Der Österreicher Ulrich Seidl hat ein Kinogenre erfunden, den Semi-Dokumentarfilm, und so mancher Dokumentarfilmer hasst ihn dafür. Es sei unredlich, was Seidl seinen Protagonisten antut, so die Argumentation. Der »reine« Dokumentarfilm zeigt, was die Wirklichkeit für uns an Einblicken in fremde Welten bereit hält. Weil bei vielen Menschen die Selbstschutzmechanismen intakt sind und die Bereitschaft fehlt, sich gänzlich vor der Kamera zu entblößen, kann eine Dokumentation zuweilen enttäuschend sein.
Nicht so bei Seidl. Das Material, das er sich für seinen Film wünscht und auf herkömmliche Art nicht bekommt, inszeniert er einfach. Für die 1995 entstandene Semi-Dokumentation Tierische Liebe sucht der Regisseur seine Darsteller, alles Tierhalter, im Wiener Armenviertel. Die sind erfahrungsgemäß willfährig gegenüber Regieanweisungen. Vielleicht haben sie einfach nur weniger zu verlieren oder sehnen sich nach dem großen Auftritt vor Publikum. Diese Leute folgen Seidl blind: Ein obdachloser, junger Schnorrer onaniert vor seinem Hund. Ein Arbeitsloser hat Telefonsex und lässt sich später nackt mit Wauwi an der Leine ablichten. Ein Pärchen, das für Partnertausch annonciert und Kaninchen hält, kopuliert miteinander – vor laufender Kamera und dem Regisseur zuliebe.
Der einzige Ansprechpartner und Quell’ von Zärtlichkeit sind Hund, Kaninchen oder Frettchen. Diese Aufnahmen brennen sich in der Zuschauerseele ein. Nahezu zwei quälende Stunden lang sehen wir Menschen zu, wie sie mit ihren Kötern knabbernde Zungenküsse tauschen. Eine verblühende Schönheit rollt im Liebesspiel auf dem Bett mit ihrem übergewichtigen Husky herum. Eine Frau posiert im Minikleid und mit hochhackigen Pumps auf dem Sofa und krault ihren Hund hingebungsvoll zwischen den Beinen. Fragt sich, was der Wiener Tierschutzverein dazu meint…
Trotz der Kritik an Seidls Arbeitsweise sei gesagt: Wir ahnen, es gibt das alles wirklich. Regiekollege Werner Herzog bringt es auf den Punkt: »Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.«