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Peter Siller

Der Streit um das Allgemeine

Parteien als entscheidende Institution in der demokratischen Auseinandersetzung um die allgemeine Gesetzgebung


Demokratie ist mehr als der Kampf zwischen unterschiedlichen Einzel- oder Gruppeninteressen. Ihre Kraft liegt in der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Auffassungen des Allgemeinen, des Gerechten, und damit des gegenüber Allen Rechtfertigbaren. Ein demokratischer Streit in diesem Sinn lässt sich ohne die gemeinsame Annahme einer Wahrheit im Sinne eines allgemein Richtigen gar nicht führen. Entgegen dem Verdruss und den Abgesängen sind es die Parteien, denen als Institution die Aufgabe zukommt, diese Auffassungen zum Zwecke der allgemeinen Gesetzgebung zu bündeln, ins Gespräch zu bringen und in legislative Entscheidungen zu überführen. Wer sonst sollte jene grundlegenden politisch-weltanschaulichen Alternativen formulieren, die aus der Demokratie überhaupt erst einen Raum der Möglichkeiten machen, anstatt sie in einer Rhetorik des Sachzwangs verkümmern zu lassen? Es ist überfällig, der aktuellen Renaissance des Parteienressentiments zu begegnen, das gerade in Deutschland eine lange, unselige Geschichte hat. Gleichzeitig gilt es, die Parteien an ihre spezifische Aufgabe zwischen Gesellschaft und Legislative zu erinnern, an der sie sich messen lassen müssen.

Einmischung statt Abwendung

Die Parteien stehen mit der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte als Institution unserer Demokratie in mehrfacher Hinsicht unter Druck: Sie tun sich ausgesprochen schwer, ein Spektrum unterschiedlicher politisch-programmatischer Orientierungen zu eröffnen und damit erst einen Raum der demokratischen Entscheidung zu schaffen. Damit einher geht oftmals der Verlust streitbarer Diskurse in und zwischen den Parteien - als Impulsgeber gesellschaftlicher Diskurse wie als Grundlage argumentativer Aushandlungsprozesse. Schließlich sinkt die repräsentative Kraft der Parteien, die Überzeugungen und Interessen aus den verschiedenen Schichten und Milieus gleichermaßen aufzunehmen und in Orientierungsvorschlägen zu bündeln.

Diese Probleme der mangelhaften Unterscheidbarkeit, Diskursivität und Reprä­sentativität haben hausgemachte Gründe; sie resultieren aber noch mehr aus tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen: dem Kompetenzverlust der nationalen Demokratien im Zuge der Europäisierung und Globalisierung; dem Ideenverlust einer (vermeintlich) postideologischen/postmodernen Konstellation; dem Verständnis von Politik als lebenslanger Beruf; dem Rückzug ins Private als Reaktion auf eine veränderte Arbeitswelt; einer extrem beschleunigten Mediengesellschaft, nicht zuletzt im Zuge der Digitalisierung, sowie einer sozialen Spaltung, die sich auch in einer demokratischen Kluft widerspiegelt.

Vor dem Hintergrund dieser Diagnose ist es umso besorgniserregender, dass eine öffentliche Auseinandersetzung um die zukünftige Gestalt unserer Parteien, ihre Aufgaben und die Strukturen ihrer Aufgabenerfüllung nicht stattfindet. Im Gegenteil: Statt einer zugewandten Kritik, in der Absicht, es besser zu machen, erblüht ein Parteienressentiment bis tief in die Mitte der Gesellschaft, auch der intellektuellen Mitte. Statt kritischer Intervention erleben wir behäbige Verachtung, populistischen Rückzug, teils aggressive Abwendung - und den Applaus, den man dafür nicht nur an Stamm-, sondern eben auch an Bistrotischen bekommt.

Denjenigen, die diese aggressive Parteienverdrossenheit für ein neues Phänomen in Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen halten, sei gesagt: Die Verachtung gegenüber Parteien und ihrem »schmutzigen Geschäft« hat gerade in der Bundesrepublik eine inzwischen jahrhundertealte, antidemokratische Tradition. Sie ist im Grunde so alt wie der Gedanke von Parteien als Akteure unserer Demokratie. Dahinter steht zum einen die autoritäre Sehnsucht nach einer neutralen, objektiven Instanz, welche die Dinge ohne demokratischen Streit und eine Beteiligungserwartung der Bürgerinnen und Bürger regelt. Dahinter steht zum anderen ein Populismus der politischen Unmittelbarkeit in Entgegensetzung zu Institutionen der demokratischen Repräsentation, die eine nicht-autoritäre Praxis der Demokratie in Raum und Zeit überhaupt erst ermöglichen.

Heute sehen profilierte Fernseh-Intellektuelle ihre Aufgabe darin, die Bürgerinnen und Bürger für die Option des Nichtwählens zu sensibilisieren. In einer Umfrage der Zeit gab es vor den letzten Bundestagswahlen unter 48 namhaften Kunstschaffenden und Intellektuellen eine absolute Mehrheit von 58,3 Prozent, die nicht bereit ist, eine bestimmte Wahlpräferenz zu artikulieren oder gar zu argumentieren. Für Richard David Precht ist »die Wahl zwischen Wählen und Nichtwählen nicht wirklich wichtig«. Nach Peter Sloterdijk ist unter den etablierten Parteien »im Augenblick schlechthin keine wählbar«. Und für Ernst-Wilhelm Händler bedeutet die Stimme für eine Partei, »nicht nur einen Charakterfehler in Kauf zu nehmen, sondern sich bewusst für ihn zu entscheiden«. Und Harald Welzer leitet seine postdemokratische Frustration im Spiegel mit der Aussage ein: »Warum ich nicht mehr wähle«.

Eine in diesem Zusammenhang beliebte Diagnose unserer Zeit lautet, wir lebten in einer »Postdemokratie«. Doch so sehr unsere Demokratie an verschiedenen Stellen gefährdet ist, so sehr sollten wir uns klar machen, dass eine Revitalisierung nur gelingen kann, wenn wir uns unserer bestehenden Demokratie und ihren Institutionen kritisch zuwenden. Das fatalistische Bild, wir lebten längst »nach der Demokratie«, mag für intellektuelle Drastik (und entsprechenden Applaus) sorgen, erleichtert aber am Ende nur den Parteiverdrossenen die Abwendung.

Dieser Parteien- und Politikerverdruss wird befördert durch einen Medienbetrieb, der auf den Zuspruch durch opportunistische Zuspitzung baut, befeuert durch den Shitstorm einer anonymisierten Netzgemeinde. Seine Bestätigung findet er in einer zerknirschten Selbstgeißelung der Kritisierten, die meist konsequenzlos bleibt. Und wenn Konsequenzen vorgeschlagen werden, wie etwa die Ausdehnung des Wahltages auf eine Woche oder die Ausdehnung der Wahllokale auf Einkaufszentren, so sind es lediglich Schnellschüsse ohne Analyse und Strategie.

Ins Leere geht auch die Vermutung der Parteizentralen, dass es sich vorrangig um ein kommunikatives Problem handele, es folglich nur einer anderen Ansprache der Wählerschaft sowie der Parteimitglieder bedürfe. Tatsächlich ist Abhilfe nur über eine Selbstvergewisserung der demokratischen Aufgabe von Parteien möglich, verbunden mit einer Auseinandersetzung über die tieferen gesellschaftlichen Ursachen der Parteientransformation. Jede Reform der Parteien muss diesem Wandel Rechnung tragen, ohne sich ihm blind anzupassen. Parteien müssen vielmehr auf die veränderten Voraussetzungen der eigenen Existenz in einer Weise reagieren, die ihrer legitimatorischen Grundlage Rechnung trägt, Institution der demokratischen Willensbildung und Repräsentation an der Schnittstelle zur Legislative zu sein.

Worauf gründet unsere demokratische Überzeugung?

Wenn wir über die notwendigen Erwartungen an Parteien sprechen, müssen wir wieder über die Idee der Partei sprechen. Die normative Aufhellung der spezifischen Aufgabe von Parteien in unserer Demokratie ist Grundvoraussetzung für die Beschreibung, in welcher Hinsicht es Probleme gibt und wie sich diese vom Ressentiment unterscheiden. Sie ist auch notwendig, um Entwicklungsperspektiven und konkrete Ansätze zu beschreiben, die auch wirklich einen demokratischen Fortschritt bedeuten.

Auf der Suche nach der Idee der Partei kommen wir wiederum nicht umhin, nochmals sehr grundsätzlich zu fragen, worin sich überhaupt unsere demokratische Grundüberzeugung, unsere berechtigte Hoffnung auf demokratische Prozesse begründet. Ohne an dieser Stelle auf die lange und vielfältige Ideengeschichte der Demokratie eingehen zu können, in einfachen Worten: Es ist die Überzeugung, dass wir im Gespräch über unsere unterschiedlichen Auffassungen vom für alle Richtigen am Ende per Mehrheitsentscheidung zu besseren legislativen Ergebnissen kommen.

Mit dieser Beschreibung verbindet sich sicher auch die berechtigte Hoffnung auf ein friedensstiftendes Moment über die allgemeine diskursive Beteiligung an Entscheidungen. Im Kern geht es ihr aber um den Zusammenhang der Qualitäten von verallgemeinernden Entscheidungen und verallgemeinernden Diskursen. Ohne Input kein Output.

Eine solche Beschreibung unserer demokratischen Überzeugung mag für manche auf den ersten Blick selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Sie ist insbesondere eine Absage in zweifacher Hinsicht: Sie ist zum einen Absage an eine Idee der Demokratie als bloßem Kampf von Eigeninteressen, bei denen sich am Ende die Mehrheit durchsetzt. Sie ist aber zum anderen auch eine Absage an eine Vorstellung von dem Allgemeinen, das schon im Vorhinein, vor dem argumentativen Austausch unterschiedlicher Allgemeinwohlauffassungen, feststeht.

Jede Auffassung vom Allgemeinen, vom Gerechten, muss über die unterschiedlichen Interessen der Betroffenen informiert sein. Interessenartikulation, Lobbyismus in eigener Sache, ist in diesem Sinn bei gleichem Zugang eine Voraussetzung von Demokratie. Aber Demokratie geht darüber hinaus: Interessensartikulation ist noch kein Vorschlag der gerechten, verallgemeinernden Interessensaggregation. Und erst im Streit um unterschiedliche Auffassungen vom Allgemeinen begründet sich die diskursive Hoffnung, den anderen als Gleichen in die Argumentation einzubeziehen, anstatt ihm bei Interessenskonflikten explizit oder implizit den Krieg zu erklären.

Natürlich sind auch Auffassungen vom Allgemeinen oftmals, fast notwendigerweise »interessensgefärbt«. Moralische, politische oder rechtliche Auffassungen vom allgemein Richtigen sind oftmals tief eingelassen in die Interessenslage des eigenen sozioökonomischen Milieus. Diese Interessensüberlagerung kann direkt und unverhohlen sein, sie kann aber auch subtil und auf verwinkelten Pfaden entstehen. Der autosuggestive Akt der Moralisierung eigener Statusvorteile. Das gilt auch für diejenigen gebildeten Milieus, deren Auffassungen so selbstlos postmateriell daher kommen, hinter denen aber die knallharte Verteidigung des ökonomischen und soziale Status stehen kann. In diesem Sinn ist ein Verständnis unserer Demokratie als Auseinandersetzung um das Allgemeine immer auch ein ständiger Prozess der Selbstaufklärung über die Differenz von sublimem Eigeninteresse und Verallgemeinerung (unter Berücksichtigung der eigenen Interessen).

So wenig wir Demokratie als bloßen Interessenskampf missverstehen dürfen, so wenig dürfen wir sie aber auch als bloßes Mittel der Durchsetzung eines bereits feststehenden Allgemeinen begreifen. Die antidemokratische Sehnsucht nach dem »aufgeklärten Herrscher« setzt sich heute in der expertokratischen Hoffnung auf Exekutive, Gerichte, Kommissionen und Treuhänder fort.

Demokratie, verstanden als Streit um das Richtige heißt allerdings nicht, dass wir als Demokraten Richtigkeitsansprüche aufgeben müssen. Sowieso nicht gegenüber den Feinden der Demokratie und ihren Voraussetzungen, aber auch nicht im demokratischen Diskurs mit Blick auf diskursiv gefestigte Ansprüche normativer Richtigkeit (oder auch empirischer Wahrheit). Im Gegenteil: Der Antrieb zur wechselseitigen, argumentativen Überzeugung setzt gerade voraus, dass wir zu einem allgemein einsehbaren, gemeinsamen Punkt des Richtigen finden können. Selbst wenn wir ihn in einer bestimmten politischen Frage de facto nie erreichen werden.

Die Idee der Partei

Vor diesem Hintergrund lässt sich genauer sagen, worin eigentlich die demokratische Erwartung an Parteien bestehen sollte, was die Idee der Institution Partei ist: Parteien sind diejenigen Institutionen, die jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Auffassungen vom für alle Richtigen im gesetzgeberischen Diskurs wie in der gesetzgeberischen Entscheidung vertreten.

In diesem Sinn sind Parteien zunächst einmal als funktionale Orte zu begreifen, an denen sich so etwas wie die Interpretationen des Allgemeinen und der Streit zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zum Zweck legislativer Programmierung organisiert. Als Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Legislative sind sie - in den Worten von Christoph Menke - »Schnittpunkte von Partikularität und Universalität: Parteien repräsentieren bloße Teile des sozialen Ganzen, die aber Modelle des sozialen Ganzen entwerfen und durchzusetzen versuchen«.

Die spezifische demokratische Funktion der Partei lässt sich nur erfassen, wenn man sich ihre verfassungsrechtlich vorgegebene Legislativfunktion klar macht. »Partei« zu sein, heißt - neben der Beteiligung an der gesellschaftlichen Willensbildung - eben den Anspruch zu erheben, über die - per Liste oder Direktkandidatur bestimmten - Mandatsträger/innen unmittelbar Einfluss auf das Ergebnis parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren zu nehmen. Im Wortlaut von § 2 Abs. 1 des Parteiengesetzes: »Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen...«.

Das Alleinstellungsmerkmal der unmittelbaren Einflussnahme auf die legislative Programmierung gilt unbeschadet der sinnvollen verfassungsrechtlichen Festschreibung eines freien, also nicht-imperativen Mandats. Gute Repräsentation hat viel mit der Kontrolle über Wahlen zu tun, aber ab einem bestimmten Punkt eben auch mit dem Vertrauen in die konkrete Entscheidungskompetenz der Repräsentanten.

Erst über dieses besondere Merkmal der allgemeinen Gesetzgebungsfunktion ergibt sich die besondere Verpflichtung von Parteien, sich nicht einfach als Interessensvertreterinnen sondern als Institutionen der verallgemeinernden Interessensaggregation zu begreifen, als Protagonisten unterschiedlicher Auffassungen vom Allgemeinen.

Parteien müssen informiert sein über die unterschiedlichen Interessenslagen in der Gesellschaft, haben aber darauf aufbauend die Aufgabe der Vertretung verallgemeinerbarer Vorschläge. Erst durch ihre Interessensdurchlässigkeit lassen sich legislative Antworten entwickeln, die versuchen allen Betroffenen gerecht zu werden. Gleichzeitig stehen Parteien im Prozess der Verallgemeinerung permanent vor der Aufgabe, die Interessensüberlagerungen der Allgemeinwohlinterpretationen durch die eigene sozioökonomische Basis aufzuklären und zu korrigieren. Dieser ständige Prozess der Hinterfragung eigener Allgemeinwohlvorschläge kann auch durch die Konkurrenz mit anderen Parteien befördert werden, deren Vorschläge sich stärker mit den Interessen anderer sozioökonomischer Milieus verbinden.

Deshalb sind Parteien kategorial nicht nur zu unterscheiden von Protagonisten der Interessensvertretung, sie sind auch zu unterscheiden von 1-Issue-Organisationen oder »Bewegungen«, die ihren Verallgemeinerungsanspruch auf ein Thema begrenzen, aber sich nicht die Mühe machen, andere gesellschaftliche Bereiche mit einzubeziehen. Beide Arten von Organisationen haben eine wichtige Rolle in unserer Demokratie, Lobbyisten und Themenadvokaten. Aber wer wollte, dass dies die Akteure legislativer Entscheidungen sind?

Vor dem Hintergrund dieser Analyse unserer normativen Erwartung an Parteien macht es Sinn zu unterscheiden zwischen (1) einer Orientierungsfunktion, im Sinne des Vertretens spezifischer Auffassungen des Allgemeinen, auch in den konkreten Handlungskonzepten und Handlungsvorschlägen; (2) einer Diskursfunktion im Sinne der Einführung dieser Positionen in gesellschaftliche und institutionalisierte Diskurse und (3) einer Entscheidungsfunktion im Sinne einer entsprechenden Abstimmung in der demokratisch-legislativen Beschlussfassung. Alle drei Funktionen stehen wiederum in engem Zusammenhang mit einer vierten Funktion, der Repräsentativfunktion.

Demokratie und Zeit: Die Bedeutung der Repräsentation

Idee und Aufgabe der Institution Partei lassen sich nur erfassen, wenn man die demokratische Bedeutung intakter Repräsentation in allen drei Funktionen versteht. Dies führt auf den grundlegenden Zusammenhang von Demokratie und Zeit: Demokratie ist nur möglich, wenn dafür ein ausreichendes Maß an Zeit zur Verfügung steht.

Mit Blick auf die Vielzahl politisch-legislativer Entscheidungsbedarfe, die wir in modernen Gesellschaften treffen müssen und wollen, gibt es sowohl hinsichtlich ihrer Aufarbeitung in unterscheidbare gesellschaftliche Positionen wie auch hinsichtlich ihrer diskursiven Bearbeitung und anschließenden Entscheidung einen schlichten Faktor für die jeweilige Qualität: Zeit. Nur mit einem ausreichenden Maß an Zeit ist es überhaupt möglich, die drei beschriebenen demokratisch-legislativen Funktionen wahrzunehmen: Es braucht Zeit, um den demokratischen Raum unterschiedlicher gesellschaftlicher Auffassungen zu einer bestimmten Frage überhaupt erst zu eröffnen. Erst Recht braucht der demokratische Diskurs Zeit, also die Auseinandersetzung und das Gespräch über diese Auffassungen zu einer bestimmten Frage. Schließlich braucht auch die Rückübersetzung des diskursiven Prozesses in eine anschließende Entscheidung Zeit.

Gleichzeitig ist Zeit in der Demokratie immer endlich. Gespräche und Debatten münden in (zumindest vorläufige) Entscheidungen, werden gerade dadurch angetrieben. Aus der zeitlichen Endlichkeit der Demokratie erschließt sich die fundamentale Bedeutung von demokratischen Kompromissen, die ebenfalls auf eine lange Geschichte populistischer Anfeindungen zurückblicken können. Die Übereinstimmung am Ende einer demokratischen Auseinandersetzung ist als regulatives Ideal ein unverzichtbarer Antrieb, erreichbar ist sie in den seltensten Fällen.

Hinzu kommt die endliche Zeit der Bürgerinnen und Bürger. Trotz des wichtigen Streits für eine gerechtere Zeitpolitik in Erwerbsarbeit und Lebenslagen gilt: Zeit ist limitiert. Bürgerinnen und Bürger werden immer über unterschiedliche Zeitkontingente verfügen, und sie werden diese auch sehr unterschiedlich nutzen. Knappe Zeit ist auch auf dieser Seite ein entscheidender Grund für die demokratische Notwendigkeit starker und gerechter Repräsentation.

Knappe Zeit macht es notwendig, gerecht zu delegieren, damit die notwendige intensive Auseinandersetzung zu den vielen wichtigen Fragen der Politik überhaupt stattfinden kann. Knappe Zeit macht es notwendig, auch jene gerecht zu repräsentieren, die nicht als »Vollzeitbürger« den ganzen Tag im politischen Raum ihre Auffassungen und Interessen vertreten können. Eine Demokratie, welche die Auffassungen und Interessen bestimmter Gruppen ausschließt, etwa durch ein mangelndes Bewusstsein für die demokratische Bedeutung von Repräsentation oder durch schlechte Repräsentationsmechanismen, kann nicht gerecht sein. Präziser formuliert: Eine »Demokratie der Zeitreichen« ist deshalb eine »Diktatur der Vollzeitbürger«, weil ihre Parteien so eng und konkurrenzlos mit den Interessen einer bestimmten sozioökonomischen Schicht verbunden sind, dass in anderen Interessenslagen situierte Vorschläge des Allgemeinen keine Stimme mehr haben. Aus dem Zusammenhang von Demokratie und den Zeitbudgets unterschiedlicher sozioökonomischer Lagen ergibt sich auch ein entscheidender Faktor für die sinkende soziale Repräsentanz von Parteien im Zuge sozial auseinanderfallenden Gesellschaften.

Entgegen den Unkenrufen vom »Ende der repräsentativen Politik« (Simon Tormey) ist der Gedanke der guten - und das heißt insbesondere: gerechten - Repräsentation aktueller denn je. Der demokratische Gedanke der Repräsentation bekommt dadurch zusätzliche Dringlichkeit, dass sich der räumliche und zeitliche Entscheidungshorizont von Politik im Zuge der Globalisierungsprozesse nochmals deutlich erweitert. Gefragt ist eine »Wiederkehr der Repräsentation« im Sinne einer neuen Reflexion und Praxis der Mechanismen legitimierter Vertretung. Wie kann es gelingen die verrosteten und dysfunktionalen Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Legislative wieder in Schwung zu bringen? Anstatt sich von der Idee der Repräsentation abzuwenden, sollten wir uns der drängenden Frage zuwenden, wie wir die Repräsentativfunktion der Parteien verbessern können.

Entsprechend der normativen Aufgabenbeschreibung ergeben sich drei Stufen der repräsentativen Transformation, die Parteien leisten müssen: (1) die repräsentative Bündelung gesellschaftlicher Allgemeinwohlperspektiven und den damit verbundenen Konzepten und Handlungsvorschlägen; (2) die repräsentative Vertretung dieser Perspektive im gesellschaftlichen und parlamentarischen Diskurs; (3) die anschließende repräsentative Entscheidung. Alle drei Stufen beruhen auf einem Wechselspiel aus gesellschaftlicher Durchlässigkeit und Rückkopplung sowie funktionstüchtigen Mechanismen der Delegation.

Nach der »post-ideologischen« Hypothese: Programme, Personen, Projekte

Damit erübrigt sich in keiner Weise die Erwartung an jede Bürgerin und jeden Bürger, sich in einem republikanischen Sinn als Subjekt unserer Demokratie zu begreifen. Auf Delegation beruhende Politik ist etwas anderes als advokatorische Politik. Sich vertreten lassen, ist anspruchsvoll und anstrengend. Delegation erfordert Befassung. Meinungsbildung erfordert Auseinandersetzung. Wählen ist weit mehr, als in der Wahlkabine ein Kreuz zu machen. Und auch Repräsentation ist nur dann ein Vorteil, wenn sie sich in der öffentlichen Aufmerksamkeit eines deliberativen Raums vollzieht, der für niemanden verschlossen bleibt. Zeitunglesen braucht Zeit, in der Eckkneipe mitreden braucht Zeit usw.

Es wäre falsch, vor dem Hintergrund dieser ideellen Beschreibung Parteien auf das klassische Profil von Programmparteien zu verkürzen. Die parteipolitische Perspektive auf das Allgemeinwohl erweist sich in der Erarbeitung konkreter Konzepte auf den verschiedenen Themenfeldern (Konzeptpartei) wie auch in der Entwicklung und Durchsetzung konkreter Projekte mit zeitlichem Abschluss (Projektpartei). Sie erweist sich in Repräsentanten und Führungspersonen, die mit ihrer Person für ein bestimmtes Angebot der gesellschaftlichen Orientierung einstehen (Personenpartei).

Dennoch ist eine Quintessenz der Idee der Partei, dass diese regelmäßig eine Verständigung über ihre Grundsätze, über ihre Auffassungen des Allgemeinen bzw. der Gerechtigkeit brauchen, um ihre Kernfunktion erfüllen zu können (vgl. Peter Siller, Die Rückkehr zur Sprache; in: Sprache. Macht. Denken, Campus Verlag 2014, S. 231-250). Es ist ein fataler Irrtum, auch in den Parteien selbst, Grundsatzdebatten und grundsatzprogrammatische Arbeit als »Nice-to-have« oder gar störend zu erachten. Denn hier entscheidet sich am Ende, ob es einer Partei gelingt, im wechselnden Blick mit der Konkretion von Konzepten und Projekten, eine gesellschaftliche Orientierung sichtbar zu machen und zur Wahl zu stellen. Unterscheidbarkeit und Wiedererkennbarkeit in einem inhaltlichen Sinn bekommt man nicht geschenkt und kann sie auch nicht bei Werbeagenturen kaufen, man muss sie sich erarbeiten. Dabei geht es weniger um das Textergebnis auf Papier bzw. Bildschirm, sondern um die diskursive Aneignung einer gemeinsamen Grundposition, die sich dann in jeder Form der Kommunikation niederschlägt.

In diesem Zusammenhang ist auch der Verweis auf eine »post-ideologische« Entwicklung der Gesellschaft, in der sich grundsätzliche Alternativen nicht mehr beschreiben ließen, gelinde gesagt denkfaul. Es gibt keinen Grund, der alten ideologischen Konstellation nachzutrauern. Aber wer die dramatischen Herausforderungen der Gegenwart nicht als analytische und normative Aufforderung begreift, grundsätzliche Orientierungsantworten zu geben, hat etwas verpasst. Auf den aggressiven Anti-Modernismus unserer Zeit, den Demokratieverlust einer globalisierten Ökonomie, das soziale Auseinanderfallen der Gesellschaften, die globalen Fluchtbewegungen oder die Zerstörung unserer Umwelt ist eine rein »pragmatische« Antwort zum Scheitern verurteilt. Die »Ideologie des Pragmatismus« ist noch nicht einmal in der Lage, die Probleme zu beschreiben, geschweige denn zu ihnen eine Haltung einzunehmen. Eine Selbstbehauptung unserer Überzeugungen von Freiheit, Gleichheit und Demokratie erfordert vielmehr eine Selbstvergewisserung: Worin liegt unser Wahrheitsanspruch einer reflexiven Moderne? Was ist unsere Vorstellung von Liberalität? Was ist unser Anspruch an soziale und demokratische Teilhabe? Was ist unsere politische Idee von inklusiver und grüner Ökonomie?

Der Aufruf zu einer »neuen Grundsätzlichkeit« geht unmittelbar an die Parteien, in ihrer diskursiven Funktion als Protagonisten grundlegender legislativer Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den resignativen Lesarten der Postmoderne als Ende der Ideologien, der Geschichte und der Systemalternativen sollten sie die - gar nicht mehr neue - Diagnose der »Unübersichtlichkeit« als Aufforderung zu grundsatzprogrammatischer Reflexion begreifen, durch die auch ihre konkreten Projekte und Positionen eine Orientierung bekommen.

Dabei müssen die Parteien unter anderem wieder die Synapsen frei schalten für all die intellektuellen und kulturellen Orientierungsvorschläge, die es ja gibt, und die immer und zwangsläufig bestehende Ideen weiterdenken, transformieren und verändern. (Wie auch umgekehrt politische Theorie und Kunst wieder den Dialog aus ihrer ganz eigenen Sphäre suchen müssten, anstatt es sich in der Oase des »eigentlich Politischen« gemütlich zu machen).

Unterscheiden lernen: Ressentiment und Kritik

Erst durch diese normative Funktionsbestimmung der Institution Partei für die Demokratie ist es jetzt auch möglich, genauer zu unterscheiden, wo Parteienkritik auf eine bessere Funktionserfüllung zielt, und wo sie auf einem anti-demokratischen Ressentiment beruht.

Eine Parteienkritik, die ein autoritäres »Ruhebedürfnis« nutzt, um den demokratischen Streit um politische Alternativen zu diffamieren, bedient ein anti-demokratisches Ressentiment. Eine Parteienkritik, die sich Gedanken macht, wie wir wieder zu mehr parteipolitischer Auseinandersetzung kommen, ist dringend gefragt.

Eine Parteienkritik, die - über welche Sachzwangslogik auch immer - dem demokratischen Diskurs die Zeit rauben will, bedient ein anti-demokratisches Ressentiment. Eine Parteienkritik, die hilft, den diskursiven Austausch in endlicher Zeit optimal zu befördern, ist dringend gefragt.

Eine Parteienkritik, die mit dem Versprechen der »Unmittelbarkeit« - sei es ein »unmittelbarer Volkswille« oder ein »unmittelbares Bürgerinteresse« - Institutionen der gerechten Repräsentation diffamiert, bedient ein anti-demokratisches Ressentiment. Eine Parteienkritik, die die soziale Durchlässigkeit und die Repräsentanz dieser Institutionen erhöhen will, ist dringend gefragt.

Legitimationsblockaden der Parteien

Eine Analyse der Funktionsprobleme oder gar Funktionsverluste der Parteien lässt sich erst jetzt vornehmen, nach einem Nachdenken über eine zeitgemäße ideelle Funktionsbeschreibung der Parteien für unsere Demokratie. Daran mangelt es auch den vielen politikwissenschaftlichen Beiträgen, die sich in der Regel in der Routine deskriptiver Problembeschreibungen üben, ohne eine Brücke zu den normativen, demokratietheoretischen Kriterien ihrer Analysen zu schlagen. Was meint eigentlich »Legitimation des politischen Gemeinwesens«? Woran misst sich die »Sozialisation von Bürgern in den politischen Prozess«? Wodurch Qualifiziert sich die »Rekrutierung politischen Führungspersonals«? Wenn es sich dabei um mehr handeln soll, als um Spiegelstriche zum Abhaken, brauchen wir ein neues Wechselspiel von Analyse und Idee.

Im letzten Vierteljahrhundert lässt sich ein erkennbarer Repräsentationsverlust der Parteien verzeichnen, auch wenn sich etwa die geschlechterdemokratische Repräsentation immerhin verbessert hat. Die Symptome sind insbesondere eine kontinuierlich schwindende Wahlbeteiligung, abnehmende Mitgliederzahlen, eine soziale Selektivität der Teilnahme an politischen Willensbildungsprozessen sowie ein Vertrauens- und Ansehensverlust der Parteien und Politiker/innen in der Öffentlichkeit. Die Bindung der Parteien an sozialmoralische Milieus schwindet, die Bedeutung von Wahlnormen und -orientierung vermittelnden Großorganisationen (wie Gewerkschaften, Kirchen oder Verbände) nimmt ab und die individuellen Neigungen bestimmen zunehmend das Wahlverhalten.

Hinzu kommt eine Abnahme an konkurrierenden Orientierungsvorschlägen: Der Parteienwettbewerb kreist um Personen, Koalitionen und Einzelfragen, die Differenzen zwischen den Parteien schwinden. Auch die mediale Aufmerksamkeit für Positionen hat zugunsten von Personen und Machtkonstellationen deutlich abgenommen. »Position Issues« (z. B. pro/contra Mindestlohn), also Sachfragen, die zur politischen Polarisierung beitragen können, bilden eher die Ausnahme. Die Konkurrenz der Parteien erstreckt sich primär auf »Valence Issues« (z. B. Höhe des Mindestlohnes). Und die Debatten darüber, wie ein bestimmtes Ziel erreicht, wie eine bestimmte Maßnahme dimensioniert werden soll, erschließt sich im Detail zumeist nur wenigen Expert/innen, oft nicht einmal allen Parlamentsabgeordneten. Wir erleben seit längerer Zeit einen Sog hin zur Exekutive.

Hinzu kommt eine starke Scheu vor politischen Diskursen, vor Auseinandersetzung und Streitbarkeit. Politik wird zunehmend und von vornherein als Moderation wahrgenommen, nicht als Auseinandersetzung um Orientierung und Konzepte. Die Mitte ist immer schon da. Der Kompromiss steht schon am Anfang und nicht am Ende der politischen Auseinandersetzung. Dahinter liegt innerparteilich die Angst, in eine Minderheitenposition zu geraten und dafür abgestraft zu werden. Gesellschaftlich ist es die Angst, dass jede Form von inhaltlicher Auffälligkeit nur mediale Angriffspunkte für die Konkurrenz eröffnet und bestimmte Wählergruppen vergrault.

Schließlich stehen die Parteien in ihrer Entscheidungsfunktion vor dem grundlegenden Problem, dass einem erhöhten Steuerungsbedarf in komplexen, modernen Gesellschaften eine abnehmende Steuerungsfähigkeit auf nationaler Ebene entgegen steht. Der Verlust an Steuerungsfähigkeit begründet sich in einer globalisierungsgetriebenen Vermarktlichung ehemals politischer Handlungsfelder. Diese Dynamik reduzierte (vermeintlich) den Legitimationsbedarf staatlichen Handelns, gab aber zugleich Steuerungsfähigkeit ab. Ende der 1990er-Jahre gewannen zudem Versuche an Bedeutung, der Steuerungskrise des Staates durch die Einsetzung von Kommissionen und Expertenräten zu begegnen, deren Ergebnisse eine »rationale« Lösung der zu entscheidenden politischen Probleme garantieren sollte. Diese Räte traten nicht an die Stelle der Parlamente, wirkten aber aufgrund der vermeintlich höheren Rationalität ihrer Entscheidungen stark auf diese zurück. Hier liegt ein weiterer Grund des Vertrauensverlustes in die Steuerungsfähigkeit von Parlamenten und Parteien.

Wege der Erneuerung

Welche Ansätze der Selbstvergewisserung und der Erneuerung ergeben sich aus der Aufgaben- und Zustandsbeschreibung der Institution Partei aus demokratischer Perspektive? An dieser Stelle folgt kein Werkzeugkasten mit konkreten Handlungsansätzen, stattdessen einige grundsätzliche Anhaltspunkte für die Erneuerungsprozesse, die je nach Partei sehr unterschiedliche Konkretisierungen erfahren werden.

Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem innerparteilichen Prozess hin zu einer gemeinsamen Orientierung auf einem bestimmten Feld, und der Vertretung dieser Orientierung nach außen. In beiden Dimensionen ist eine je unterschiedliche diskursive Kompetenz gefragt, die im ersten Fall eine gemeinsame Orientierung herstellt und immer wieder aktualisiert, im zweiten Fall den Spielregeln öffentlicher Diskurse folgt und hier eine größtmögliche Wirkmacht entfaltet. Eine diskursive Voraussetzung ist in beiden Fällen, überhaupt erst eine Repräsentation der innerparteilichen bzw. gesellschaftlichen Orientierungsmöglichkeiten herzustellen. Dabei sind innere und öffentliche Diskurse gleichzeitig inhaltlich und formal verschränkt: Zum einen kann die Entwicklung einer Position im öffentlichen Diskurs auf eine innere Positionierung zurückwirken; insofern handelt es sich hier eher um einen »Zirkel« als um eine klare Abfolge. Zum anderen kann sich ein offener innerparteilicher Diskurs positiv oder negativ auf das öffentliche Standing einer Partei auswirken. In jedem Fall geht die Erfüllung beider Diskursfunktionen mit einem bestimmten Verständnis von politischer Führung einher.

Eine Demokratisierung der Parteien in diesem Sinne braucht darüber hinaus eine Reflexion auf neue - insbesondere an den Wandel der Arbeitswelt angepasste - Beteiligungsformen, die einen Fortschritt und keinen Rückschritt für die demokratische Repräsentation im Willensbildungsprozess bedeuten. Ein entscheidender Faktor dabei ist eine klare Rollenunterscheidung zwischen Parteien (mit Legislativfunktion) einerseits und zivilgesellschaftlichen Akteuren (im vor-legislativen Raum) andererseits. Nur so ist eine Kooperation ohne Affirmation (etwa als »Bewegungspartei«) und ohne die damit einhergehenden Frustrationen möglich. Dabei sind für die Parteien auch Strategien der demokratischen Inklusion von sozialen Gruppen gefragt, die bislang eher abseits stehen. Schließlich muss sich die Selbstvergewisserung und Erneuerung der Parteien fortsetzen in einer Selbstvergewisserung und Erneuerung der Parlamente, als den Orten, an denen der legislative Diskurs der Parteien in aller Regel in Gesetzgebung überführt wird.

Diskurs und Orientierung nach innen

Eine Entfaltung der legislativen Orientierungskraft der Parteien nach außen setzt die Herausbildung einer gemeinsamen Orientierung nach innen voraus. Die Art dieser inneren Orientierungsprozesse steht dabei - inhaltlich wie motivational - in unmittelbarer Verbindung mit der Performance nach außen. Die Qualität von gemeinsamen Orientierungsvorschlägen bestimmt sich nicht zuletzt aus der diskursiven Durchdringung nach innen. Und Gemeinsamkeit in der Außenvertretung - auch durch diejenigen, die sich in einer Orientierungsentscheidung nicht durchsetzen konnten - ist nur über eine im diskursiven Prozess der gemeinsamen Aneignung möglich.

Eine solche Aneignung setzt im ersten Schritt voraus, dass im innerparteilichen Diskurs überhaupt die unterschiedlichen Möglichkeiten der politischen Orientierung auf einem bestimmten Feld repräsentiert sind. Es ist eine hohe Parteiaufgabe diesen Raum der Möglichkeiten überhaupt erst auf eine strukturierte Weise zu eröffnen, nicht als l'art pour l'art, sondern als Sichtbarmachung der grundsätzlichen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze in dem politisch-weltanschaulichen Verbund. Gerade zu Beginn oder Neubeginn von Orientierungsdiskursen lohnt es sich in den Raum des Möglichen auch wissenschaftliche oder künstlerische Positionen einzubeziehen, die auf eine eher spekulative Weise Möglichkeiten zeigen, was sein oder gelten sein könnte. (Spekulation meint hier natürlich nicht das anti-anthropozentrische, naturessentialistische Programm der spekulativen »Realisten«, sondern eine Neugierde nach tatsächlichen oder normativen Möglichkeiten der Politik jenseits der Alternativlosigkeit, die sich dann natürlich im Diskurs bewähren und erhärten müssen.)

Eine Konfrontation, Modifikation und Entscheidung politischer Möglichkeiten im diskursiven Prozess scheitert in der politischen Praxis oftmals an einer diskursiven Schließung der Parteien, insbesondere aus der Sorge, dass Kontroversen in der medialen Öffentlichkeit als Ausweis der Orientierungslosigkeit angekreidet und mit Handlungs- und Führungsschwäche gleichgesetzt werden. Diese Sorge ist insbesondere mit Blick auf die mediale Entwicklung ernst zu nehmen und kann je nach Gegenstand stärker oder schwächer ins Gewicht fallen. Sowohl das gesellschaftliche Orientierungsinteresse als auch die parteistrategische Notwendigkeit nach Unterscheidbarkeit sprechen jedoch dafür, eine diskursive Verklarung der gemeinsamen Orientierung nach innen deutlich zu intensivieren. Die Alternative zu dieser diskursiven Verklarung als gemeinsamer Aneignungsprozess ist nämlich eine innere Diffusität, die dann auch ein klares Orientierungsangebot nach außen verunmöglicht. Ergebnis ist dann eine öffentliche Auseinandersetzung, in denen sich die Parteien mangels herausgebildeter Orientierung auf kurzlebige symbolische Differenzen verlegen oder in einen schablonenhaften Jargon verfallen, der zwar einen eigenen Standpunkt vermitteln soll, aber bei genauerem Zuhören wenig zu sagen hat.

Die repräsentative Gestaltung einer Struktur innerparteilicher Orientierungsdiskurse ist eine harte parteipolitische Aufgabe. Sie erfordert ein starkes Bewusstsein und starke Kompetenzen. Zur diskursstrategischen Kompetenz von Parteien nach innen gleich zehn Punkte: (1) Sie erfordert die Sichtbarmachung von gebündelten Orientierungsalternativen, durch die überhaupt erst ein innerparteilicher Raum von Möglichkeiten entsteht. Dies erfordert auch eine Offenlegung der konkurrierenden Argumente und Abwägungen. (2) Sie erfordert eine Aufarbeitung der unterschiedlichen Positionen und Argumente, die verständlich ist. (3) Sie erfordert eine fokussierte innerparteiliche Debattenstruktur, in der ausreichend Raum für Auseinandersetzung entsteht, aber gleichzeitig, statt einer Kakophonie beliebiger Einzelstimmen, genug Raum ist, um unterschiedliche Grundpositionen ausreichend darzulegen. (4) Sie erfordert die Entwicklung von gemeinsamen - analogen und digitalen - Plattformen, in der die divergierenden Positionen aufeinandertreffen, sodass produktive Reibung entstehen kann, anstatt sie in geschlossenen (Parallel-)Parteinetzwerken zu separieren. (5) Sie erfordert die Förderung von innerparteilichen Gruppen und Netzwerken unterschiedlicher programmatischer Grundorientierung, die im Vorfeld einer übergreifenden Debatte in der Lage sind, Orientierungsvorschläge und Konzepte zu entwickeln. (6) Sie erfordert eine angemessene Repräsentation dieser innerparteilichen Akteure im Diskurs. (7) Sie erfordert eine Inszenierung von innerparteilichen Debatten, die in einem republikanischen Sinn einlädt und Lust macht. (8) Sie erfordert eine Kultur und unterstützende Strukturen, in denen eine lernende Transformation eigener Positionen im diskursiven Prozess kein Nachteil ist, sondern eine Stärke. (9) Sie erfordert eine Kultur und unterstützende Strukturen, in denen nach Abstimmungsniederlagen nicht automatisch eine Angst um die eigene politische Existenzgrundlage vorherrschend ist. (10) Und sie erfordert schließlich ein Bewusstsein dafür, dass die Wirkung parteipolitischer Impulse in den gesellschaftlichen Raum am Ende eine Gemeinsamkeit, Klarheit und Zuortbarkeit voraussetzt, die es gerade durch den - immer auch kompromisshaften - Diskurs nach innen herzustellen gilt. Zu den Voraussetzungen der diskursiven Interventionsfähigkeit nach außen zählt damit auch eine seismografische Aufmerksamkeit der inneren Diskurse für gesellschaftliche, mediale und intellektuelle Entwicklungen und Kontroversen ganz jenseits der Parteienlandschaft.

Vor diesem Hintergrund nehmen die Parteien ihren Verfassungsauftrag nicht ernst genug. Es gehört zu den Kernaufgaben der Parteien, die Räume des Politischen zu öffnen, indem sie entscheidbare Alternativen benennen. Erst der Diskurs um politische Grundorientierungen und -konzepte eröffnet den Parteien diese Aufgabenerfüllung, die am Ende entscheidend ist für die Qualität der legislativen Entscheidungen über den gesellschaftlichen und parlamentarischen Diskurs.

Die Erfüllung der Diskurs- und Orientierungsfunktion von Parteien nach innen wie nach außen hängt nicht zuletzt davon ab, ob es den Parteien gelingt, der elementaren Erfordernis Rechnung zu tragen, dass Demokratie zwar kompliziert ist, aber nur gelingen kann, wenn ihre Sprache, Grundsätze und Mechanismen allgemein verständlich sind. Dieses Erfordernis zielt sowohl auf die Inhalte der Politik als auch auf deren Verfahren. Eine Reduzierung von Komplexität muss nicht zwangsläufig in populistische Vereinfachung münden. Im Gegenteil: Sie kann für eine Klarheit der Vorschläge und der politischen Auseinandersetzung sorgen.

Orientierung und Diskurs nach außen

Im Anschluss und Wechselspiel mit der internen Herausbildung von Orientierungsangeboten eröffnet sich nun ein zweites diskusstrategisches Feld in Form der Vertretung gemeinsamer Positionen in der (legislativ ausgerichteten) öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien. Die »Spielregeln« dieser öffentlichen Diskursräume unterliegen einer ganzen Reihe von Faktoren, die sich von den Parteien selbst nicht oder nur sehr bedingt bestimmen lassen. Auf dieses Wechselspiel von äußeren Regeln und eigener Gestaltungsmöglichkeit hier näher einzugehen, würde vorgegebenen Rahmen vollends sprengen. Klar scheint aber, dass die nach wie vor beliebte Semantik der Alternativlosigkeit als Grundanmutung ebenso ungeeignet ist wie eine expertokratische Semantik des politischen »Kleinhackens«, in der sich am Ende neben einzelnen Spiegelstrichen keine Orientierung und keine Auseinandersetzung darum mehr erkennen lässt. Der Entwicklung von Alternativen steht schließlich auch eine Feier des »Antagonismus« im Weg, in der sich nur die lähmende Sehnsucht nach einem ganz anderen Ort des Politischen manifestiert - anstatt konkreter Einmischung im Hier und Jetzt.

Politische Führung und die Abmoderation von Politik

Politische Führung kann sich mit Blick auf die Willensbildungsfunktion nach innen und nach außen nicht weiter auf das Abmoderieren potenzieller Meinungsunterschiede begrenzen. Sie muss sich vielmehr dort als »Diskursöffner« begreifen, wo grundlegende gesellschaftliche Weichenstellungen anstehen. Dies ist nicht nur ein Gebot im Sinne der diskursiven Rationalität von Ergebnissen und Entscheidungen, es ist auch ein Gebot der Entfachung neuer demokratischer Beteiligung und Leidenschaft über das Verfahren politischer Auseinandersetzung. Führungsfähigkeit lässt sich fördern und schulen. Angesichts abnehmender Personalressourcen sollten Parteien auf diese Aufgabe ein stärkeres Gewicht legen. Statt »Preaching to the Convertet« beinhaltet politische Führung auch immer das Risiko der Niederlage. Und es wäre ein großer Fortschritt, nicht nur der politischen Kultur, sondern auch der Strukturen von Parteien, wenn eine politische Niederlage nicht automatisch mit der Angst vor dem institutionellen Herausfallen verbunden wäre.

Mehr Demokratie wagen und erkennen, wo aus mehr Unmittelbarkeit weniger Demokratie wird

Eine Demokratisierung der Parteien in diesem Sinne braucht darüber hinaus eine Reflexion auf neue - insbesondere an den Wandel der Arbeitswelt angepasste - Beteiligungsformen, die einen Fortschritt und keinen Rückschritt für die demokratische Repräsentation im Willensbildungsprozess bedeuten.

Mit einer Verstärkung der Repräsentations-, Orientierungs- und Diskursdefizite der demokratischen Institutionen, insbesondere der Parlamente und Parteien, ging in den letzten Jahren die laute Stimme der »neuen Bürgerbewegungen« einher, die sehr stark auf unmittelbare Bürgerbeteiligung und direktdemokratische Einflussnahme zielte. Dabei fand entlang konkreter Interessenkonflikte in Teilen eine starke Entgegensetzung direkter Beteiligung und repräsentativer Demokratie statt. Übersehen wurde dabei allerdings, dass der Wille zur unmittelbaren Beteiligung die Repräsentationsdefizite der Demokratie in der Tendenz noch weiter verstärkt, da deren Protagonisten noch mehr bestimmten sozialen Milieus zuzurechnen sind. Und auch wenn Engagement und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhöht wurden, so ging es doch zugleich stark um die Partikularinteressen unmittelbar Betroffener, und weniger um den Streit um das allgemein Richtige.

Das Göttinger Institut für Demokratieforschung zeigt diesen Repräsentationsvorteil der unmittelbaren Geltung in einer umfangreichen Studie von 2013: Der neue Bürgerprotest ist in einem hohen Maße mit einem Zeitvorteil verbunden. Unter den Protestbürger/innen finden sich besonders viele Vorruheständler, Rentnerinnen und Pensionäre - Tendenz weiter rapide steigend. Hinzu kommen auffällig viele Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freischaffende, Pastoren, Lehrkräfte sowie Schüler/innen. Eigene Kinder zu haben und zu betreuen, gleicht der Studie zufolge dagegen einem Ausschlusskriterium für Engagement. Entsprechend ist die deutsche Protestlandschaft überwiegend männlich. Gleichzeitig ist es vor allem die gehobene Mittelschicht, die sich den Bürgerprotesten anschließt: Zentraltypus der neuen Proteste scheint dabei nicht mehr der »Sozialwissenschaftler« zu sein, sondern die »technische Intelligenz«. Das Protestanliegen formuliert sich vor diesem Hintergrund oftmals nicht mehr als Position in einer Kontroverse, sondern als Expertise, zu der es eigentlich nichts mehr zu diskutieren gibt.

Deshalb heißt »Mehr Demokratie wagen« nicht einfach »Mehr Beteiligung«. Vielmehr geht es darum, die demokratischen Verfahren so zu gestalten, dass Beteiligung auch tatsächlich zu einer besseren und gerechteren Repräsentation führt. Die Frage nach der Verzahnung von Repräsentation und Beteiligung, nicht ihrer Entgegensetzung, ist in jüngster Zeit, Gott sei Dank, wieder stärker in den Vordergrund getreten. Mit Planungszellen und anderen repräsentativen Beteiligungsformaten wurden interessante Erfahrungen gesammelt. Auch die Parteien haben hier einen methodischen Nachholbedarf.

Dabei sind für die Parteien Strategien der demokratischen Inklusion von sozialen Gruppen gefragt, die bislang eher abseits stehen. Die Funktionsfähigkeit von Parteien als Institutionen der politisch-weltanschaulichen Repräsentation erfordert die Öffnung der Zugänge für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von der sozialen Lage. Dafür bedarf es nicht nur einer anderen Mitmach-, Willkommens- oder Kommunikationskultur. Es bedarf dafür sowohl Strategien der gerechten Teilhabe an Bildung und Arbeit als auch der Entwicklung von Beteiligungsstrukturen, die radikal veränderten Arbeits- und Lebenswelten Rechnung tragen. Letztere reichen von einer temporären, projektbezogenen Einbindung über eine interessenspezifische Differenzierung der lokalen und thematischen Beteiligungsangebote bis hin zu einer Befähigungs- und Bildungsstruktur, welche die parteipolitische Aktivität mit einem persönlichen Nutzen darüber hinaus verbindet.

Revitalisierung der Parlamente

Schließlich muss sich die Selbstvergewisserung und Erneuerung der Parteien fortsetzen in einer Selbstvergewisserung und Erneuerung der Parlamente, als den Orten, an denen der legislative Diskurs der Parteien in aller Regel in Gesetzgebung überführt wird. Das berührt das Gewicht der Parlamente gegenüber einer sich zunehmend verselbstständigenden Exekutive wie auch gegenüber einer immer mehr Entscheidungen treffenden Judikative.

Die Parlamente sind der demokratische Ort, an dem wichtige gesellschaftliche Fragen im Rahmen der Verfassung zu debattieren und zu entscheiden sind. Vor diesem Hintergrund ist die Tendenz des Abschiebens dieser Fragen an Expertenkommissionen oder die Ministerialbürokratie ebenso fragwürdig, wie eine Übertragung der Verantwortung an das Bundesverfassungsgericht. Die Legislative kann sich nur dann in die ihr zustehende Position bringen, wenn sie sich auf die grundlegenden Weichenstellungen konzentriert und hier engagierte und nachvollziehbare Auseinandersetzungen führt, anstatt jeden erdenklichen Einzelfall mit einer eigenen Bestimmung zu erfassen.


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