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polar #6: Wie leben



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



KOLLAPS

 
Claus Leggewie, Harald Welzer
Anpassung an das Unvermeidliche?
Klimawandel als kulturelles Problem
 
Jürgen Trittin
Ökologischer Materialismus
Wie die Natur politisch wird
 
 

Mike Davis

Heavy Metal Freeway

Autofahren am Rande des Nervenzusammenbruchs


Ist Südkalifornien doch kein Paradies? Muss Woody Guthries Song umgeschrieben werden: »A paradise to live in or see, but only if you got an SUV«? Auch im Autopanzer erscheint das Paradies jedoch schnell als Hölle und der Freeway wird zum Parkplatz.

Krieg ist das moralische Äquivalent des Straßenverkehrs – oder verhält es sich gerade andersherum? Verzeihen Sie, wenn meine Begriffe etwas durcheinander geraten, aber ich lebe in Südkalifornien. Mein tägliches Pendeln – harte 140 Kilometer in jeder Richtung – ähnelt immer mehr der berühmten Panzerschlacht bei El Alamein. Was ein Autor in den 1920er Jahren »den südkalifornischen Moloch des Vergnügens« genannt hat, ist nun ein Krieg ohne Gnade, in dem 18 Millionen Menschen in 14 Millionen Autos mit dem schlimmsten Verkehrsstau Amerikas kämpfen. Jeden Morgen steige ich in mein gepanzertes Fahrzeug – einen unheilvoll aussehenden Toyota Tundra Pickup mit Allradantrieb – und bahne mir den Weg auf die mittleren Spuren der Interstate 5. Die nächsten anderthalb Stunden befinde ich mich im Kampf mit meinen Mitbürgern um Autobahnlebensraum – ohne auch nur einen Zentimeter zuzugestehen oder zu erwarten.

Ganze Panzerdivisionen von sports utility vehicles – eine Art Kombi auf Steroiden und Meth – dominieren heutzutage die Freeways. Die pole position auf den Autobahnen Südkaliforniens war schon immer ein anstrengender Ort, aber unter der neuen Herrschaft des Heavy Metal ist es besonders schlimm geworden. Im Rushhour-Straßenkrieg besteht die Grundstrategie in der Terrorisierung des Wagens direkt vor Ihnen. Das geht besonders einfach, wenn Sie einen riesigen Haufen gefechtstauglichen Stahls fahren, etwa einen Chevy Suburban oder Ford Explorer, und das arme Schwein vor Ihnen in einem jämmerlichen Corolla oder Ford Escort vor sich hingurkt.

Im Idealfall gelingt es Ihnen, ihn zu überrumpeln. Normalerweise fährt man bis auf wenige Millimeter an die hintere Stoßstange heran. Hupen gilt als schlechter Stil (oder noch schlimmer: als New Yorker Gewohnheit). Eher sollten Sie abwarten, bis der Fahrer vor Ihnen die turmhohe Bedrohung plötzlich in seinem Rückspiegel erblickt. Das panische Wechseln der Spur ist dann eine Form der sozialen Ehrerbietung, die Sie genießen können. Meistens reiht sich aber einfach nur ein SUV hinter den anderen. Das Klassenprivileg hebt sich selbst auf, und es gibt keine andere Möglichkeit als zu warten, bis jemand die Nerven verliert und den Weg frei macht. Wie im Krieg und anderen Formen des Tierkampfes besteht die höchste Tugend darin, auch unter Stress cool zu bleiben. Und wie könnte man die mutige Hausfrau von der Westside nicht bewundern, die mit einer solchen Ruhe an ihrem Cappuccino nippt und mit ihrem Handy telefoniert, während sich ihr massiver Dodge in suizidaler Geschwindigkeit dem sich verheddernden Verkehr vor ihr nähert?

SUV: Sicherheit und Vergnügen?

Es stimmt, dass sich genesende Herzpatienten, arme Immigranten in ihren Rostlauben, verängstigte Mütter mit ihren Babys an Bord und Anhänger Mahatma Gandhis gewöhnlich an die langsameren rechten Spuren des Freeway halten. Dabei handelt es sich aber um ein Refugium der Leichtgläubigen, da sie entweder direkt den sich einfädelnden SUVs im Weg stehen, die mit Warp-Geschwindigkeit auf die Autobahn schießen, oder zwischen 20-Meter-langen Lastwagen eingequetscht werden, die sie wie Aluminiumdosen zerdrücken könnten. Die Hegemonie der SUVs diktiert defensive Wiederaufrüstung und eine Logik der wechselseitigen Abschreckung. Als Bäume liebender Radikaler würde ich es natürlich theoretisch vorziehen, ein umweltfreundliches Elektroauto zu fahren oder mich gar unter dem warmen Himmel Kaliforniens auf mein Fahrrad zu schwingen. Aber ich sehe keine realistische Alternative dazu, mich mit einem gangsterartigen Pickup selbst zu schützen.

Allerdings sollten wir unsere Kinder daran erinnern, dass selbst in Südkalifornien der Verkehr nicht immer in diesem Ausmaß eine Sache des Hauens und Stechens war. Es gab eine Zeit – in etwa zwischen den Heckflossen und den SUVs und in der Folge der Energiekrise von 1973 –, als die Autobahnen kurzfristig von treibstoffeffizienten Kleinwagen dominiert wurden, die wir erfinderischen japanischen Elfen zu verdanken schienen. Warum verschwand diese Art Mittelerde des Verbrennungsmotors in den 1990er Jahren so plötzlich?

Ich bin mir sicher, die Antwort ist, dass die SUVs so perfekt wie pathologisch zu den Ängsten der Mittelklasse passen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die neue Generation der Familienpanzer aus Detroit just in dem Moment auftauchte, als carjacking und Schießereien auf der Autobahn die Abendnachrichten bestimmten; als sich gute Bürger zu Hunderten und Tausenden in geschlossene Vororte zurückzogen, die von ganzen Armeen privater Sicherheitsleute bewacht wurden. Ganz ähnlich wurde auch der SUV als stählerner Kokon für die Sicherheit der Mittelklasse auf dem gefährlichen Gelände der Autobahnen wahrgenommen. Zudem wurden diese riesigen Ansammlungen japanischen und koreanischen Stahls sehr schnell zum muskelstrotzenden Symbol des neuen Ich-marschierein- Deinen-Staat-ein-und-töte-Deine-Mama-Republikanismus. Nach den Angrif des 11. September kam das neue Autozubehör der Fahnenstange hinzu und verschaffte den mit dem Sternenbanner geschmückten Suburbans und Explorers auf diese Weise den patriotischen Elan der Siebten Kavallerie, wie sie gerade ein Dorf der Sioux stürmt.

Schließlich sind SUVs auch eine Art temporäres Luxuszuhause, um die Hölle des Pendelns durchzustehen. Der Verkehr in Südkalifornien ist noch immer der schlimmste der Vereinigten Staaten (auch wenn Seattle und Washington, D.C. inzwischen dicht folgen): Die Autofahrer aus den äußeren Vororten opfern dem dämonischen Gott des völligen Stillstands das Äquivalent zweier zusätzlicher Arbeitswochen pro Jahr (also 75 Stunden). Die geschätzten jährlichen Kosten für die Pendler liegen bei fast 9 Milliarden US-Dollar bzw. 1.668 US-Dollar pro Person in der Region Los Angeles. Der Verkehr wächst zudem viel schneller an als die Bevölkerung, und neue Autobahnen sind schon innerhalb weniger Jahre nach Fertigstellung verstopft. Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass Los Angeles diejenige Großstadt ist, aus der man am Wochenende am schwersten herauskommt: Eine wissenschaftliche Bestätigung der eine weit verbreitete Wut auslösenden Klaustrophobie, die immer mehr an die Stelle jener Kultur der physischen Mobilität und der langen Wochenendausfahrten tritt, derer sich die Region einst so gerühmt hat. In einer jüngeren repräsentativen Meinungsumfrage in Südkalifornien wurde die Verkehrssituation als größtes Problem der Region genannt, weit vor Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Bildung und Wohnraum.

Vor dem Kollaps

Die lokalen Talk-Radio-Stationen und rechtslastige Blogs machen in ihrer Funktion als verstopfte Toiletten nativistischer Hysterie die illegalen Immigranten für den Stillstand verantwortlich, aber die wirklichen Triebkräfte hinter den Staus sind die Zersiedelung und die Inflation der Bodenpreise, nicht die Demographie. Die ununterbrochene Suche nach erschwinglichem Wohnraum, der weit entfernt ist von den Epizentren der urbanen Gewalt, hat mehrere Millionen Familien bis an den Rand der Wüste oder darüber hinaus getrieben. Da die Arbeitsplätze ihnen im Großen und Ganzen nicht gefolgt sind, besteht das Preisschild für den südkalifornischen Traum nun in einer dreistündigen Hin- und Rückfahrt, die täglich zwischen dem inländischen Heim und dem an der Küste liegenden Arbeitsplatz zu absolvieren ist. Zugleich hinkt die kalifornische Transport-Infrastruktur – einst das Autobahnwunder der Welt – den Standards der fortgeschrittenen Industrieländer hoffnungslos hinterher. Seit den Steueraufständen der 1970er Jahre ist das Straßennetz mit Schlaglöchern übersät und ebenso unzuverlässig wie das kollabierende Schulsystem und das heruntergekommene Stromnetz. Trotz der seit zwanzig Jahren vorgebrachten apokalyptischen Warnungen öffnet sich der Graben zwischen dem konzentrierten Wohlstand und den Immobilienwerten an der Küste auf der einen Seite und den Investitionen in die materielle wie soziale Infrastruktur auf der anderen immer weiter. Das Versagen des lokalen politischen Systems, dem es nicht gelingt, der Gewalt entgegenzutreten, die Zersiedelung zu kontrollieren und in einen effizienten Transport der Massen zu investieren, stellt sicher, dass sich der riesige Parkplatz, den das südkalifornische Autobahnnetz heute darstellt, innerhalb der nächsten Generation in einen noch schlimmeren Albtraum der Verstopfung verwandeln wird. Aus den gegenwärtig täglich sieben Stunden des Rush-Hour-Stillstands werden letzten Endes zwanzig Stunden werden, und die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den Autobahnen wird auf die von Pferdekutschen sinken. Tatsächlich befürchten regionale Planungsbehörden, dass der vorausgesagte 30prozentige Anstieg des Verkehrsaufkommens die zwölftgrößte Ökonomie der Welt ganz wörtlich ersticken wird. Bevor ein zukünftiges Nahverkehrssystem zu Hilfe kommen kann, läuft Südkalifornien Gefahr, unzählige Mittelklassejobs und -bewohner an die städtischen Gebiete mit weniger Stillstand, kürzeren Pendeldistanzen und höherer Lebensqualität zu verlieren.

In der Zwischenzeit stellen die SUVs eine magische, wenngleich temporäre Kompensation in Form von Macht und Komfort bereit. In der trostlosen Demokratie des Stillstands scheint mit ihnen eine Art noblesse oblige einherzugehen, zumindest die arrogante Fähigkeit, sich die linken Spuren anzueignen. (Ihre Eigentümer neigen jedoch dazu, die Tatsache zu ignorieren, dass ihre Größe und das hochgelegene Gravitationszentrum sie nicht nur so einschüchternd kleineren Autos gegenüber machen, sondern auch auf tödliche Weise instabil und anfällig für Überschlagungen).

Der unaufhaltbare Trend bewegt sich in Richtung einer von SUVs angeführten Militarisierung der Autobahnen im Zusammenspiel mit einer allgemeinen Militarisierung und Immobilisierung urbaner Räume. Das augenfälligste Symbol hierfür ist die Massenvermarktung eines tatsächlichen Kriegsfahrzeugs, des von der Armee verwendeten Humvees, als Familientransporter auf dem neuesten Stand der Technik. Die kaum veränderte zivile Version, der Hummer, ist eine Art Tyrannosaurus Rex der Autobahn, und sein größter Unterstützer und Verkäufer ist der Schauspieler Arnold Schwarzenegger gewesen, dessen vier extra für ihn angefertigten Hummer lange Zeit eine der Touristenattraktionen Santa Monicas waren. Ob die Machtübernahme des Terminators als Gouverneur und die »Befreiung « von Millionen von Litern irakischen Öls bedeuten, dass die Ära des SUV niemals an ein Ende kommen wird, muss sich allerdings erst noch zeigen. 

Aus dem Englischen von Robin Celikates



 
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