Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #6: Wie leben



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



KOLLAPS

 
Claus Leggewie, Harald Welzer
Anpassung an das Unvermeidliche?
Klimawandel als kulturelles Problem
 
Jürgen Trittin
Ökologischer Materialismus
Wie die Natur politisch wird
 
Mike Davis
Heavy Metal Freeway
Autofahren am Rande des Nervenzusammenbruchs
 
Christine Heidemann
Kondensate des Protests
Anmerkungen zum Verhältnis von Kunst und Ökologie
 
Anton Leist
Konflikt statt Konsens
Zur vergeblichen Demokratisierung der Umwelt
 
Arnd Pollmann, Stefan Huster, Johan Frederik Hartle, Ödön von Horváth
Ist es links?: >Entfremdung<
 
Anja Wenzel
Bleib und komm wieder
Der Bicaz-Stausee in der rumänischen Moldowa
 
Raimar Stange
Das Klima ist ein Klima ist ein Klima
Kunst und Klimawandel als geschlossenes System
 
Der wahre Text: >Nachhaltigkeitsbericht 2008<
Neue Berliner Sprachkritik
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Naturschutz<
 
Stephan Ertner
Sinncontainer: >Verzicht<



WIDER DIE NATUR

 
Émilie Hache, Bruno Latour
Die Natur ruft
Wem gegenüber sind wir verantwortlich?
 
John Dupré
Technologische Tiere
Was ist natürlich an der menschlichen Natur?
 
 

Chacho Liempe

Widerstand gegen das Verschwinden

Die Erfahrung der Mapuche


In der Sprache der Mapuche, dem Mapudungun, bedeutet »Mapu« Erde und »Che« Mensch. Die Mapuche nennen sich selbst folglich »Menschen der Erde«. Seit der gewaltsamen Unterwerfung durch die europäischen Eroberer kämpften die auf dem heutigen Gebiet Chiles und Argentinies lebenden Mapuche gegen die Vertreibung von ihren Gebieten. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts setzen sie sich massiv gegen die Ausbeutung ihrer Gebiete durch multinationale Konzerne und die Abwertung ihrer hierarchiefreien Kultur und Organisationsform zur Wehr und fordern die Anerkennung ihrer Lebensform und ihres Wissens. Chacho Liempe, politischer Referent des Consejo Asesor Indígena (CAI, Rat der Indige¬nen), plädiert für eine solidarische und ökologische Ökonomie und die Anerkennung des anderen, wenn wir auf diesem Planeten gemeinsam überleben wollen.

Ich erzähle von unserer spezifischen Perspektive als Gemeinschaft der Mapuche. Ich erzähle von unserer Form der Ökonomie, von unserer Erfahrung, uns als Kooperative zu organisieren, und von den rechtlichen Problemen, mit denen wir zu kämpfen hatten. Aber zunächst möchte ich erklären, wer wir sind. Meine Geschichte impliziert nicht nur mich, sondern auch meine Familie und meine Familie innerhalb der Gemeinschaft der Mapuche. Vor beinahe hundert Jahren lief unser lonco [Häuptling] diese Strasse entlang; sie brachten ihn nach La Plata, wo er sterben sollte. Ich dachte auch daran, wie sich wohl der Kazike Pincén gefühlt haben mag, als man ihn in Ketten legte, um ihn auf der Insel Martín García umzubringen. Unser Kampf fügt sich in die Tradition ihres Kampfes. So wie wir heute, versuchten auch sie, ihren Lebensraum zu verteidigen, um weiter so zu leben, wie sie es bis dahin getan hatten.

Unser Leben hat sich im Laufe hunderter, tausender Jahre im Einklang mit der restlichen Natur entwickelt, nicht gegen sie. Deshalb haben wir eine immense Kenntnis über die Natur. Wir kommen aus der Natur, und wir sind Teil der Natur. Die Natur besitzt uns, nicht umgekehrt. Wir sind Menschen, die der Erde gehören. Darin zeigt sich der klare Unterschied unseres Verständnisses zum gültigen System des Kapitalismus, dessen zentrales Element das Privateigentum ist. Das Privateigentum ist für die westliche Kultur essentiell. Wir sind anders, niemand ist Herr oder Besitzer: Wir sind nicht die Besitzer des Landes, sondern wir gehören zur Erde.

Zur Konfrontation unseres Denkens mit dem Kapitalismus kam es sofort nach der Invasion unseres Kontinents. Es musste so kommen, denn die kapitalistische Denkweise, diese Ideologie, schreitet voran und wenn sie voranschreitet, sucht sie vor allem die Aneignung der Erde. Um sich unser Gebiet anzueignen, musste unsere Gemeinschaft zerschlagen werden.

Heute haben wir uns eine Menge rechtliches Wissen angeeignet, um unser Territorium zu verteidigen und die Zurückerlangung unseres Landes voranzutreiben. Das Territorium ist für uns der Lebensraum in all seinen Dimensionen, kein durch Gesetze festgelegtes Land wie es von Staatsseite gehandhabt wird. Es ist ein Territorium für Gemeinschaften.

Während der letzten großen Krise des Landes 2001 forderte ein großer Teil der Gesellschaft: »que se vayan todos« (alle sollen abhauen). Hinter diesem Aufruf steht die Forderung, mit allen gemeinsam über eine Alternative nachzudenken, über eine andere Form zu leben und zu regieren. Damit waren wir einverstanden und es machte uns zufrieden, in diesem Moment mit einem Großteil der Gesellschaft übereinzustimmen. Uns gefiel die Herausforderung, darüber nachzudenken, wie neue Formen sozialer Bindungen aussehen könnten oder welchen Namen die neue Politik tragen würde. Eines war und ist für uns sicher: Komme, was wolle, es muss sich radikal vom jetzigen System unterscheiden.

Wir passen in keine der Schubladen des Systems

Dabei taucht das Problem der Akzeptanz des anderen auf. Wie können wir an Alternativen denken, wenn wir nur an uns denken? Wie werden wir ein gemeinsames Denken entwickeln, wenn wir nur unter uns übereinstimmen? Wenn wir weiterleben wollen, müssen wir das andere respektieren. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, geht es nicht weiter, so werden wir immer Probleme haben. Wir aber wollen weiterleben: Aber wir wollen so weiterleben, wie wir sind.

Das Problem ist ein kulturelles: Wir passen in keine der Schubladen des Systems. Als wir anfingen uns zu organisieren, drehte sich unsere Agenda darum, unsere Identität zu erhalten. Innerhalb dieses Entwurfs war eine mögliche Lösung, um unsere Produkte zu verkaufen, uns als Kooperative zu organisieren. Also gründeten wir eine Kooperative, obwohl wir nicht die geringste Ahnung hatten, wie das funktioniert.

Schließlich haben alle bei der Kooperative mitgemacht. Und man hat uns lächerlich gemacht. Das System ist nicht kompatibel mit uns. Denn wir leben von Natur aus auf kollektive und gemeinschaftliche Weise, deshalb entzieht uns alles Rechtliche und Strukturierte die Kontrolle. Wir verlassen uns auf Gefühle, um zu verstehen, was getan werden muss. Um zu verstehen, dass bei der Wollernte den älteren Menschen geholfen werden muss, beim Wiegen, beim Transport, beim Sammeln. Es ist für uns selbverständlich, dass alle die Rechnungen verstehen müssen. Dass das alle lernen müssen, auch die Jugendlichen. Das alles erlernen wir auf natürliche Weise, weil es so sein muss. Alle müssen das Wissen teilen. Keiner ist unentbehrlich. Wir haben unsere Lebensform, doch der Staat zwingt uns, diese Form seinen Vorgaben anzupassen. Und nicht nur der Staat mischt sich ein. Wir merken jetzt, dass da auch die Weltbank ist mit ihren Ansprüchen, die sie über verschiedene NGOs stellt, die Produktionsprogramme finanzieren und mit unseren Leuten zusammenarbeiten.

Wir zählen auf andere Organisationen, die wie wir denken und zum Dialog und Erfahrungsaustausch bereit sind. Der Austausch hilft uns, die Welt zu verstehen und aus der Begrenzung, nur als Mapuche zu kämpfen, herauszukommen. So verstanden wir, dass die Sache viel umfassender und komplexer ist und die Grenzen eines Landes überschreitet. Unsere Kinder haben schon begonnen, ihren Weg zu gehen, und was von hier weiter geschieht, hängt von uns als Gemeinschaft der Mapuche ab, aber auch davon, wie sich die gesamte Gesellschaft entwickelt, mit der wir den Dialog verstärken müssen.

Vom Ursprung zur Atombombe

Wir kämpfen um das Territorium, die Campesinos um Land. Das ist ein ziemlich komplexes Thema. Die Stadtbewohner ernähren sich von Fleisch, von Eiern, von Mehl, von allem, was das Land produziert. Die Kleinbauern und die Landarbeiter verstehen unseren gemeinsamen Kampf. Was sie nicht verstehen, ist, dass wir uns nicht assimilieren wollen; sie akzeptieren unsere Forderungen als Gemeinschaft nicht. In diesem Punkt denken die Campesinos genau wie die Kapitalbesitzer: Sie sehen den Boden einzig als Produktionsmittel. Wir haben einen anderen, sehr viel profunderen Entwurf. Vielleicht denken selbst Sie, es handele sich um eine kulturelle Marotte, die nichts mit der Realität zu tun hat.

Als ich klein war, redete ich viel mit meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter, die hier aus Azul kam. Sie war Ranculche, ein Zweig der Mapuche, den die Wissenschaftler fälschlicherweise »ranqueles« nannten, um sie von uns zu trennen. Die Ranculche gehören zu unserer Gemeinschaft. Meine Ranculche Großmutter erzählte mir vom Ursprung der Welt, dem ursprüglichen Kataklysmus, durch den die Welt entstanden ist. Meine Großmutter war überzeugt, dass dieser Kataklysmus sich wiederholen und viel Leid über die ganze Welt, nicht nur die Mapuche, bringen würde. Ich habe mich immer gefragt, wie dieser Kataklysmus wohl sein werde. In einem Moment dachte ich, ob es vielleicht die Atombombe wäre. Das war in den Zeiten, als immer einer der beiden Sektoren kurz davor war, den »roten Knopf« zu drücken. Dann fiel die Mauer, und in der letzten Zeit finde ich Erklärungen für das Rätsel meiner Großmutter. Ich beginne zu verstehen, warum meine Vorfahren so sehr auf darauf insistierten, dass es notwendig ist, die Umwelt zu kennen, unser Umfeld, zu dem wir gehören, zu schützen. Heute erleben wir den Klimawandel, der durch die Zerstörung der Natur weltweit stattfindet: Es gibt schon fast keine Wälder mehr, die Gletscher schmelzen, die Meere sind verschmutzt, es gibt immer weniger Trinkwasser … Meine Großmutter lag nicht so falsch.

Sie sind die Herren der Welt

Diese Situation, die uns solche Sorge bereitet, wollen wir mit der gesamten Gesellschaft diskutieren, weil alle davon betroffen sind. Wir müssen alle gemeinsam über andere Formen nachdenken. Es handelt sich nicht um ein rein ökologisches Problem: Es geht nicht darum, weniger Wasser zu verbrauchen, seltener zu baden oder Energiesparlampen zu benutzen. Es geht darum zu verstehen, wer für die Zerstörung des Lebens verantwortlich ist. Unsere Regierungen sind nicht in der Lage, Gesetze, Programme oder politische Richtlinien zu bestimmen, um die Zerstörung von Leben zu verhindern, zumindest nicht in diesem Land. Auch sie unterliegen den großen Interessen der Welt, den großen Kapitalbesitzern, die die politischen Rahmenrichtlinien begutachten. Sie diktieren, wie sich das Leben der Gemeinschaften zu entwickeln hat, erfinden, was Umweltpolitik ist, während sie gleichzeitig die Wälder abholzen. Sie armieren die Politik für die Produktion und drängen ihnen Soja auf, wodurch sie große Teile der Produktion zerstören. Dazu kommt die Veräußerung unseres Landes und die Aneignung des Wassers. Es gibt hier so unglaubliche Personen wie den Besitzer der Lagune von Iberá, der ganz ruhig auf den Titelseiten der Zeitschriften proklamiert, er habe die Lagunen von Iberá gekauft, um sie zu erhalten. Wer glaubt ihm? Alle glauben ihm, und niemand greift ihn an. Sie sind die Herren der Welt.

Frauen tragen in allen Kulturen eine bedeutende Rolle, auch in unserer. In unserem heutigen Leben haben sich Gewohnheiten und neue Verhaltensweisen wie der individualistische Egoismus oder der Machismo verfestigt. Auch wir fielen dem zu Anfang unseres Kampfes zum Opfer. Aber unsere Frauen haben uns gerettet. Sie sind es heute, die den Kampf in erster Reihe vorantreiben, denn sie sehen, leiden und haben ein tiefes, essentielles Verständnis der Realität. Sie sind der Antrieb und die Stütze unserer Kultur. Doch dieser Kampf wird nicht als rein feministische Forderung vorangetrieben, sondern ist Teil des Kampfes der gesamten Gemeinschaft. 

Aus dem Spanischen von Julia Roth.

Der Text basiert auf einem Vortrag im Rahmen des Symposiums »El trabajo por venir« (»Die Arbeit der Zukunft«) Ende 2006 am Goethe-Institut Buenos Aires, der im Sammelband zur Konferenz erschienen ist (El trabajo por venir. Autogestión y emancipación social, herausgegeben von Norma Giarraca und Gabriela Massuh, Editorial Antropofagia 2008).



 
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>Literatur<



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