Liebe Leserin, Lieber Leser,die neue Ausgabe von polar ist soeben erschienen. Die Positionen von Claus Leggewie/Harald Welzer und Jürgen Trittin auf dieser Seite geben einen Vorgeschmack, worum es in dem Heft geht: um das Verhältnis von Natur und Kultur, von Ökologie und Emanzipation.
Wie leben? Mit dem Klimawandel ist die ökologische Frage im Zentrum unserer Gesellschaft angekommen. Die Arktis schmilzt, schon jetzt hat sich die Erde um ein Grad Celsius erwärmt und der Weltklimarat hält eine Erderwärmung um sechs Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts für möglich. Die Folgen sind schon heute dramatisch: Wirbelstürme fordern zahlreiche Opfer, Überschwemmungen oder Dürren machen ganze Regionen unbewohnbar und zwingen die Menschen zur Flucht. Ein Wetterleuchten für eine kommende Heisszeit, die Anna Meyers Folien (64) und Christine Würmells Zeichnungen (20) in die bildhafte Wirklichkeit holen. Mit jedem Stück, das dem Eisblock in Olafur Eliassons Bilder-Serie abschmilzt, wächst das Gefühl der Dringlichkeit einer Veränderung unseres Handelns.
Welche Konsequenzen die Klimazerstörung aber auch eine klimafreundliche Politik für die Gesellschaften haben, ist völlig unklar. Setzen die einen auf technologische Lösungen, sehen und fordern andere einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Damit steht aber mehr auf dem Spiel als das Klima. Auf dem Spiel stehen Freiheit und Individualismus, die in den letzten Jahrhunderten mühsam erkämpft wurden. Auf dem Spiel steht Gerechtigkeit gemessen an dem Ideal gleicher Verwirklichungschancen für alle. Auf dem Spiel steht möglicherweise auch die Demokratie als Ausdruck politischer Freiheit. Die ökologische Frage dreht sich weniger um ein unvermeidliches »ob«, sondern um das »wohin« und »wie« der Ziele und Wege. Ökologische Politik muss die Freiheits- und Gerechtigkeitskämpfe der Moderne aufnehmen und fortsetzen, anstatt sich gegen sie zu wenden.
Mit der Ökologie sprechen wir auch über unser Verständnis von der »Natur«. Was ist gemeint, wenn wir von »der Natur« oder gar »dem Natürlichen« sprechen? Eine Beschreibung? Eine Konstruktion? Oder am Ende doch Normen und Werte? »Das Natürliche« würde so zum Maßstab für Lebensentwürfe und moralisches Handeln. Was aber ist die Natur »ohne uns«? Die Natur braucht uns nicht und wird uns überleben. Wofür brauchen wir die Natur? Die ökologische Frage muss sich als soziale Frage selbst emanzipieren gegen den Naturalismus: als Frage der Selbstbestimmung, der Gerechtigkeit und der Demokratie. Ihre Emphase sollte den Individuen, ihren Selbstverwirklichungsansprüchen und Träumen gelten, die durch die Klimazerstörung gefährdet sind. Einiges spricht dafür, dass wir in eine neue Phase der Moderne treten, dahinter zurück wollen wir nicht.
Für eine globale Politik in der der Mensch seine Interessen in der Umwelt erkennt, plädiert Jürgen Trittin im Rahmen eines »ökologischen Materialismus« (15). Deutlich skeptischer gegenüber universalen Entwürfen spricht sich Anton Leist für eine lokale Demokratisierung der Umweltfragen aus (35). Claus Leggewie und Harald Welzer untersuchen allgemeiner den Kulturwandel, der dem Klimawandel folgt (9). Dabei geht es nicht nur um Protest gegen Autos (23) und Stausehen (42), sondern um einen neuen Lifestyle, der bis nach China vorgedrungen ist (102).
Welche Form eine Ästhetik des Protests mit künstlerischen Mitteln heute haben kann, untersucht Christine Heidemann am Verhältnis von Kunst und Ökologie (28). Wie das »kulturelle« System Kunst mit dem »natürlichen« System des Klimas interagiert zeigt Raimar Stange in seinem Beitrag (50). Das Klima als White Cube.
Mit der Frage nach dem Status der Natur stellt sich natürlich auch die Frage nach der »Natur des Menschen«, der etwa John Dupré (81) und Oliver Müller (97) nachgehen. Bruno Latour und Émilie Hache plädierten demgegenüber in ihrem Beitrag dafür, auch nicht-menschlichen Wesen moralisch zu begegnen (73). Eng mit der Natur verknüpft ist die Verteidigung der Lebensform der Mapuche, die deren Häuptling Chacho Liempe darlegt (89). Demgegenüber erinnert Thomas Schramme an die emanzipatorische Utopie des italienischen Futurismus, für den vor 100 Jahren Technik und Maschinen ein neues, schnelles und aufregendes Daseins versprachen (145). Mit Donna Haraways Manifest für Cyborgs drucken wir einen modernen Erben dieses Naturverständnisses erneut ab. Die imaginiäre Figur des Cyborg dient als Metapher für eine Welt ohne naturalistische Zuschreibungen. Kultur formt Landschaften (168), den Körper (161) und entgegen mancher Aussagen der Hirnforschung auch das Geschlecht (115). Unsere menschliche »Natur« selbst ist zutiefst sozial und kulturell geprägt, wie uns Alban Lefranc in jedem Satz seiner literarischen Angriffe einhämmert.
Natürlich? Ohne uns.
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller