Liebe Leserin, Lieber Leser, Über die Endlichkeit - und was aus ihr folgt - nachzudenken und zu sprechen ist wahrscheinlich eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft. Niemand will sie an sich heranlassen. Niemand sich mit ihr befassen. Zumindest solange, bis sie bei Angehörigen, Freunden oder einem selbst anklopft. Und so vertagen wir das Leben, unsere Wünsche und Sehnsüchte. Heute nochmals ins Büro. Morgen ist auch noch ein Tag. Wirklich?
Sich den Tod schönreden ist eine Möglichkeit: Schritt ins ewige Leben, ewige Widerkehr, etwas schaffen, das bleibt. Ihm Rechnung zu tragen eine andere. Dann lautet die entscheidende Frage: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Und was müssen wir dafür tun, was lassen? Der Tod als Aufruf zu leben.
Auch wenn die religiösen Gewissheiten zerbrochen sind, tun wir noch immer so, als gäbe es kein Ende. Rüstige Rentner sterben auf dem Golfplatz als gäbe es immer noch einen nächsten Schlag. Und selbst in der praktischen Philosophie ist der Tod bestenfalls eine Marginalie. Und so wird der Tod allenfalls in Nachreden zum Politikum. Oder in ethischen Grenzbereichen, etwa bei Sterbehilfe oder Patientenverfügung.
Dabei macht es doch einen Unterschied ums Ganze, ob wir vergehen oder ob wir ewig leben. Man muss nicht wie Elias Canetti dem Tod den Krieg erklären um zu begreifen: Du hast nur dies eine Leben. Und wir sollten uns darüber austauschen, was daraus folgt - individuell, im engen Kreis, aber auch gesellschaftlich und politisch. Fragen wir also nochmals philosophisch nach dem Skandal des Todes und wie wir mit ihm umgehen sollen. Fragen wir politisch nach einer Lebensführung und einer Gesellschaft, die dem Memento Mori Rechnung trägt. Und wo Philosophie und Politik schweigen: Schauen wir auf die Kunst als Bearbeiterin dieser Fragen. Auch hier erwies sich Christoph Schlingensief noch einmal als großer Aufklärer unserer Zeit.
Eine Absage an die Unbegreifbarkeit des Todes eröffnet das Heft in dem philosophisch kritischen Beitrag Héctor Wittwers (S. 9). In der Unterscheidung dreier unterschiedlicher Bezugnahmen auf den Tod stellt Anja Kauppert aus soziologischer Perspektive (S. 15) die Frage nach der gelebten Gegenwärtigkeit des Todes, die in kulturwissenschaftlichen Beobachtungen zum Schlaf wiederkehrt (S. 117), sich in politischer Hinsicht zum Aufruf nach einer neuen Kultur des Sterbens (S. 91) sowie in einem Plädoyer für das Leben vor dem Tod im Angesicht der Endlichkeit (S. 47) vertieft.
Nicht nur über den Tod, sondern auch über das Sterben zu sprechen bedeutet, in das Feld sozialer Bezüge einzutreten: Anstelle einer Tabuisierung unterscheidet Irmhild Saake unterschiedliche Gegenwarten in der Symmetrisierung des Verhältnisses zwischen Sterbenden und Nicht-Sterbenden (S. 25). Zugleich steht die Politik vor der Herausforderung, lebensverlängernde Maßnahmen in die Gerechtigkeitsfrage mit einzubeziehen (S. 97) und biopolitische Positionen etwa mit Blick auf den Hirntod erneut in Frage zu stellen (S. 19). Die verschwimmende Grenze vom messbaren Tod und seiner ethischen Herausforderung begegnet in anderer Weise in Francisco J. Vargas Erfahrung der Transplantation (S. 33), in der er das Verhältnis auslotet zwischen Fremdheit, Intimität und dem wiedergewonnenen Leben.
In diskursiver Weise erscheint der Tod als Phänomen des politischen Protestes (S. 73) und als ein postheroisches Unbehagen im Umgang mit dem Soldatentod in Deutschland heute (S. 109). Mit Heiner Müller (S. 121) und Einar Schleef (S. 80) stellen wir die Frage nach Tod und Gesellschaft sowohl an die DDR als auch an die BRD.
Vampire, Zombies, dämonische Wiedergänger: In Kunst und Kultur manifestiert sich eine Rückkehr des Unheimlichen (S. 156). Während in einer Archäologie des Vampirs im Donau-Balkan-Raum die Entscheidung für das Dorfmonster ausfällt (S. 166), schöpft sich der Popstar heute in einer vom Internet erzeugten, posthumanen Ästhetik des Transzendentalen (S. 162).
Ein Heft über den Tod als Skandal und Politikum, über das Leben in der Immanenz, über große und kleine Tode.
Endlich!
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller