Natürliche Gerechtigkeit – Robotermärchen – Molekularküche
Die Natur ist ungerecht. Oder doch nicht? Fällt nicht unbegrenzt Manna vom Himmel, bedarf es einer Verteilung knapper Ressourcen. Adam und Eva müssen sich vor dem Rausschmiss aus dem Paradies auf einen Heiratsvertrag einigen. Mit comic-gerechten Beispielen rekonstruiert Ken Binmore die Tradition des politischen Gesellschaftsvertrages im spieltheoretischen Gewand. Das Publikum würdigte die revolutionäre Kraft der unterhaltsam dahinmäandrierenden 2.000 Seiten kaum. Der britische Ökonom wurde nur dafür bekannt, dass er die Auktion zur Vergabe neuer Netzlizenzen von British Telecom entwarf, die den Steuerzahlern 35 Milliarden Pfund einbrachte. Also legte Binmore unlängst Natural Justice als systematische Synopse nach, um endlich die Moraltheorie vom philosophischen Kopf auf sichere naturalistische Füße zu stellen. Nicht Autonomie, sondern evolutionärer Druck schreibe den Menschen Fairness ein. Zu seinem Zeugen beruft er die evolutionäre Spieltheorie. Nachdem die Soziobiologie Kultur mit dem beständigen Kampf »egoistischer Gene« (Richard Dawkins) erklärt hatte, erobert die Evolutionstheorie die Ökonomik. Maximieren wirtschaftliche Akteure nicht rational ihren Nutzen, bedürfen diese unnatürlichen Anomalien einfach einer evolutionären Erklärung. Unser Sinn für Fairness ist für Binmore evolutionär entstanden, um langfristig ineffiziente Strategien im ökonomischen Spiel unter unsicherer Information zu korrigieren. Wenn Fairness so leicht über kurzfristige Effizienz siegt, stört auch die naturalistische Herleitung nicht.
Weit in die Zukunft der Evolution führen Stanislaw Lems Robotermärchen. Menschliche »Bleichlinge« mit ekelerregenden natürlichen Bedürfnissen existieren nur noch als Mythen in den Erzählungen altgedienter Maschinen. Ihre fürchterlichen Gebräuche gerieten in Vergessenheit, »denn das Wissen um sie ist wider die Natur«. Die Menschen hatten das Maschinenvolk geknechtet, die süße Elektrizität gemartert und die Kernenergie demoralisiert, einzig um der eigenen Wollust zu frönen. Versuchte eine »kristallisierte Weisheit« den Menschen zu erklären, was Ethik sei, war er schlecht programmiert. Aber dieses Zeitalter des »allgemeinen Anfaulens der Himmelskörper«, deren Gekreuch davon lebte, dass einer den anderen verschlang, ist in Lems Phantasien glücklicherweise beendet. »Denn das Atom wie die Galaxis sind gleichermaßen Maschine, und es gibt nichts außer der Maschine, die da ewig ist«.
Da wir diese Stufe der Evolution leider noch nicht erreicht haben, widmen wir unsere Zeit noch einer Kunst, die völlig zwecklos ist, aber in weit höherem Ansehen als die Astronomie steht: der Gastronomie. In einem Temperaturbereich von -200° bis -100° Celsius lassen sich mit flüssigem Stickstoff Olivenöl-Pulver, verglaste Kräuter, Nitro-Baiser oder auch Hühner-Eis mit Haut-Chips herstellen. Beim Auftauen im Mund soll eine plötzliche Aromaexplosion alle gekannten Genüsse deklassieren. Nicht nur frostige Experimente kennzeichnen die Rezepte des Professors für theoretische Physik und passionierten Hobbykoch Thomas Vilgis. Orangensaft oder gehackter Basilikum lassen sich durch eine aus Meeresalgen gewonnene Substanz names »Agar Agar« zu Würfen gelieren. Glycosesirup formt Omas Kraut zum Lutscher. Bio-Apologeten werden die Methoden als gänzlich unnatürlich ignorieren. Auch für das Überleben ist die Molekularküche wohl überflüssig. Warum bloß bringt die Evolution sie dann hervor?
Ken Binmore, Natural Justice, Oxford (OUP) 2005, Just Playing, Game Theory and the Social Contract II, Cambridge, MA (MIT Press) 1998; Playing Fair, Game Theory and the Social Contract I, Cambridge, MA (MIT Press) 1994.
Stanislaw Lem, Robotermärchen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973, aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim (Original: Bajki robotów, Krakow 1964).
Thomas Vilgis, Molekularküche, Das Kochbuch, Wiesbaden (Tre Torri) 2007.