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polar #10: Endlich



EDITORIAL

 

Peter Siller, Bertram Keller

Editorial


Liebe Leserin, Lieber Leser,

Über die Endlichkeit - und was aus ihr folgt - nachzudenken und zu sprechen ist wahrscheinlich eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft. Niemand will sie an sich heranlassen. Niemand sich mit ihr befassen. Zumindest solange, bis sie bei Angehörigen, Freunden oder einem selbst anklopft. Und so vertagen wir das Leben, unsere Wünsche und Sehnsüchte. Heute nochmals ins Büro. Morgen ist auch noch ein Tag. Wirklich?

Sich den Tod schönreden ist eine Möglichkeit: Schritt ins ewige Leben, ewige Widerkehr, etwas schaffen, das bleibt. Ihm Rechnung zu tragen eine andere. Dann lautet die entscheidende Frage: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Und was müssen wir dafür tun, was lassen? Der Tod als Aufruf zu leben.

Auch wenn die religiösen Gewissheiten zerbrochen sind, tun wir noch immer so, als gäbe es kein Ende. Rüstige Rentner sterben auf dem Golfplatz als gäbe es immer noch einen nächsten Schlag. Und selbst in der praktischen Philosophie ist der Tod bestenfalls eine Marginalie. Und so wird der Tod allenfalls in Nachreden zum Politikum. Oder in ethischen Grenzbereichen, etwa bei Sterbehilfe oder Patientenverfügung.

Dabei macht es doch einen Unterschied ums Ganze, ob wir vergehen oder ob wir ewig leben. Man muss nicht wie Elias Canetti dem Tod den Krieg erklären um zu begreifen: Du hast nur dies eine Leben. Und wir sollten uns darüber austauschen, was daraus folgt - individuell, im engen Kreis, aber auch gesellschaftlich und politisch. Fragen wir also nochmals philosophisch nach dem Skandal des Todes und wie wir mit ihm umgehen sollen. Fragen wir politisch nach einer Lebensführung und einer Gesellschaft, die dem Memento Mori Rechnung trägt. Und wo Philosophie und Politik schweigen: Schauen wir auf die Kunst als Bearbeiterin dieser Fragen. Auch hier erwies sich Christoph Schlingensief noch einmal als großer Aufklärer unserer Zeit.

Eine Absage an die Unbegreifbarkeit des Todes eröffnet das Heft in dem philosophisch kritischen Beitrag Héctor Wittwers (S. 9). In der Unterscheidung dreier unterschiedlicher Bezugnahmen auf den Tod stellt Anja Kauppert aus soziologischer Perspektive (S. 15) die Frage nach der gelebten Gegenwärtigkeit des Todes, die in kulturwissenschaftlichen Beobachtungen zum Schlaf wiederkehrt (S. 117), sich in politischer Hinsicht zum Aufruf nach einer neuen Kultur des Sterbens (S. 91) sowie in einem Plädoyer für das Leben vor dem Tod im Angesicht der Endlichkeit (S. 47) vertieft.

Nicht nur über den Tod, sondern auch über das Sterben zu sprechen bedeutet, in das Feld sozialer Bezüge einzutreten: Anstelle einer Tabuisierung unterscheidet Irmhild Saake unterschiedliche Gegenwarten in der Symmetrisierung des Verhältnisses zwischen Sterbenden und Nicht-Sterbenden (S. 25). Zugleich steht die Politik vor der Herausforderung, lebensverlängernde Maßnahmen in die Gerechtigkeitsfrage mit einzubeziehen (S. 97) und biopolitische Positionen etwa mit Blick auf den Hirntod erneut in Frage zu stellen (S. 19). Die verschwimmende Grenze vom messbaren Tod und seiner ethischen Herausforderung begegnet in anderer Weise in Francisco J. Vargas Erfahrung der Transplantation (S. 33), in der er das Verhältnis auslotet zwischen Fremdheit, Intimität und dem wiedergewonnenen Leben.

In diskursiver Weise erscheint der Tod als Phänomen des politischen Protestes (S. 73) und als ein postheroisches Unbehagen im Umgang mit dem Soldatentod in Deutschland heute (S. 109). Mit Heiner Müller (S. 121) und Einar Schleef (S. 80) stellen wir die Frage nach Tod und Gesellschaft sowohl an die DDR als auch an die BRD.

Vampire, Zombies, dämonische Wiedergänger: In Kunst und Kultur manifestiert sich eine Rückkehr des Unheimlichen (S. 156). Während in einer Archäologie des Vampirs im Donau-Balkan-Raum die Entscheidung für das Dorfmonster ausfällt (S. 166), schöpft sich der Popstar heute in einer vom Internet erzeugten, posthumanen Ästhetik des Transzendentalen (S. 162).

Ein Heft über den Tod als Skandal und Politikum, über das Leben in der Immanenz, über große und kleine Tode.

Endlich!

Für die Redaktion

Peter Siller, Bertram Keller




UNBEGREIFLICH

 
HĂ©ctor Wittwer
Ist der Tod unbegreifbar?
Versuch einer philosophischen Aufklärung
 
Anja Kauppert
Der gegenwärtige Tod
Drei Weisen, sich auf den Tod zu beziehen
 
Petra Gehring
Sterbepolitiken
Neuroforschung und Hirntod
 
Irmhild Saake
Die Kultur des Sterbens
Praktiken der Symmetrisierung
 
Francisco J. Varela †
Intime Distanzen
Fragmente einer Phänomenologie der Organtransplantation
 
»Der Tod ist die Kunst des Verschwindens«
Interview Jean Baudrillard
 
Peter Siller
Der letzte Film
Gibt es ein Leben vor dem Tod? Herk Harveys Carnival of Souls
 
Henriette Gunkel
»… after a short illness«
Tod und Endlichkeit in SĂĽdafrika



UNENDLICH

 
Carlos Becker/Benjamin Pfeifer
Niemand stirbt!
Tod und Untergang im politischen Protest
 
Einar Schleef
SCHWARZ ROT GOLD
 
Katrin Göring-Eckardt
Die Letztzeit gestalten
FĂĽr eine neue Kultur des Sterbens
 
Sebastian Knell
Wer bleiben kann
Lebensverlängerung und Gerechtigkeit
 
Corina Salis Gross
Ansteckender Tod
»Rüstige«, »Abgebaute« und »Todeskandidatinnen« in Alters- und Pflegeheimen
 
Anna Geis/Sabine Mannitz
Soldatentod
Ein postheroisches Unbehagen
 
Stefan Huster/Thomas Biebricher/Arnd Pollmann/Nils Saniter
Ist es links?: >Nie wieder Krieg<
 
Anja Finger
Todes Bruder
Schlaf-Bett-BezĂĽge
 
Susann Neuenfeldt
Heiner MĂĽller
Der doppelfüßige Tänzer mit dem Tod
 
Susann Neuenfeldt/Simon Strick
Hallo Karthago/Hallo Rom: >Theatertod<
 
Alban Lefranc
Mein halbes Jahr: >Literatur<
Roberto Bolaño: 2666
 
Johannes von Weizsäcker
Mein halbes Jahr: >Musik<
Toro Y Moi – Best Coast – The Receeders – Nik Kershaw
 
Matthias Dell
Mein halbes Jahr: >Film<
Kinatay – Lola – Machete – Drei – Tod auf dem Hochsitz



UNHEIMLICH

 
»Reden wir über den Tod«
Alexander Kluge im Gespräch mit Christoph Schlingensief
 
Anna-Catharina Gebbers
Der Kampf um das Reale der Gegenwart
Zur Kunst Christoph Schlingensiefs
 
Veit Loers
Those Ghosts
Das Memento Mori der Gegenwart als Wiederkehr des Unheimlichen
 
Jens Balzer
Metaphysik 2.0
Tod und Transzendenz im Witch House
 
Thomas M. Bohn
Popstar oder Dorfmonster?
Vampirismus im Donau-Balkan-Raum
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Grabstein-Shopping<
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Lebensgefahr<



SCHÖNHEITEN

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