Stifter gilt als langweiliger Autor. Unaufgeregt und sehr langsam beginnen seine Erzähltexte, oft mit der Beschreibung von Dingen, die mit der Handlung des Textes scheinbar nichts zu tun haben. Und auch worin dann, im Verlauf der jeweiligen Erzählung oder des Romans, die eigentliche Handlung besteht, lässt sich manchmal gar nicht so leicht ausmachen. Denn es passiert recht wenig und, wie gesagt, es dauert recht lange. Trotzdem kann Stifter unglaublich spannend sein. Das ist immer dann der Fall, wenn er die Gewalt der Natur beschreibt. Einen Hagelsturm auf offenem Feld, der alles zerschlägt (in Katzensilber). Ein lang andauernder, lautloser und dichter Schneefall, der alle Sinneswahrnehmungen zu einer »einzigen weißen Finsternis« verwischt (Bergkristall). Oder die Folgen eines Eisregens, der auf die dick verschneiten Bäume eines Waldes heruntergeht. Wenn die Protagonisten hier ein seltsames Wehen, Sausen, Krachen und Klirren hören, so können sie das erst nach und nach richtig deuten: Es ist das Geräusch der Bäume, die unter ihrer Last zusammenbrechen und umstürzen und die auf einmal eine Bedrohung fürs Leben geworden sind (Die Mappe meines Urgroßvaters).
Die Wirkung solcher Passagen entsteht dabei gerade aus ihrer ruhigen, sachlichen Beobachtung, in denen die Verhältnisse der Natur als unerbittliche Übermacht kenntlich werden. Diese Erzählhaltung ist das Gegenteil von romantisch, denn sie geht nicht vom menschlichen Subjekt aus. Ja, der Mensch scheint eigentlich (zumal beim frühen Stifter) gar keine Rolle zu spielen angesichts der Dominanz der Natur. Er ist nur ein winziges Etwas, das von ihr jederzeit vernichtet werden könnte. Man wagt als Leser kaum zu atmen, wenn zwei kleine Kinder, die sich im Hochgebirge verirrt haben, bei einbrechender Nacht stundenlang ahnungs- und orientierungslos über einen Gletscher laufen, in Eishöhlen spazieren und über Spalten steigen (Bergkristall). Hier ist es ein Wunder, wenn der Mensch die Natur überlebt − und nicht umgekehrt, wie heute vielleicht. Es gibt keinen deutschsprachigen Autor, der spannender von dieser Natur erzählt, als Stifter, der Meister des natural suspense.