Warum orientieren sich die Menschen häufig an der Natur? Warum denken so viele, dass die Natur es »besser weiß«? Und warum haben Natürlichkeitsargumente einen hohen Stellenwert in ethischen Debatten, insbesondere der Medizinethik? John Stuart Mill, Philosoph der individuellen Freiheit und des Utilitarismus, geht in seiner pos¬tum im Jahr 1874 veröffentlichten Untersuchung der Frage nach, ob und inwieweit die Idee der Natur und Natürlichkeit in der Ethik eine Rolle spielen kann und sollte. Sein Verdikt ist unzweideutig: Die Natürlichkeit einer Praxis hat mit Recht und Unrecht nicht das Geringste zu tun; ob etwas wertvoll oder gar moralisch richtig ist, wird durch den Menschen selbst bestimmt und lässt sich nicht an der Natur ablesen.
Bereits David Hume hatte in seinem Traktat über die menschliche Natur behauptet, dass sich aus seinem Sein – etwa der Tatsache, dass etwas natürlich ist – kein Sollen direkt ableiten lässt. Mill prüft nun in seiner Schrift diese Frage in der nötigen Ausführlichkeit. Dazu zerlegt er den Begriff der Natur in verschiedene Bedeutungsdimensionen. Der ersten Interpretation nach meint das Natürliche die in der Welt vorhandenen Kräfte, etwa die Naturgesetze, und was sie bewirken. In dieser Perspektive wäre es sinnlos zu versuchen, sich an der Natur zu orientieren, denn jede Handlung ist diesen Kräften unterworfen. In einer weiteren Bedeutung ist die Natur alles, was ohne Mitwirkung des Menschen geschieht. Doch auch hier kann das Natürliche nicht schlechthin das Gute sein: »Um es ohne Umschweife zu sagen: Fast alles, wofür die Menschen, wenn sie es sich gegenseitig antun, gehängt oder ins Gefängnis geworfen werden, tut die Natur so gut wie alle Tage. Das, was menschlichen Gesetzen als die verbrecherischste Handlung gilt, das Töten, übt die Natur einmal an jedem lebenden Wesen und in einer beträchtlichen Zahl von Fällen nach langen Qualen, wie sie nur die allerschlimmsten menschlichen Ungeheuer, von denen wir wissen, ihren Mitmenschen je absichtlich zugefügt haben.« So ist es an uns selbst zu bestimmen, was richtig und gut zu tun ist. Das heißt nicht, dass die Natur dabei gar keine Rolle spielen kann; doch den Maßstab des Handelns liefert sie nicht.