Das psychische Störungsbild des Borderliners ist durch das paradoxe Anliegen gekennzeichnet, durch ständige zwischenmenschliche Grenzziehungsbemühungen zunehmend zu einer völligen Auflösung gesunder Identitätsgrenzen beizutragen. Damit kann das diffuse Sozialleben des Borderliners als pathogener Prototyp zeitgenössischer Beziehungsmuster gelten.
Lange Zeit bevor das erste Gartencenter am Stadtrand seine Pforten öffnete und die private Grundstückspflege kommerzialisierte, hat Jean-Jaques Rousseau unmissverständlich klargestellt, dass es der heimelige Gartenzaun ist, der das Sinnbild eines Gesellschaftssystems darstellt, das auf selbstsüchtigem Erwerb beruht: »Der erste, der ein Stück Land umzäunte und sich erkühnte zu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der Gesellschaft.« Mit diesem landschaftsarchitektonischen Sündenfall, der zugleich ein Akt privater Aneignung und öffentlicher Abgrenzung ist, wird den modernen kapitalistischen Eigentumsverhältnissen der Weg geebnet. Und so fährt Rousseau in weiser Voraussicht fort: »Welche Verbrechen, wie viele Kriege, Morde und Greuel, wieviel Elend hätten dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn einer die Pfähle ausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Glaubt diesem Betrüger nicht! Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört!«
Unter den heutigen Bedingungen der kapitalistischen Spätmoderne symbolisiert und vertuscht der Gartenzaun das Panikaufkommen einer überaus weit verbreiteten mehrstelligen Relation: Person X zieht demonstrativ eine Grenze um sich, ihren Besitz und ihre darin eingehegte Freiheit, damit Person Y und jeder beliebige Zeuge Z wissen, wo genau die Grenzen von X liegen, die zugleich auch Grenzen der Freiheit von Y und Z sind. Spätmoderne Individualisierung vollzieht sich somit auf dem Wege der Demarkation. Und in der prototypischen Situation demonstrativer Gartenarbeit soll eine Barriere aus Holz oder auch Maschendraht die Verschmelzung von Eigentum, Freiheitsräumen und Verantwortlichkeiten verhindern, die um jeden Preis auseinandergehalten werden müssen, wenn spätmoderne Individualität samt des auf identitätsstiftendem Erwerb basierenden Wirtschaftssystems aufrechterhalten werden soll. Tauschverhältnisse brauchen klare Zuordnungen, damit sich das Selbst konturieren kann. Und die schleichende Furcht des Grundstücksbesitzers vor dem Verschwimmen der eigenen Identitäts- und Eigentumsgrenze geht unmittelbar auf eine geradezu hysterische Sorge vor invasiven Grenzübertritten zurück. Der Gartenzaun ist, tiefenpsychologisch gesehen, ein Medium von Verlust- und Signalangst zugleich und damit phobischer Ausdruck spätmoderner Eigentumsverhältnisse: Er trennt, was nicht zusammengehört, indem er ein- und zugleich ausgrenzt. [...] |