Meine Berliner Nachbarin war bei einem ihrer letzten Besuche in Westdeutschland mit ihrer Mutter shoppen. Genauer gesagt: einen Grabstein shoppen. Einen Grabstein für Mama, also die Mutter meiner Nachbarin – nennen wir sie Mama X. Meine Nachbarin ist Einzelkind, ihr Vater lebt nicht mehr; wenn Mama X. sich beraten will in wichtigen Dingen, wendet sie sich an ihre Tochter. Irgendwann vor der Shoppingtour hatte sie angerufen in Berlin. »Wenn ich mal weg bin, hast Du doch eigentlich keinen Grund mehr, nach Westdeutschland zu fahren,« hatte sie ihrer Tochter gesagt – »da wäre es doch Unsinn, hier ein Grab anzuschaffen, in dem ich dann unter dem sich türmenden Laub liege. Lieber will ich anonym begraben werden, unter einem schön gepflegten Rasen.« Mama X. war lange Jahre ihres Lebens allein erziehende Mutter und dabei voll berufstätig. Sie ist eine pragmatische Frau, die ihrer Tochter, wenn es einmal soweit ist, keine Scherereien hinterlassen will. Die aber protestierte: »Nee, Mama, das fänd’ ich komisch mit dem anonymen Grab.« Also hörte Mama X. sich um in ihrer Stadt. Fand heraus, dass man kleine Urnengräber inklusive Pflege ad infinitum kaufen kann und entschied, dies sei das Richtige für sie. Schaute sich ein paar der angebotenen Steine an, die man für diese Gräber braucht, und hatte Beratungsbedarf. »Du, ich kann mich bei den Steinen schlecht entscheiden, können wir da mal hingehen? Du wirst ihn eh öfter sehen als ich,« meinte sie bei ihrem nächsten Anruf in Berlin. Und so kam es, dass Mutter und Tochter shoppen gingen. Sie fanden einen flachen Kiesel, dessen Musterung an die Weltkugel erinnert. »Mama, der passt total gut zu Dir,« befand meine Nachbarin. »Gut, dann nehmen wir den,« entschied Mama X. In den Folgewochen schickten die beiden Schriftproben hin und her und einigten sich auf die bestgeeignete Gravur.
Als meine Nachbarin vor ein paar Wochen ihre Mutter anrief um zu fragen, ob die Geschichte mit dem Grabstein-Shopping in der Zeitung stehen kann, war Mama X. erstaunt. »Na klar, warum denn nicht? Ist doch ganz normal,« sagte sie. Mama X. hat sich schon immer selbst überlegt, was normal ist und was nicht, und dann danach gehandelt. Dass andere Leute den eigenen Tod zum Tabu erklären, ficht sie genauso wenig an wie alles andere was die Leute so sagen. Oder sagen könnten. Oder machen. Oder bleiben lassen. Und ganz allein ist sie mit ihrer Haltung ja zum Glück nicht.
Wer mal Ende Oktober, Anfang November in Mexiko und dort zu einer Party zum día de los muertos, dem Tag der Toten geladen war, hat vielleicht beim Reinkommen einen bunt dekorierten Totenschädel aus Zuckerguss bekommen, der den eigenen Namen auf der Stirn trägt. Oder einen Altar zu Ehren eines geliebten, jedoch bereits verstorbenen Angehörigen bestaunt, auf dem dessen Leibspeise angerichtet war nebst bevorzugtem Schnaps und dem zuletzt gelesenen Buch, aufgeschlagen dort, wo am Schluss das Lesezeichen steckte. Damit er sich freut und zuhause fühlt bei seinem Besuch aus dem Jenseits, mit dem zu rechnen ist Ende Oktober, Anfang November.
Mama X. ist viel gereist in ihrem Leben, in Mexiko war sie allerdings nie. Das ist schade, denn der Tag der Toten mit all seinen Zuckerschädeln, Pappskeletten und bunt geschmückten Altären würde ihr sicher gefallen. Mama X. ist alt, ihr Grabstein bestellt und große Touren wird sie kaum mehr machen können. Es würde allerdings zu ihr passen, wenn sie sich den Tag der Toten und das ihn begleitende Spektakel doch irgendwann noch mal anschauen würde. Auf Besuch aus dem Jenseits, Ende Oktober, Anfang November.
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