»Ich vergaß hinzuzufügen und habe es später mit Absicht unterlassen, daß das Beste was ich je geschrieben habe, in dieser Fähigkeit zufrieden sterben zu können, seinen Grund hat. An allen diesen guten und stark überzeugenden Stellen handelt es sich immer darum, daß jemand stirbt […]. Für mich aber […], sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus«. (Franz Kafka, Tagebücher, Eintrag vom 13.12.1914)
»Niemand schenkt diesen Morden Aufmerksamkeit, aber in ihnen verbirgt sich das Geheimnis der Welt.« (Roberto Bolaño, 2666.)
Es gibt Meister des Todes – Kafka, Proust, Bolaño – und immer sind sie auch Meister des Lebens. Denn nur vom absolut vitalsten Standpunkt aus ist es möglich, vom Tod zu sprechen. Die schönen Sätze von Blanchot über den Tod und die wesentliche Einsamkeit sind eben nicht mehr als schöne Sätze, zumindest ab dem Moment, da man die Bücher dieser großen Lebenden öffnet.
Was bei Bolaño zunächst auffällt, ist jene fantastische Überfülle, das Reale, das beständig die Seite überbordet, die Vervielfältigung der unendlich ineinander verflochtenen Geschichten, der Sinn für alberne, irrsinnige Details – ein leicht trunkener oder drogenverhangener Blick, der die Wesen und Dinge mit dieser grandiosen ballistischen »Haftkraft« streift, von der Jean-Pierre Manchette in Bezug auf das erste Buch von James Ellroy, Blut auf dem Mond, sprach.
Bolaño ist auch ein großer Schriftsteller des Sexes, das radikale Gegenmittel zu einem bestimmten zeitgenössischen Geschmack an tristen, beschämenden oder flüchtigen Lappalien – dieser Chilene hier geht mit Lust und Humor, in Farbe und Großaufnahme vor.
Und dennoch, dennoch, gibt es im Herzen des Ganzen, dessen, was er als sein großes Werk betrachtete, seines letzten, unbeendeten Romans 2666, im Kapitel »Der Teil von den Verbrechen«, eine Mordserie an Frauen. Der Autor listet dort mit großer Sorgfalt fast vollständig jene Verbrechen auf, die in Ciudad Juárez, im Staat Chihuahua im Norden Mexikos, zwischen Januar 1993 und Dezember 1997 begangen wurden. Bolaño starb bevor er letzte Hand an sein Buch legen konnte und wollte, laut seinem französischen Übersetzer, diesen Teil sogar noch um 200 bis 300 Seiten verlängern. Er errichtet darin den jungen Frauen, die unter der fast völligen Gleichgültigkeit der Autoritäten vergewaltigt und ermordet wurden, ein wahrhaftes Mausoleum. Man denkt an Baudelaire, an eine zeitgemäße Version des Ex voto in spanischem Geschmack: »Madonna • meine gebieterin • dir will ich bauen / Verborgenen altar aus meiner nöten tiefe«, oder an diesen Satz aus Mein entblößtes Herz: »Ich bewohne auf ewig ein Gebäude, das zusammenstürzen wird, ein Gebäude, an dem eine geheime Krankheit nagt.«
In der Ökonomie des Buches bilden diese Morde einen heftigen Kontrast zu dem bequemen Leben der Akademiker, die im ersten Teil auf die Suche nach Archimboldi gehen, kurzum: zu unserer Situation als Leser, für die so etwas wie Staat und Justiz scheinbar noch funktionieren. Der Sinn für die konkrete Wirklichkeit des Autors lässt diese Seiten fast unerträglich werden, sie scheinen die oben angesprochene Vitalität wütend mit Füßen zu treten. Aber eine, wenngleich rätselhafte und vorläufige, Lösung wird uns von einem der Protagonisten angeboten, Amalfitano, ein Philosoph, der in diesem Strudel aus Irrationalität, während sein Leben und das seiner Tochter bedroht sind, ein Geometrielehrbuch an die Wäscheleine hängt und es jeden Tag, seinen Kaffee trinkend, betrachtet:
»Worum geht es bei diesem Experiment? sagte Rosa. Bei welchem Experiment? sagte Amalfitano. Bei dem Buch auf der Leine, sagte Rosa. Das ist kein Experiment im eigentlichen Sinne, sagte Amalfitano. Warum hängt es da? sagte Rosa. Ist mir plötzlich eingefallen, sagte Amalfitano, die Idee stammt von Duchamp, ein Geometriebuch dem Wetter auszusetzen, um zu sehen, ob es ein bisschen was vom Ernst des Lebens lernt. Du machst es noch kaputt, sagte Rosa. Nicht ich, sagte Amalfitano, die Natur.«
Aus dem Französischen von Franziska Schottmann. |