Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #10: Endlich



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



UNBEGREIFLICH

 
HĂ©ctor Wittwer
Ist der Tod unbegreifbar?
Versuch einer philosophischen Aufklärung
 
Anja Kauppert
Der gegenwärtige Tod
Drei Weisen, sich auf den Tod zu beziehen
 
Petra Gehring
Sterbepolitiken
Neuroforschung und Hirntod
 
Irmhild Saake
Die Kultur des Sterbens
Praktiken der Symmetrisierung
 
Francisco J. Varela †
Intime Distanzen
Fragmente einer Phänomenologie der Organtransplantation
 
»Der Tod ist die Kunst des Verschwindens«
Interview Jean Baudrillard
 
Peter Siller
Der letzte Film
Gibt es ein Leben vor dem Tod? Herk Harveys Carnival of Souls
 
 

Henriette Gunkel

»… after a short illness«

Tod und Endlichkeit in SĂĽdafrika


»It is with great sadness to announce the tragic death of Sana Dlepo. Miss Dlepo was studying towards a Bachelor of Economics first year. She passed away on the 16th May 2009 after a short illness. May her Soul rest in peace.«

»It is with sadness to announce that Mrs Magalela, has had a series of bereavement in her family. On Tuesday night the 4th 6 people died in a car accident and only one person survived. They are all related. This is a traumatic experience and a carnage that happened.«
(Namen und Daten wurden geändert.)


Nachrichten wie diese werden fast wöchentlich über den Emailverteiler der University of Fort Hare im Eastern Cape Südafrikas versendet. Mit dem Betreff ›Bereavement‹ nimmt die Universität somit offiziell Anteil am Tod von Studenten und Studentinnen und Angestellten bzw. am Tod deren Angehöriger. Man gewöhnt sich an diese Emails, auch an den christlichen Unterton, der einen Großteil dieser E-Kommunikation begleitet. Sie zeigen dennoch deutlich, wie viele Tote es allein an einer einzigen kleinen Universität zu beklagen gibt.

Die beiden Anzeigen unterscheiden sich vor allem in der Beschreibung der Todesursachen. Die erste, die die Mehrheit der ›Bereavements‹ ausmacht, gibt als Todesursache a short illness an, Tod nach kurzer Krankheit. In der anderen Benachrichtigung werden die Hintergründe genauer benannt, in diesem Fall ein Autounfall, der gleich mehrere Familienmitglieder betrifft. Sie steht für eine 2. Art der Ankündigung: bis ins kleinste Detail wird beschrieben, wie die Person, um die getrauert wird, zu Tode gekommen ist. Anders bei der Erstgenannten, die allein daraufhin hinweist, dass die Person krank war vor dem Tode, was gleichzeitig impliziert, dass die Krankheit die Ursache des Todes ist. Und doch hebt sich diese angedeutete Krankheit von anderen, nicht mit Stigma belegten Krankheiten ab, so erinnere ich mich zum Beispiel an eine Todesanzeige, in der ein langwieriger Kampf gegen Krebs detailliert beschrieben wurde – als wollte man deutlich machen, dass der Mensch zwar an einer Krankheit, nicht jedoch an HIV/Aids gestorben ist. After a short illness wird somit zum angenommenen Synonym vom Tod, der im Zusammenhang mit HIV/Aids steht. Doch bei all der vermeintlichen Sicherheit der Aussage schwingt die Unsicherheit zwingend mit, da viele ihren Aids-Status nicht öffentlich gemacht haben; manchmal noch nicht einmal vor sich selbst.

HIV/Aids hat ohne Frage nicht nur ein (Selbst)Verständnis von Ewigkeit untergraben, sondern vor allem die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise gelenkt, wie Tod in Südafrika verhandelt, verstanden und verwaltet wird. Dass Südafrika eine besonders hohe Sterberate hat und somit immer wieder von neuem Spektakel vom Tod und vom Sterben generiert, ist vor allem der Gesundheitspolitik der Regierung unter Thabo Mbeki zuzuschreiben, die nicht nur lange das Ausmaß der Krankheit leugnete, sondern auch den Zusammenhang von HIV und Aids selbst, was unter anderem in einer Verzögerung der lebensnotwendigen Bereitstellung von Antiretroviralen mündete: »People obtained their freedom and fell sick at the same time« (Marcis 2004: 453). In Folge dieser Politik ist es sowohl in urbanen und ländlichen Gebieten geläufig, mehrere Beerdigungen am Wochenende zu besuchen; viele Friedhöfe haben inzwischen ernsthaft Raumprobleme bzw. sind bereits geschlossen (Posel und Gupta 2009).

Es gibt im Kontext Südafrikas viele Wege, sich dem Thema Tod anzunähern. In diesem Artikel konzentriere ich mich auf den bewegten Körper, indem ich die beiden Todesanzeigen der Fort Hare-Mailingliste zusammen bringe. Dabei geht es nicht um den Körper in Bewegung im Sinne der Veränderung und des Verfalls des kranken Körpers. Es geht auch nicht um den initiierten Körper, der sich im Zeitraum zwischen Jugend und Männlichkeit bewegt – ein Ritual inklusive Beschneidung, das jährlich im Schnitt 50 Todesopfer fordert, vor allem im Eastern Cape. Stattdessen interessiert mich, wie Mobilität und Krankheit zusammen hängen; und inwiefern nicht nur verstärkte Mobilität (z.B. während der Feiertage wie gerade über Weihnachten und Silvester) mehr Tote verursacht, z.B. auf den Strassen, sondern andersherum die hohe HIV/Aids Rate zu mehr Mobilität führt und Orte miteinander verbindet – entweder in Annahme des Todes, oder nach dem eingetroffenen Tod.

Ökonomie und Mobilität des Todes
Indem er die Bewegungen und Routen des Aids-kranken und leidenden Körpers in seiner Suche nach Betreuungsangeboten und Zufluchtsorten im metropolen Johannesburg nachzeichnet, räumt Frédéric Le Marcis (2004) mit der Vorstellung auf, der kranke und gar sterbende Körper sei immobil. Stattdessen konzeptualisiert er den Aids-Kranken als archetypische Figuration Johannesburgs und somit als Ausgangspunkt seines Mappings von der Stadt. Dabei markiert Le Marcis eine Reihe von (Knoten-)Punkten und Orten, an denen der kranke Körper Zuflucht findet und zeichnet somit die Bewegungen zwischen Wohnung oder Haus zu offiziellen Institutionen und informellen Orten der Zuwendung und Pflege nach, später dann zu Hospizen und zuletzt dem Friedhof bzw. Krematorium. Mit diesem Mapping von AIDS, und dem Nachzeichnen von Körperbewegungen zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen verschiedenen Vierteln (getrennt nach Markierungen, die racialized oder klassenbezogen sind), etc. legt Le Marcis nicht nur die Stadt selbst offen, sondern zeigt auch auf eindrucksvolle Weise, dass Mobilität tatsächlich eine wichtige Überlebensstrategie in der Stadt ist; auch wenn diese gleichzeitig von der temporären Immobilität geprägt ist, der Kunst des Wartens (459).

Der sterbende Körper ist somit de facto ein produktiver Körper; er formt neue Verbindungen und Bewegungen zwischen Orten, und schafft selbst neue Strukturen und Einrichtungen. Der Status der eigenen Endlichkeit und die zunehmende Mobilität im Kontext von HIV/Aids überschreitet somit nicht nur gängige Abhandlungen vom urbanen Raum, die vorwiegend im Zusammenhang mit dem gesunden Körper gesehen werden; sie unterwandert auch Vorstellungen von Durchlässigkeiten bzw. Bewegungsrichtungen zwischen Stadt und Land.

Rebekah Lee (2010), die die steigende Anzahl von Bestattungsunternehmen zwischen Cape Town und dem Eastern Cape analysiert und diese historisiert, betont, zum Beispiel, den Mobilitätscharakter dieser Unternehmen, »and their particular emphasis on maintaining a flow of bodies (both dead and alive) between rural and urban areas«. Demnach spezialisieren sich immer mehr Unternehmen darauf, selbst Orte miteinander zu verbinden und damit die Bewegungsabläufe des kranken Körpers nachzuziehen – in diesem Fall Mobilität initiiert durch den Tod – die Arbeitsmigration in die urbanen Zentren während der offiziellen Apartheid im Blick. Vor allem im Kontext der HIV/Aids-Epidemie entwickelt sich die Bestattungsindustrie in ein lukratives Geschäft, die mobile Industrie (die oft direkt aus der Taxi-Industrie entsteht) befördert nicht nur den toten Körper ins Eastern Cape, sondern auch die Trauergemeinschaft. Lee argumentiert, dass die Angst vor dem Tod »far away from home« mehr noch als die Angst vor der eigenen Endlichkeit zur verstärkten Entwicklung von burial societies und formalen und informellen burial insurance schemes führte, die sich in den Communities in den Städten entwickelten, um diese Bewegungen der Körper zwischen Stadt und Land finanzieren zu können. Das Geschäft mit dem Tod ist vielleicht ähnlich rasant gewachsen wie das Sicherheitssystem im postkolonialen Staat, das sich vor allem aus Diskursen der Angst (vor dem Tod) speist.

Interessant dabei ist (und nicht beachtet von Lee), dass diese Mobilität zwischen dem urbanen und ländlichen Raum nicht erst dann einsetzt, wenn der Tod bereits eingetreten ist. Vor allem junge Leute kehren in die dörflichen Strukturen, aus denen sie kommen, zurück, wenn sich die Krankheit nicht mehr ignorieren lässt, was der Vorstellung von ›short illness‹ natürlich widerspricht. Viele sterben dort, die Reise wird also zur Einbahnstraße. Andere hingegen erholen sich und machen sich wieder auf in die Stadt. Dabei geht es nicht zwingend um ein ›sense of belonging‹, sondern vor allem um familiäre Betreuungsstrukturen, die oft das überforderte Gesundheitssystem, vor allem in den Städten, ersetzen müssen. Aber auch bei diesem zu beobachtenden Trend heißt es nicht, dass der Status immer offen gelegt ist: Ähnlich wie bei den ›Bereavements‹ via Email ist auch hier die weitestgehend als fix wahrgenommene Dichotomie von Wissen und Nicht-Wissen brüchig.

Tod und Postkolonialität
Neben dem trauernden, kranken bzw. gerade verstorbenen Körper im Kontext der Mobilisierung zwischen Stadt und Provinz, bringt Lee noch einen weiteren in Spiel: den exhumierten Körper, an dem sich ebenfalls die Frage nach dem ›angemessenen‹ Ruheort der Toten anknüpft. In der Vergangenheit, vor allem im Kontext der Apartheid, wurden Beerdigungen vor allem als Möglichkeit für politische Mobilisierungen genutzt, während Debatten um die Wieder-Bestattung prominenter Afrikaner_innen den fortdauernden Glauben an den politisch mächtigen toten Körper betonen. So war zum Beispiel ein Ziel der Wahrheits- und Versöhnungskommission nach Ende der Apartheid über die Aufklärung von Verbrechen auch die Toten zu finden und diese erneut, der Kultur und dem Glauben angemessen, zu begraben. Und somit geht es in Südafrika bis heute auch darum, die Würde des menschlichen Körpers bzw. den Leichnam wiederherzustellen und auch im spirituellen Sinne ›nach Hause zu holen‹: »when a human corpse is defiled, dimembered or reduced to refuse, disposed of without ceremony in an unmarked grave, this becomes symbolically potent, as an exceptional and avowedly demeaning act« (Posel und Gupta 2009: 301). Dabei war die Notwendigkeit der Disziplinierung der Bevölkerung über den Tod hinaus zentral und formierend für den Apartheidstaat und seine Biopolitik. Die Racialization der Erfahrung war zum Beispiel direkt verbunden mit der racialized Verwaltung von toten Körpern, »reaffirming racial hierarchies of personal worth in death as much as in life« (Posel und Gupta 2009: 304). Prominentestes Beispiel der ›Wiederbestattung‹ ist ohne Zweifel Sarah Baartman, deren Überreste auf internationalen Druck hin vom französischen Staat an den südafrikanischen übergeben wurden und 2002 in einer national und medial inszenierten Zeremonie beigesetzt wurden. Der internationale Druck entstand vor allem durch die diskursive Rückbesinnung auf Sarah Baartmans Körper innerhalb postkolonialer Theorien und zeigt somit auf mögliche Effekte, die postkoloniale Theorie bewirken kann.

Es gibt aber auch andere Politiken um den exhumierten Körper im heutigen Süd¬afrika: weniger heldenhaft und weniger prominent in der Öffentlichkeit inszeniert, auch weil sie den Zustand der postkolonialen Gesellschaft(spolitik) so gnadenlos offen legen. Sie müssen von daher auch notwendigerweise anders konzeptualisiert werden. Angrenzend an den Township Nompumelelo in Beacon Bay, East London, nicht weit von dem Ort, wo die Fort Hare-Studentin aus der Email after a short illness begraben wurde, soll ein neuer Business Park gebaut werden. Als erste Versuche unternommen wurden, das Brachland zu bearbeiten, wurde die angrenzende Bevölkerung unruhig; schließlich habe man da auf dem Gelände Verwandte beerdigt. Ohne offizielle Genehmigung, der informelle Friedhof war nicht als solcher markiert. In Folge mussten Körper wieder bewegt werden, ein neuer, informeller Ort, der geschaffen wurde, musste den begonnenen Bauarbeiten weichen. Dieses Beispiel, das nicht einzigartig ist im heutigen Südafrika, macht vor allem deutlich, wie viele Orte auch weiterhin keine Strukturen haben, die für eine Community notwendig sind, wie etwa Friedhöfe. Es macht auch die fortwährende Politik mit dem Tod deutlich, die auch im Post-Apartheid Staat weiterhin in hohem Maße racialized ist, denn Status im Sinne von Klasse und die damit verbundenen Möglichkeiten der Versorgungsstrukturen sind weiterhin racialized. Und so bleiben Performanzen der Beisetzung und Trauer, vor allem über den öffentlichen Charakter von Beerdigungen, auch weiterhin zum umkämpften und auch widerständigen Raum, in dem weiter reichende Machtfragen zwischen Staatsmacht und Communities verhandelt werden – auch im Post-Apartheid Staat. Gleichzeitig zeigt das Beispiel von Nompumelelo, wie über das Thema Sterben und Tod immer wieder neue Orte geschaffen, Grenzen übertreten werden – in dem Fall von einer bestimmten Community, Nompumelelo, die klar markiert war – und wie dabei Dichotomien von privat und öffentlich, Wissen und Nicht-Wissen, formal und informell produktiv unterwandert werden. Diese Strukturen, die sich über das Thema Tod formieren, sind somit weitaus mobiler als die Phrase after a short illness impliziert.

Literatur
Dennie, Garrey (2010). ›The Standard of Dying: Race, Indigence, and the Disposal of the Dead Body in Johannesburg 1886–1960.‹ African Studies 68(3): 310–330.
Gunkel, Henriette (2010). The Cultural Politics of Female Sexuality in South Africa. London, New York: Routledge.
Le Marcis, Frédéric (2004). ›The Suffering Body of the City.‹ Public Culture 16(3): 453–477.
Lee, Rebekah (2010). ›Death »on the move«: Funerals, entrepreneurs and the rural-urban nexus in South Africa.‹ Paper presented at Managing Uncertainty: Death and Loss in Africa. An International Conference. 8–10 April 2010, University of Witwatersrand, Johannesburg.
Posel, Deborah und Pamila Gupta (2009). ›The Life of the Corpse: Framing Reflections and Questions.‹ African Studies 68(3): 299–309.



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