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Sighard Neckel

Zukunft der Vergangenheit

Zur Refeudalisierung der modernen Gesellschaft


Die zunehmende Polarisierung der Sozialstruktur und die augenscheinliche Ohnmacht der Politik gegenüber der Macht des Finanzmarktkapitalismus haben die Rede einer »Refeudalisierung« der Gesellschaft aufgebracht. Sighard Neckel beschreibt in diesem Beitrag, wie der Begriff über einen feuilletonistischen Blick hinaus mit Jürgen Habermas zur Beobachtung der gegenwärtigen Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann.

Angesichts der gigantischen Finanz- und Schuldenkrise, in die der Finanzmarktkapitalismus die Länder der Euro-Zone hineingerissen hat, hat die öffentliche Kritik an der Spekulation auf den Geld- und Kreditmärkten eine breite Resonanz gefunden. Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der in den Jahren vor dem Untergang von Lehman Brothers der Markt und seine Gesetze als gesellschaftliches Leitmodell akzeptiert worden sind, stellt die weithin hörbare Klage über die unkontrollierte Macht des Finanzkapitals und die tiefe Kluft, die sich zwischen den Gewinnern der Börsenspekulationen und den für sie haftenden Steuerbürgern aufgetan hat, an sich keine Überraschung dar. Auffällig ist allenfalls, in welche Richtung die öffentliche Zeitkritik am Kapitalismus der Gegenwart weist, und dies in einem fast buchstäblichen Sinne. Denn ob es sich um die Verurteilung des offensichtlichen Skandals handelt, den das staatliche Schuldendesaster zugunsten privater Spekulationsgewinne darstellt, oder ob es die immense Vertiefung sozialer Ungleichheit betrifft, die sich mit der Explosion des Reichtums auf den Finanzmärkten bei gleichzeitiger öffentlicher Verarmung eingestellt hat – stets läuft die aktuelle Kritik an dieser politischen Ökonomie auf die Schlussfolgerung hinaus, dass der moderne Kapitalismus unserer Gegenwart augenscheinlich dabei ist, die Gesellschaft in längst vergangen geglaubte Zeiten feudaler Strukturen, ständischer Privilegien und aristokratischer Oberschichten zurückzuführen.

Postdemokratie als Rückfall in vordemokratische Zeiten

Die öffentliche Anklage, dass der Finanzmarktkapitalismus zwar modern erscheint, uns jedoch in einen Neofeudalismus der Begüterten und Bevorrechteten zurückwirft, mag eine stark polemische Note haben. Als eine populistische und vor allem medienwirksame Art der öffentlichen Sozialkritik ließe sich diese Anklage aber nur dann interpretieren, wenn sie nicht auch in den Sozialwissenschaften mit Analysen und Zeitdiagnosen untermauert würde. Der prominenteste Vertreter solcher Analysen ist der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch. Mit seiner These von der Ankunft einer »Postdemokratie« führt er aus, wie der demokratische Prozess den vorläufigen Endpunkt einer »parabelförmigen Entwicklung« erreicht, an deren Beginn der Kampf um gleichberechtigte Teilhabe steht, deren Scheitelpunkt der organisierte Wohlfahrtsstaat darstellt und deren Niedergang durch einen »Substanzverlust der Demokratie« gekennzeichnet ist, der schließlich in einem Rückfall in vordemokratische Zeiten endet.

Dieser dramatische Abstieg in der »Lebenskurve der Demokratie« vollzieht sich Crouch zufolge nun nicht etwa als Wiederkehr historisch vergangener Institutionen wie etwa dem monarchischen Staat oder dem Ständeparlament, sondern im Rahmen gerade der modernsten politischen Strukturen, mit denen die Gesellschaft der Gegenwart aufwarten kann. Eine zentrale Rolle kommt hierbei den Märkten als ökonomischen Institutionen zu, deren Regeln zunehmend auch das Politische bestimmen. In der Postdemokratie verhalten sich Parteien wie Unternehmen, die auf dem Markt der Wählerstimmen um die Gunst von Bürgern konkurrieren, die sich ihrerseits wie Kunden verhalten. Diesem »Verfall der politischen Kommunikation«, deren Vorbild die Werbung ist, korrespondiert im gesellschaftlichen Prozess ein erheblicher Zuwachs unkontrollierter privater Macht bei gleichzeitiger Fragmentierung der restlichen Bevölkerung. Der Durchsetzungskraft einer globalen Wirtschaftselite, die mit ihren privaten wirtschaftlichen Interessen zugleich die Institutionen des Gemeinwesens bestimmt, stehen auf Seiten großer Sozialgruppen der Abbau von Teilhaberechten, politische Ohnmacht und verbreitete wirtschaftliche Unsicherheit gegenüber. Crouchs Zwischenfazit ist, dass die Postdemokratie, ausgestattet mit den modernsten Instrumentarien des politischen Geschäftsbetriebs, gesellschaftliche Merkmale entstehen lässt, die typisch waren für vordemokratische Zeiten.

Refeudaliserung als Begriff in den Sozialwissenschaften
So aufschlussreich diese Analyse hinsichtlich des Wandels zu einer Postdemokratie ist, so erstaunlich ist es indes, dass sie keine theoretische Rücksprache hält mit einem Begriff der Sozialkritik, den 50 Jahre zuvor bereits Jürgen Habermas in seiner Untersuchung über den Strukturwandel der Öffentlichkeit entwickelt hatte. Unter dem Stichwort der »Refeudalisierung« hatte Habermas am Beispiel der öffentlichen Sphäre gezeigt, wie sich durch eine Transformation ihrer grundlegenden Institutionen eine Rückverwandlung ehedem bürgerlicher Kommunikationsformen vollzieht. Im Zentrum seiner Analyse steht die Privatisierung gesellschaftlicher Bereiche, die zunehmend unter den Druck von Kommerzialisierung und politischer Legitimitätsbeschaffung geraten. Im Kern geht es bei dem inkriminierten Strukturwandel um eine Art Degeneration der bürgerlichen Öffentlichkeit, die zum Instrument ökonomischer Verwertungsinteressen und politischer Beeinflussungsmedien wird. Hierdurch hebt sich Habermas zufolge die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Sphärentrennung zwischen öffentlichen Angelegenheiten und privaten Interessen in nicht weniger nachhaltiger Weise auf, als es Colin Crouch Jahrzehnte später mit Bezug auf die modernen Wirtschaftseliten beschreibt, welche den politischen Raum und die Institutionen des Staates dem Muster gewinnorientierter Unternehmen anverwandelt haben.

Nun sind sowohl der Begriff der »Refeudalisierung« als auch Habermas’ Erklärungen dazu in den Sozialanalysen der Gegenwart eher selten zu finden. Nur vereinzelt wird im soziologischen Fachdiskurs der Begriff »Refeudalisierung« verwendet. So hat sich etwa in der Forschung zu den weltweiten Wanderungsströmen von Arbeitskräften, die in den globalen Metropolen als Hausangestellte beschäftigt sind, eine Debatte darüber entsponnen, ob wir es aufgrund vollkommen fehlender Vertragsgleichheit in diesem Arbeitssegment bei der migrantischen Hausarbeit mit der Rückkehr der alten Dienstbotengesellschaft und der Refeudalisierung häuslicher Arbeitsverhältnisse zu tun haben.

Einen ähnlichen Diskurs, der auf einen Rückfall hinter bürgerliche Prinzipien abstellt, finden wir in der globalisierungskritischen Literatur, in der etwa der Schweizer Soziologe und ehemalige Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission Jean Ziegler den Begriff »Refeudalisierung« verwendet, um mit ihm die Macht transkontinentaler Konzerne zu geißeln, die sich die Güter und Rohstoffe armer Länder wie moderne Feudalherren aneignen würden. Das systematische Argument ist hier, dass es nicht die Ausbeutung von Lohnarbeit ist, welche die Armut begründet, sondern eine Strategie der gezielten Verschuldung der armen Länder, durch die sie in einen immerwährenden Schuldendienst eintreten müssten, wie einst die abhängigen Bauern ihre Frondienste für den Grundherrn abzuarbeiten hatten.

In den Debatten über den Wandel der modernen Sozialstruktur schließlich wird »Refeudalisierung« bisweilen als Begriff für die wieder stark gewachsene Bedeutung der familiären Herkunft gebraucht und für die soziale Vererbung des gesellschaftlichen Status in den heutigen Ober- und Unterklassen. Vergleicht man etwa die Mobilitätschancen von Kindern von leitenden Angestellten mit jenen von ungelernten Arbeitern, so haben Kinder aus höheren Angestelltenfamilien eine über 40-mal höhere Chance, selbst zur Führungskraft zu werden. Hierin kommt zum Ausdruck, dass sich nicht nur in Deutschland ein drei Jahrzehnte währender Trend zur stärkeren sozialen Durchlässigkeit mittlerweile dauerhaft umgekehrt hat.

99% sind noch zu wenig

An der Spitze der sozialen Hierarchie wiederum können wir heute zwar ebenfalls eine Vertiefung sozialer Ungleichheit feststellen. Doch neigen wir dazu, etwa die Losung der weltweiten Occupy-Wall-Street-Bewegung We are the 99 Percent nicht als eine empirische Aussage zu nehmen, sondern als ein politisches Statement. Dass diese Losung aber mitnichten einer empirischen Grundlage entbehrt und dabei fast noch schönfärberisch ist, hat Paul Krugman deutlich gemacht. Tatsächlich umschließt das eine Prozent der US-amerikanischen Haushalte, die von der Occupy-Wall-Street-Bewegung dem ganzen Rest der Bevölkerung entgegengestellt wird, ziemlich exakt die Anzahl derjenigen, die über mehr als eine Million Dollar an Jahreseinkommen verfügen. Innerhalb dieser fürwahr kleinen Minorität jedoch geht der weitaus größte Anteil des Einkommens an das oberste Hundertstel in diesem Segment, bei dem sich durchschnittlich 27 Millionen Dollar pro Jahr versammeln.

Aus den Regeln einer kapitalistischen Marktgesellschaft heraus lässt sich diese drastische Form materieller Ungleichverteilung nicht erklären. Würde allein der Mechanismus von Angebot und Nachfrage auf den globalen Arbeitsmärkten die Verteilungsordnung des Einkommens bestimmen, müsste man annehmen, dass jene am stärksten vom Wohlstandszuwachs profitieren, die auf diesen Arbeitsmärkten die besten Qualifikationen anzubieten haben. Selbst unter den heutigen Bedingungen einer extrem starken Polarisierung der Einkommenschancen würden wir dann mit einer Verteilung zu rechnen haben, bei der etwa 20 Prozent der modernen Wissensarbeiter aus den neuen Technologien und der Globalisierung die weitaus größten finanziellen Vorteile ziehen und diesen absoluten Gewinnern wiederum gut 80 Prozent der Bevölkerung gegenüberstehen, die keine verbesserten Einkommenschancen durch die globale Ökonomie erlangten. Stattdessen gehören die hochqualifizierten Wissensarbeiter jedoch häufig genug selbst zu den 99 Prozent, an denen der weitaus größte Zuwachs des Wohlstands vorbeigezogen ist.

Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit einer Verteilungsordnung zu tun, in der eine Reichtumsoligarchie offensichtlich nicht von Marktchancen, sondern allein vom Besitz von monetären Anspruchstiteln und daraus erwachsender Macht profitiert und damit eine gesellschaftliche Rangordnung begründet, die aus den Regeln einer bürgerlichen Wettbewerbsordnung nicht mehr erklärbar ist. Refeudalisierung meint dann: dichotome Sozialgruppen, die untereinander keine Statuswettbewerbe mehr kennen, sondern nurmehr gegenseitige Abschottung in untereinander vollkommen unvergleichbaren Lebenslagen – eine statische Sozialstruktur mit ständischer Beharrung, im Unterschied zu den dynamischen Prozessen sozialer Mobilität, wie sie für die moderne Gesellschaft als charakteristisch gelten.

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit als Beispielfall

In den sozialwissenschaftlichen Debatten über den aktuellen Wandel der Sozialstruktur wird »Refeudalisierung« allenfalls als Begriff ins Feld geführt, ohne den Entstehungskontext und die Verwendungsweise dieses Begriffs bei Jürgen Habermas hierbei zu reflektieren. Wo dies in soziologischen Gebieten wie der Migrations- und Ungleichheitsforschung geschieht, zu denen Habermas auch als Soziologe niemals gearbeitet hat, mag dies verständlich sein. Weniger jedoch in der Forschung zu den postdemokratischen Transformationsprozessen politischer Öffentlichkeit, wo die Parallelen zu Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit auf der Hand liegen.

Habermas versteht unter »Öffentlichkeit« bekanntlich eine zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnde Sphäre, deren institutionelle Absicherung eine gleichberechtigte Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger an der öffentlichen Auseinandersetzung über allgemeine Angelegenheiten und die Ausübung politischer Herrschaft erlaubt. Das liberale Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit wird als Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute verstanden, die über den Staat und seine Gesetze räsonieren und hierbei von politischem Zwang freigesetzt sind.

Im 19. Jahrhundert setzt allerdings mit der Geschäftspresse der Gebrauch von Öffentlichkeit für private Interessen aus wirtschaftlichem Kalkül ein. Das Publikum der öffentlichen Sphäre verwandelt sich hierdurch zum Bestandteil einer kommerziellen Konsumentenkultur. In den sozialstaatlichen Massendemokratien des 20. Jahrhunderts beginnt schließlich die klare Sphärentrennung wieder zu zerfallen. Zur Befriedung des Klassenkampfes interveniert der Staat in das ökonomische Marktgeschehen hinein, während umgekehrt organisierte Interessen der Wirtschaft und der Verbände politische Funktionen übernehmen. Das Publikum verstummt und wird von den Massenmedien zu einer Zielgruppe zu formen versucht, die durch Unterhaltung und Spannungsreize zu plebiszitärer Zustimmung motiviert werden soll. Die öffentliche Darstellung monarchischer Macht kehrt als Public Relations privater Personen und Verbände zurück, die ihre Interessen als allgemeine darstellen wollen.

Hierdurch entsteht eine moderne Form herrschaftlicher Repräsentation, die Habermas deswegen als »eine Art Refeudalisierung der Öffentlichkeit« bezeichnet, weil sich Öffentlichkeit damit als ein Prinzip zur Bildung einer eigenständigen Sphäre selbstbestimmter Auseinandersetzungen über die Politik des Gemeinwesens zersetzt. Die kritische Funktion dieser leitenden Idee von Öffentlichkeit wird nun zunehmend entkräftet. Im Ergebnis obsiegt die »Konkurrenz der organisierten Interessen« über den Anspruch der Sphärentrennung zwischen allgemeinen Angelegenheiten und privatem Macht- und Gewinnstreben. Und genau in diesem Befund einer Rückkehr der Privatisierung von Politik und Öffentlichkeit, die an vorbürgerliche Epochen erinnert, konvergieren die Analysen von Jürgen Habermas und Colin Crouch.

Die Paradoxien der Modernisierung
Aufschlussreich ist es, den Bewegungsmodus selbst zu betrachten, durch den Refeudalisierung und Postdemokratie hervorgebracht werden sollen. Denn sowohl bei Crouch als auch bei Habermas stellt sich der kritisierte Verfall als Resultat eines paradoxen Prozesses von Modernisierung dar, in dessen Vollzug sich gesellschaftliche Strukturen reetablieren, die ihren historischen Ursprung in vorbürgerlichen Epochen der Gesellschaftsgeschichte haben. Kapitalistische Modernisierung erscheint als ein in sich gegenläufiger Vorgang – wie ein Zahnradgetriebe mit rückwärtiger Drehrichtung, das sein Objekt dadurch nach vorne trägt, indem es sich selbst nach hinten bewegt.

»Refeudalisierung« ist also nicht als Wiederkunft einer historisch längst vergangenen Epoche zu verstehen und bedeutet nicht die Rückkehr zu alten Zeiten. Refeudalisierung stellt insbesondere keinen Zustand dar, sondern einen Prozess. So wird in Habermas’ Analyse auch nichts anderes als eine prozessierende Selbstwidersprüchlichkeit zum Ausdruck gebracht, die bei bestimmten Schwellenwerten in der Weise umschlagen kann, dass gesellschaftliche Institutionen jene normativen Eigenschaften verlieren, die sie einst als historisch neu gekennzeichnet haben. Gesellschaftliche Funktionssysteme können dadurch im Fortgang ihrer Modernisierung jenen bürgerlichen Charakter verlieren, dem sie einst ihren Ursprung verdankten.

Die Mechanismen, die heute zur Entstehung einer refeudalisierten Sozialordnung insbesondere in der Wirtschaft führen und in der Öffentlichkeit heftig kritisiert werden, weisen denn auch zahlreiche formale Ähnlichkeiten mit dem Strukturwandel auf, den Habermas hinsichtlich der Öffentlichkeit identifizierte. Erneut dieselben gegenläufigen Bewegungen: Derselbe gesellschaftliche Prozess, der die Ökonomie zur Struktur eines Finanzmarktkapitalismus modernisiert hat, etabliert soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Anerkennung und Macht, die in zeitgemäßen Erscheinungsweisen ursprünglich vormoderne Muster der sozialen Ordnung aktualisieren. Derselbe ökonomische Entwicklungsprozess, der immense materielle Zugewinne in Aussicht stellt, sorgt zugleich dafür, dass immer größere Bevölkerungsteile von ihnen ausgeschlossen werden.

Die Refeudaliserung der gegenwärtigen Gesellschaft
Als ein paradoxales Modell der Gesellschaftsentwicklung ist der analytische Blickwinkel einer »Refeudalisierung« der kapitalistischen Moderne aufschlussreich für die Untersuchung gesellschaftlichen Wandels insgesamt, ob es sich nun um die Aushöhlung demokratischer Institutionen in der Postdemokratie handelt oder den ökonomischen Neofeudalismus auf den modernen Finanzmärkten.

Refeudalisierungsprozesse erkenne ich demgemäß zumindest in vier Dimensionen der heutigen Sozialordnung. Erstens – wie bereits oben ausgeführt – bezüglich der Sozialstruktur und einer Verwandlung sozialer Ungleichheit, die in ihren Merkmalen der Polarisierung unvergleichbarer Soziallagen und der ständischen Verfestigung von Herkunft deutliche Anzeichen von Feudalisierung aufweist. Zweitens in Hinsicht auf die Organisation wirtschaftlicher Prozesse und den neofeudalen Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen. Drittens normativ, als Refeudalisierung der Werte und der Rechtfertigungsordnung des Finanzmarktkapitalismus. Dies betrifft im Kern die Erosion des Leistungsprinzips durch leistungslose Einkommen aus ererbten Positionen, Vermögen und Eigentumstiteln sowie jene Refeudalisierung von Anerkennung, die sich bei den Celebrities des Medienzeitalters durch die Wirkungsweise von Prominenz vollzieht. Viertens schließlich als Refeudalisierung des Wohlfahrtsstaates, der öffentliche Sozialpolitik als Stiftung und Spende reprivatisiert und sozialstaatliche Anrechte in Abhängigkeit von privater Mildtätigkeit verwandelt.

Die Refeudalisierung der Organisation von Märkten
Auf den globalen Finanzmärkten hat sich eine neue Funktionselite herausgebildet, eine Art Dienstklasse des Finanzmarktkapitalismus, zu der Fonds-Manager, Investmentbanker, Broker und Analysten gehören. Die Machtbasis dieser neuen Dienstklasse beruht auf einer spezifischen Form von Eigentumstransformation. In zunehmend reicher werdenden Gesellschaften wächst die Masse des anlagesuchenden Kapitals stark an. Diese überquellende Liquidität wird von professionellen Vermögensverwaltern aufgenommen und vermittels Aktiengesellschaften in Eigentumsrechte institutioneller Anleger an Unternehmen verwandelt, deren shareholder value die ökonomische Leitlinie abgibt. Die Fonds-Manager stehen untereinander in Konkurrenz um immer höhere Renditen, die in der Regel mit höheren Risiken verbunden sind. Das Spezifische in der Stellung der heutigen Finanzeliten aber ist, dass sie das Risiko dieser Entscheidungen gar nicht selbst tragen, welches tatsächlich bei den Fonds-Kunden als sogenannte »ultimative Risikoträger « (ultimate risk bearers) liegt.

Die Fonds-Manager und Investment-Banker selbst hingegen sind »Eigentümer ohne Risiko« (Paul Windolf), weil Verluste und Einbußen der von ihnen betriebenen Finanzgeschäfte nur die Fonds-Kunden selbst betreffen und auf Kosten explodierender Staatsschulden abgesichert werden können. Dies führt nicht nur dazu, dass diese Eigentümer mit riskanten Spekulationen vielfach ihre Unternehmen schädigen und im Fall ihres Scheiterns das staatliche Gemeinwesen obendrein, was die soziologische Theorie als Mechanismus der »perversen Effekte« kennt. Vielmehr zeigt sich, dass sich der soziale Status der finanzökonomischen Funktionselite in folgenreicher Weise verändert hat. Folgt man Max Webers Theorie der Marktklassen, wird der Status einer Klasse ökonomisch durch die Art der Einkommen bestimmt, weshalb der Gewinn den bürgerlichen Unternehmer charakterisiert, der Lohn die Arbeiterschaft. Der Status von Fonds-Managern und Investmentbankern ist nun weder der einen noch der anderen Einkommensquelle zuzuschlagen. Als Fonds-Manager mögen sie sich zwar Gehälter bezahlen, doch da sie zugleich gegenüber den Unternehmen, deren Aktien sie besitzen, Eigentümer sind, scheiden sie aus der Zuordnung zu einer abhängigen Beschäftigung aus.

Als Eigentümer wiederum fallen ihnen Erträge zu, die man schwerlich als unternehmerische Gewinne bezeichnen kann. Demnach sind, aus dem Blickwinkel der klassischen ökonomischen Theorie betrachtet, die Gewinne von Aktienunternehmen als eine Art betriebliche Rücklage gedacht, die erst dann als gewinnabhängige Dividende ausgezahlt wird, wenn alle Forderungen von Gläubigern zuvor befriedigt sind. Für Crouch macht dies den eigentlichen Kern des Kapitalismus aus, dass er auf einer risikohaltigen Tätigkeit beruht, durch die das Gewinnstreben der Aktionäre gerechtfertigt wird. Für erfolgreiche Geschäfte können Aktionäre deswegen auch ein Anrecht auf hohe Belohnungen reklamieren, da diese Belohnungen sie zugleich entschädigen für Verluste aus einem ökonomischen Scheitern. Heute wird dieses Prinzip aufgrund der extremen Gewinnerwartungen an den Börsen weitgehend unterlaufen. Verfehlen Fonds oder Aktienunternehmen die Renditeerwartungen, werden die Portfolios verändert oder das Kapital abgezogen, was dazu führt, dass Leistungen eingeschränkt, Gehälter gekürzt, Anteile und Unternehmen verkauft werden. Dadurch verändert sich Crouch zufolge maßgeblich der Charakter der realisierten Profite. Ausgeschüttete Gewinne sind nun keine Rücklagen mehr und stellen keine Belohnungen mehr für Risiken dar. Sie sind vielmehr Vorauszahlungen auf spätere Renditen, die vor jedem Risiko möglichst umfassend geschützt werden sollen.

Die Refeudalisierung der Werte im Finanzmarktkapitalismus
Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb der Schweizer Ökonom Christian Marazzi davon spricht, dass sich im Finanzmarktkapitalismus ähnlich dem Wirschaftskreislauf des 18. Jahrhunderts Profit zur Rente verwandelt. Denn wie die Rente des Grundbesitzers auf dem angeeigneten Teil des ländlichen Nettoprodukts beruht, ohne dass dafür eigene Anstrengungen notwendig sind, so führt die heutige Finanzialisierung des Kapitalismus dazu, dass Kapitalakkumulation sich ohne Investitionen vollzieht und Besitztitel Erträge garantieren, ohne dass damit ein unternehmerisches Risiko verbunden gewesen wäre. Darin ähneln die »Eigentümer ohne Risiko« viel stärker feudalen Landlords als dem bürgerlichen Unternehmer.

Das Eigentümliche der Rente ist bekanntlich, dass man sie ohne aktuelle Gegenleistung bezieht. Und so nimmt es nicht Wunder, dass im Finanzmarktkapitalismus das Leistungsprinzip als die zentrale moderne Bezugsnorm, an der entlang sich materieller Wohlstand und soziale Abstände zu rechtfertigen haben, so weit verfällt, bis schließlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nur noch ein höchst brüchiger Zusammenhang zwischen erbrachten Leistungen und erhaltenem Wohlstand existiert.

Nach dem amerikanischen Sozialphilosophen David Miller werden gesellschaftlich allein intentionale und zurechenbare Handlungen als Leistungen wahrgenommen, die einen legitimen Verdienst begründen, während etwa zufällige Ereignisse oder die Folgewirkungen begünstigender Umstände im Sinnhorizont der modernen Gesellschaft nicht als Ergebnisse von Leistungen und als legitime Basis von Verdiensten zu gelten.

Die modernen Finanzmärkte haben in all ihren Kontingenzen genau eine solche ökonomische Kultur der Zufälligkeit etabliert, die der öffentlichen Wahrnehmung als Grenze dafür erscheint, dass der Leistungsbegriff hier überhaupt noch eine berechtigte Anwendung finden kann.

Die Refeudalisierung von Anerkennung
Zum feudalen Prinzip gehört schließlich auch der Grundsatz, dass Adel verpflichtet. »Noblesse oblige« meinte entsprechend im vorrevolutionären Frankreich, dass die Aristokratie im Gegenzug für ihre privilegierte Stellung eine Reihe moralischer Verpflichtungen auf freiwilliger Basis akzeptierte. Heute kehrt das Prinzip der freiwilligen Wohltätigkeit als Boom gemeinnütziger Privatstiftungen zurück, von denen es mittlerweile 17.000 in Deutschland gibt, und jedes Jahr kommen etwa 1.000 neue hinzu. Dieser Stiftungsboom wird in der Öffentlichkeit häufig als Zeichen eines neuen sozialen Verantwortungsgefühls bei den Reichen bewertet, ebenso wie etwa auch die Verbreitung von Corporate Social Responsibility in der Unternehmensführung.

Nun sollen philanthropische Absichten reicher Stifter gar nicht bestritten werden. Entscheidend ist ein institutioneller Aspekt: Indem der Staat den privaten Stiftern entsprechend die Steuern erlässt, verzichtet das politische Gemeinwesen auf sein grundlegendes Recht, über den Einsatz der ihm zustehenden Mittel selbst zu bestimmen. Dieser Entdemokratisierung von Steuerpolitik gegenüber den Bürgern korrespondiert auf der Seite der reichen Stifter die staatliche Einrichtung eines Privilegs, das jedem Normalverdiener verschlossen bleibt: nämlich selbst und aus eigenem Recht heraus darüber bestimmen zu können, wer Wohltaten erhält und wem sie verweigert werden, ohne dies öffentlich rechtfertigen zu müssen, da die Großzügigkeit selbst das beste Argument ist.

Ein treffendes Beispiel für den paradoxalen Prozess der Refeudalisierung, der in diesem Beitrag erläutert werden sollte, ist die Wiedererrichtung aristokratischer Privilegien durch den demokratischen Staat aber gerade deswegen, weil die Privatstiftungen heute als vorbildlicher Ausdruck einer modernen Zivilgesellschaft gelten, in welcher der Bürger sich auf freiwilliger Basis selbsttätig engagiert. Und eben jene moderne Zivilgesellschaft ist es, aus deren Mitte heraus mit den Privatstiftungen ein monarchisches Prinzip von Wohlfahrt sich reetabliert, das die moderne Gesellschaft durch den Sozialstaat bereits überwunden hatte.

Die Refeudalisierung von Wirtschaft und Sozialstruktur, von Werten wie dem Leistungsprinzip und von staatlichen Einrichtungen wie der Sozialpolitik dokumentiert, in welchem Ausmaße sich die Organisationsprinzipien und die Kultur des Kapitalismus der Gegenwart von ihren einstigen normativen Grundlagen entbunden haben. Die historische Verbindung von Kapitalismus und Bürgerlichkeit gelangt im 21. Jahrhundert offenbar an ein Ende. Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft bedingen sich nicht mehr – sie sind vielmehr Gegensätze geworden. Als paradoxe Folge daraus entsteht ein moderner Kapitalismus ohne Bürgerlichkeit. Und möglicherweise ist es genau diese Unbürgerlichkeit, die im 21. Jahrhundert eine kulturelle Voraussetzung dafür ist, dass der Kapitalismus einen globalen Siegeszug angetreten hat. Die Wiederentdeckung des Begriffs der »Refeudalisierung« für die aktuelle Gesellschaftsanalyse stellt den Versuch dar, genau diesen Entwicklungsprozess zu begreifen. 

Überarbeitete Fassung eines Beitrags im Leviathan, 41. Jahrgang, 1/2013, S. 39–56


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