Im Folgenden verwende ich den Ausdruck »per definitionem«, obwohl das ja ein besonders scheußlicher Ausdruck ist.
Irgendwann im Herbst des vergangenen Jahres sagte ich mir mal wieder: Die Popmusik ist eine tote Kunstform. Bevor ich mich bei all diesen Konzerten, »in die wir ständig gehn« (Tocotronic), totlangweile oder vor Langeweile totsaufe, kehre ich mich ein für alle mal ab von der Popmusik. Der ihr per definitionem eingeschriebene Primitivismus war früher mal aufregend und der Popularisierung gewisser revolutionärer Stimmungen zuträglich, einfach weil ein neuer, lauter, primitiver Klang zu solchen Stimmungen passt. Laut ist der primitive Klang heute immer noch, aber nicht mehr neu, zumindest nicht für einen wie mich (37). Vielleicht, so sagte ich mir, eröffneten sich mir früher im Primitiven neue Ekstasen kosmischer Komplexität, deren Erfassung mein inzwischen mit vielen Upgrades versehener Bullshit-Detektor nun verhindert.
Doch obwohl ich so zu mir selber sprach, handelte ich gar nicht danach und ging weiterhin ständig zu allen möglichen Popkonzerten. Und das, obwohl viele dieser Konzerte von Bands wie Toro Y Moi oder Best Coast bevölkert waren, deren Schaffen von Teilen der Popmusikpresse beharrlich als »Hauntology« eingestuft wurde. Dieser Begriff beschreibt die Tatsache, dass das Junggemüse heutzutage gerne herkömmliche Popmelodien mit sehr vielen Halleffekten verfremdet, weil das ein bisschen todessehnsüchtig klingt, wie man’s halt als Junggemüse mag. Und weil man diese Komplettverhallung seit etwa zwanzig Jahren, also zu Junggemüse-Lebzeiten, nicht angewendet hat, so dass sie den heutigen Verhallern neu und aufregend erscheint. Erwähnte Teile der Popmusikpresse behaupten jedoch, hier sei quasi-geisterhaftes Wiedererscheinen von Dekaden gestorbener Popmelodien dokumentiert, als habe sich jenes Popliedgut einst ins kleinkindliche Unterbewusstsein der vermeintlichen »Hauntology«-Protagonisten eingefestigt, um sie heute heimzusuchen (engl. to haunt – heimsuchen). Dies sei ganz toll und neu und alt zugleich. Ist aber höchstens ganz nett und sehr geschmackvoll und ganz alt und hieß, glaube ich, früher »Shoegaze«.
Trotzdem kehrte ich, wie gesagt, der Popmusik nicht den Rücken, da ich insgeheim noch hoffte, mein Bullshit-Detektor werde schließlich doch meine »Pop ist tot«-Maxime ihrer Altbackenheit überführen, in dem er einer interessanten Darbietung gewahr würde. Er tat es schließlich, zweimal an einem Abend! Und mir wurde wieder mal klar: Interessant wird Pop heute meist nur, wenn versucht wird, das Primitive des Liedguts – ob verhallt oder nicht – zu transzendieren, dabei aber vor allem das Geschmackvolle transzendiert bzw. möglichst brutal ermordet wird.
Wie etwa von den Londoner Receeders, oder von Nik Kershaw, einem jener Musiker, die beim Komponieren eines Schlagers nicht eher ruhen, als bis ungefähr dreihundert verschiedene Akkorde darin vorkommen. Kershaw zeichnete in meiner fernen Jugend für so manches Bombast-Pop-Verbrechen verantwortlich und war daher immer Objekt meiner tiefsten Bewunderung. Von ihm gibt es außerdem ein Lied, das zum Walschutz aufruft. Es heisst »Save the Whale«. Der Refrain geht so: »Save the whale, save the whale«. Kürzlich erbaute ich mich zuhause an diesem Meisterwerk aus dem Gruselkabinett der Popgeschichte und besuchte anschließend ein Konzert der Receeders. Sie waren sehr gut, weil sie nur drei Lieder spielten, davon aber jedes zweimal. Die Tatsache, dass es sich bei den drei Liedern der Receeders nicht um von achtzig Sessionmusikern gespielte Walrettungslieder mit dreihundert Akkorden handelte, sondern um von drei quengeligen Jugendlichen hemmungslos schlecht gespieltes Gitarrengeschrammel, machte alles nur noch besser – obwohl, nein, wenn ich es mir genau überlege: Nik Kershaw und eine achtzigköpfige Band, die jedes Lied zweimal spielt und »Save The Whale« viermal – das ist mein Traumkonzert. Geschmack ist tot! Lang lebe Pop! Nur über meine Leiche, sagt Nik.
Toro Y Moi – Causers Of This, Carpark Records. Best Coast – Crazy For You, Mexican Summer. Nik Kershaw – The Riddle, MCAw. The Receeders – www.myspace.com/katenashmusic.
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