortete Ziele ohne Route und Wegbegleiter.
Sozialer Fortschritt: Gleiche Freiheit und neue Institutionenpolitik
Im Zentrum einer links-progressiven Politik muss dabei die Idee des sozialen Fortschritts stehen. Das ist der tiefe Grund, warum wir Veränderung wollen: Eine Verbesserung der Ausgangs- und Lebensbedingungen für die Menschen. Ganz einfach. Und doch so kompliziert, denn wir befinden uns bereits mitten in der Auseinandersetzung um die Auffassungen und Konzepte von sozialer Gerechtigkeit, die an dieser Stelle nicht nochmals aufgerollt werden können. Fest steht: Es reicht nicht aus, von »sozialem Fortschritt« zu sprechen, sondern es muss schon klarer werden, worin die soziale Idee bestehen und wohin die Reise gehen soll. Eine Hauptaufgabe für die Reformulierung des Fortschrittsgedankens muss dabei darin bestehen, Gleichheit und Freiheit in Bezug zu setzen und damit egalitäre und liberale Auffassungen zu verbinden. Fortschritt hin zu gleichen realen Verwirklichungschancen aller, Fortschritt mit Blick auf die reale Chance, das eigene Leben zu leben. Fortschritt als echter Fortschritt auch für nachfolgende Generationen, auch für Menschen in anderen Regionen des Planeten. Das führt zu einer Idee von institutionellem Fortschritt, der die Möglichkeit zu Selbstverwirklichung und Teilhabe für alle überhaupt erst schafft. Eine Neufassung des Fortschrittsbegriffs muss auf offene, durchlässige und partizipatorische öffentliche Institutionen zielen. Öffentliche Institutionen nicht zur Exekution vermeintlichen Fortschritts, sondern als Orte der gemeinsamen Verständigung, Ermöglichung und Unterstützung.
Technologischer Fortschritt: Eine dritte, grüne industrielle Revolution
Eine zentrale und neu zu verhandelnde Dimension links-progressiver Politik ist die Frage des technologischen Fortschritts. Der Gedanke der Produktivitätssteigerung durch technologischen Fortschritt, einer entsprechenden Mehrung des allgemeinen Wohlstands und einer entsprechenden Entlastung der menschlichen Arbeitskraft steht im Mittelpunkt der Fortschrittsidee bei Marx wie auch im weiteren Verlauf linker Fortschrittserzählungen. Eben diese Hoffnung auf sozialen, emanzipatorischen Fortschritt durch technologische Entwicklung hat in Teilen der Linken – gerade im grünen Milieu – einen schweren Knacks bekommen. Von der Unbeherrschbarkeit der Atomenergie über die Klimazerstörung bis hin zur Herausbildung moderner Herrschaftstechnologien war es ab den siebziger Jahren eher die Kritik am technologischen Fortschrittsgedanken, die den grünen Teil der undogmatischen Linken prägte. Und in der Tat: Die brachiale Gewalt, die von einer blinden, ungerichteten Politik des technologischen Fortschritts ausgehen kann, ist nicht zu bestreiten. Die in Beton gegossenen sozialdemokratischen Innenstadt-Sanierungen der siebziger Jahre sind ein kleines Beispiel für die Narben eines ungerichteten technologischen Fortschrittsgedankens. Die Macht der Atomlobby, die Zerstörung des Klimas, aber auch etwa der Verlust städtischer Räume an das Auto sind Gravierendere. Hinzu kommt, dass der technologische Fortschritt auch jenseits der ökologischen Frage sein emanzipatorisches Versprechen nicht durchgängig eingelöst hat: Das Korsett der Arbeitsteilung lockerte sich in bestimmten Bereichen nicht, sondern spitzte sich zu: Billigjobs für die einen, Kreativjobs für die anderen, und am Fließband und in den Sweatjobs dürfen sich die Menschen in den armen Ländern verdingen.
All das ist wahr und bei einer Neuformulierung einer Idee vom technologischen Fortschritt zu berücksichtigen. Gleichwohl wäre es ein schwerer Fehler, wenn eine progressive Linke auf eine solche Idee verzichten würde.
Zum ersten sollten wir nicht vergessen, dass all der Wohlstand und die Partizipationsmöglichkeiten unserer Gesellschaft unter anderem auf technologischem Fortschritt basieren – von der Energiegewinnung über die industrielle Rationalisierung bis hin zu den Mobilitätstechnologien. Das alles ist insbesondere Voraussetzung für jene Massenproduktion und massenhafte Verbreitung, die eine Partizipation aller oder zumindest sehr vieler an Wohlstand und öffentlichen Gütern überhaupt erst ermöglichte und ermöglicht. Was eine solche Entwicklung bedeutet, können wir gerade am Aufstieg von Schwellenländern wie China oder Indien nochmals eindrucksvoll nachvollziehen.
Zum zweiten ist völlig klar, dass wir die dramatischen ökologischen Probleme auf der Grundlage einer freiheitlichen, wohlhabenden und demokratischen Gesellschaft gar nicht lösen können, ohne auch auf einen starken, wirkmächtigen Gedanken technologischen Fortschritts zu setzen. Gegen die Umstellung der Gesellschaften auf regenerative Energien ist die Mondlandung ein Treppenwitz der Fortschrittsgeschichte. Und es gilt dafür nicht nur starke Bilder zu finden, sondern diesen Anspruch auch technologie- und industriepolitisch in Angriff zu nehmen. Die dritte – grüne – industrielle Revolution steht nach wie vor aus und auch die mutigen politischen Schritte, die diese begleiten.
Zum dritten ist es ein Fehlschluss, die uneingelösten emanzipatorischen Versprechen technologischen Fortschritts mit der Verabschiedung der Idee des technologischen Fortschritts zu beantworten. Auch wenn Gerechtigkeit (mit Rawls) Markt, bestimmte Ungleichheiten und Arbeitsteilung voraussetzt, so bleibt doch der Anspruch gültig, allen möglichst gleiche reale Verwirklichungschancen einzuräumen. Technologischer Fortschritt muss also nach wie vor mit dem Anspruch sozialen Fortschritts im Sinne gleicher realer Teilhabechancen einhergehen. Wir dürfen uns mit der bestehenden Schichtengesellschaft nicht arrangieren. Ziel muss die Integration aller in die sozioökonomische Mitte unserer Gesellschaft sein. Daran ist gerade jener Teil der Mittelschicht in SPD und Grünen zu erinnern, der gerade dabei ist, einen Zaun um die liebgewordene Bürgerlichkeit zu bauen. Sozialer Fortschritt zielt in diesem Zusammenhang auch auf ökologische Gerechtigkeit, also auf eine möglichst gerechte Lastenteilung und auf möglichst gleiche Lebensbedingungen etwa mit Blick auf Mobilität, Gesundheit etc. Dieser Anspruch auf eine gerechte Verteilung der Produktivitätsgewinne durch technologischen Fortschritt gilt – bei allen Schwierigkeiten – auch im internationalen Raum. Weder die Mittelschichten der heutigen noch der zukünftigen Schwellenländer werden sich den erkämpften Wohlstand in irgendeiner Weise streitig machen lassen, und sie müssen es auch nicht, wenn wir eine starke Vorstellung von (öko-)technologischem Fortschritt und sozialem Fortschritt verbinden – begleitet durch eine entsprechende rechtliche und auch kulturelle Entwicklung.
Demokratischer Fortschritt: Mehr Mitsprache und Repräsentation
Schließlich muss sich ein reformulierter Fortschrittsgedanke auch auf die Demokratiefrage beziehen. Entgegen den verbreiteten Abgesängen auf die Steuerungskraft der Demokratie geht es hier darum, die Potenziale und Wege einer Veränderung hin zu mehr Mitsprache und Repräsentation aufzuzeigen. Wir brauchen eine neue Debatte über die Zukunft unserer Demokratie. Und demokratischer Fortschritt ist auch im internationalen Raum ein entscheidendes Ziel links-progressiver Politik – bei allen offenen Fragen und Schwierigkeiten. Demokratie ist Menschenrecht. Ziele und Wege des Fortschritts stehen nicht einfach fest, sondern müssen im demokratischen Prozess diskutiert und erstritten werden. Auch die Demokratisierung der Fortschrittsidee selbst gehört zu den Anforderungen an einen wirkmächtigen reflexiven Fortschrittsbegriff.