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Leistungsbilanzen

Ein Deutungsmuster verflüchtigt sich – und bleibt umkämpft


»Leistung muss sich wieder lohnen!« – jahrelang ist die FDP mit diesem Credo durch die Republik gezogen, um für eine Deregulierung des Wohlfahrtsstaates und die Senkung der Spitzensteuersätze zu werben. Jetzt, nach dem Durchmarsch der Blaugelben bei der letzen Bundestagswahl, ist dieser Glaubenssatz endgültig in der Regierung angekommen. In den Feuilletons sekundieren Peter Sloterdijk und seine publizistischen Bundesgenossen mit ihrer Kritik an der »Kleptokratie« des modernen Steuerstaates, der eine »umgekehrte Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven« betreibe.

Es wundert kaum, dass die Auseinandersetzungen über den Leistungsbegriff in der Öffentlichkeit aktuell an Schärfe gewinnen. Schließlich ist ein großer Teil der spekulativen Gewinnmöglichkeiten des Finanzmarktes weggebrochen, die den Vermögenden des Landes jahrelang hohe Erträge beschert haben. Nun geht es um die Verteilung der Lasten, die dem Gemeinwesen aus diesen spekulativen Geschäften entstanden sind. Da liegt es nahe, dass die Begüterten sich gerne aus ihrer steuerlichen Verantwortung davonstehlen möchten.

Die Argumente, mit denen sie dies zu rechtfertigen versuchen, sind jedoch keineswegs neu. In den vergangenen Jahren ist der Wohlfahrtsstaat immer wieder als leistungsfeindlich diffamiert worden, weil er die vermeintlich unproduktiven Mitglieder des Gemeinwesens über Gebühr alimentiere und zugleich gerade jene um die wohlverdienten Früchte ihrer Arbeit bringe, die am meisten für die Gesellschaft leisteten. Daher sollen »leistungsschwache« Bürger diszipliniert und zur Arbeit angetrieben werden – die Sozialbehörden und RTL-Schuldendoktor Peter Zwegat geben sich hier die Klinke in die Hand. Auf der anderen Seite dienen Geschenke bei Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer dazu, den »Leistungsträgern« der Republik ein behagliches Nest zu bereiten.

Eine solche Politik basiert jedoch auf einem grundlegenden Missverständnis: Sie geht davon aus, dass die gegebene Verteilung der Vermögen und Einkommen, wie sie sich vor der Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat darstellt, im Großen und Ganzen gemäß den normativen Spielregeln des Leistungsprinzips zustande gekommen sei. Allerdings gibt es wenige Gründe, diese Annahme zu teilen. Wir wissen aus der Geschichte der modernen Gesellschaft, dass das Leistungsprinzip stets Gegenstand erbitterter sozialer Kämpfe gewesen ist, in denen darum gerungen wurde, welche menschlichen Tätigkeiten überhaupt in den Stand sozial anerkennungswürdiger Leistungen erhoben werden und welche nicht. Es hängt wesentlich von der Machtverteilung in diesen sozialen Kämpfen ab, wer zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt als gesellschaftlicher »Leistungsträger« gilt und wer als »leistungsschwaches« Mitglied des Gemeinwesens disqualifiziert wird – mit allen materiellen und immateriellen Folgen für den sozialen Status von Personen und Gruppen, die sich daraus ergeben. Daher muss eine gegebene Sozialordnung immer auch daraufhin untersucht werden, welche gesellschaftlichen Leistungsbeiträge in ihr marginalisiert, abgewertet und unsichtbar gemacht werden.

Wir haben in einem von der DFG geförderten soziologischen Forschungsprojekt eine empirische Inspektion der gesellschaftlichen Kontroversen um den Leistungsbegriff unternommen. Hierzu wurden 15 jeweils etwa zweistündige Gruppendiskussionen mit insgesamt über 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus verschiedenen sozialen Schichten, beruflichen Milieus und privaten Lebenslagen durchgeführt. Erstes und vielleicht wichtigstes Ergebnis: Die Varianz an gesellschaftlichen Auslegungen des Leistungsbegriffes ist weit größer, als an der Oberfläche des politischen Diskurses sichtbar wird.

Der Markt der Leistung

In den aktuellen Debatten um die »Enteignung der Produktiven« durch Steuersystem und Wohlfahrtsstaat drückt sich ein Leistungsverständnis aus, das dem Markt die zentrale Steuerungsfunktion zuweist. Ökonomischer Erfolg wird mit individueller Leistungsfähigkeit gleichgesetzt. Jeder Eingriff in die Ergebnisse des Marktwettbewerbes um die besten Positionen in der gesellschaftlichen Status¬hierarchie gilt als Bruch mit den Grundprinzipien der Leistungsgerechtigkeit. Dabei wird die moderne Marktökonomie allerdings mit normativen Erwartungen aufgeladen, die ihr nicht einmal wirtschaftsliberale Theoretiker wie Friedrich August von Hayek zugestehen wollten. Tatsächlich kümmert sich der Markt nämlich nicht um Gerechtigkeit; die Preisbildung folgt allein dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Welche Güter und Dienstleistungen sich hier durchsetzen, ist von vielen kontingenten Bedingungen abhängig – aber sicher nicht an die normativen Äquivalenzregeln des Leistungsprinzips gebunden. Ob sich ein Markterfolg eigener mühevoller Arbeit verdankt oder schlicht dem Zufall glücklicher Umstände, hat keinen Einfluss auf die Höhe des erzielbaren Gewinns.

Dies soll keineswegs bedeuten, dass das ökonomische Resultat nicht ein Kriterium der Leistungsbewertung neben anderen sein könnte – viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Gruppendiskussionen vertreten dies ganz selbstverständlich. Aber nicht wenige von ihnen haben auch bereits selbst erfahren, wie prekär es sein kann, in der Wechselhaftigkeit des globalen Marktgeschehens die primäre Bewährungsinstanz der eigenen Leistungsfähigkeit zu sehen. Nicht ohne Grund hat die moderne Gesellschaft zwar einerseits der Marktökonomie zum allgemeinen Durchbruch verholfen, aber andererseits auch vielfältige Barrieren errichtet, die wesentliche Teile der gesellschaftlichen Leistungserbringung vom direkten Kontakt mit dem Markt abschotten. Dies betrifft den Bereich der privaten Reproduktion sowie zentrale Elemente der öffentlichen Daseinsvorsorge, aber auch weite Teile der beruflichen Leistungserbringung innerhalb der Ökonomie selbst. In klassischen Industrieunternehmen herrschte intern eine hierarchisch organisierte Produktionsökonomie, die Schnittstellen zum Markt waren in spezialisierten Abteilungen wie Verkauf und Marketing institutionalisiert. In den letzten Jahren sind diese Grenzen jedoch stark aufgeweicht worden. Viele neue Steuerungs- und Managementkonzepte setzen darauf, den Markt in die Organisation hinein zu holen. Abteilungen werden in Cost- oder Profitcenter umgewandelt, die untereinander und zum Teil auch mit externen Anbietern konkurrieren. Rendite- oder umsatz¬orientierte Prämiensysteme koppeln die Entlohnung der Mitarbeiter direkt an den ökonomischen Erfolg des Gesamtunternehmens oder eines Teilbereiches; Zielvereinbarungen werden mit marktorientierten Erfolgsgrößen kombiniert. Auch in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und Bildungssektor erhalten ökonomische Steuerungsgrößen eine immer größere Bedeutung.
 
Immer häufiger sollen sich Beschäftigte heute nicht primär als Arbeitnehmer, sondern als »interne Unternehmer« begreifen, die ihr Leistungshandeln unmittelbar auf den Markterfolg ausrichten. Das unternehmerische Risiko wird so stärker als früher direkt an die Beschäftigten durchgereicht – und dies, ohne dass sie einen entsprechenden Einfluss auf die langfristigen Strategien des Unternehmens erhalten. Angesichts der Wechselhaftigkeit und Unkontrollierbarkeit heutiger Märkte bedeutet dies für die Beschäftigten eine wachsende Ungewissheit, welche Leistung sich auch tatsächlich mittel- oder langfristig auszahlen wird. Eine kurzfristige Gratifikationsorientierung – heute der Abschluss, morgen die Prämie – ist eine der Konsequenzen. Aber auch eine individuell biographische »Drift« (Richard Sennett), ein Gefühl des Getriebenseins in dem Versuch, sich einem Marktgeschehen flexibel anzupassen, dem man doch immer nur hinterher läuft.

Die Leistung der Person

Angesichts dieser äußeren Destabilisierungstendenzen wird Gewissheit über den Wert der individuellen Leistungen vielfach im eigenen Inneren gesucht. Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, Authentizität und Kreativität im Umgang mit den stetig wechselnden Anforderungen – solche modernen Arbeitsideale können zumindest zeitweise zum Rettungsanker werden, wenn äußere Anerkennung wegbricht oder instabil wird. Allerdings zu einem hohen Preis: Denn wer die innere Selbstbestätigung zum zentralen Maßstab der eigenen Leistung macht, kann dafür nur noch schwer eine angemessene Honorierung von außen einfordern. Arbeitsplatzsicherheit, gerechter Lohn, Urlaubsanspruch – solche Forderungen auf Kompensation für geleistete Arbeit erscheinen als Relikte aus der Welt des »außengeleiteten Charakters» (David Riesman) und der fremdbestimmten Arbeit. Das moderne, intrinsisch motivierte Arbeitssubjekt beutet sich gerne selbst aus und hat auch noch Spaß dabei: »Wir nennen es Arbeit«.

Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass der »neue Geist des Kapitalismus« (Luc Boltanski/Ève Chiapello) diese Ideale inzwischen fest in sein Repertoire an Rechtfertigungsstrategien integriert hat. Kaum eine Stellenanzeige, kaum ein Unternehmensleitbild, kaum eine aktuelle Managementlehre, die nicht die Bedeutung der Freiheit, Kreativität und Selbststeuerungsfähigkeit der Individuen betonen würden. Was früher eher als Störung der durchgeplanten Abläufe der »wissenschaftlichen Betriebsführung« (Frederick W. Taylor) galt, wird heute explizit gefordert: Die Beschäftigten sollen die Persönlichkeit nicht am Fabriktor abgeben, sondern sich mit ihrer Individualität und Kreativität selbstgesteuert in den Arbeitsprozess einbringen. »Subjektivierung von Arbeit« nennt das die Industrie- und Arbeitssoziologie.

Gezählt wird am Schluss

Grundsätzlich steht die Leistungsbewertung nach Marktkriterien in einer gewissen Spannung zu dem neuen Leitbild des kreativen und selbstgesteuerten Mitarbeiters. Wo Beschäftigte sich erweiterte Spielräume der Selbstentfaltung in der Arbeit erhoffen, sehen sie sich den unkontrollierbaren Wechselfällen des globalen Marktgeschehens ausgeliefert. Wo Kreativität und Individualität gefordert wird, zählt letztlich vor allem ökonomisches Kalkül. In unserem empirischen Material werden diese Widersprüche vielfach sichtbar. Personen scheitern in ihrem beruflichen Selbstverwirklichungsprojekt an den Flexibilitätsanforderungen heutiger Arbeitsmärkte. Authentizitätsansprüche kollidieren mit der Notwendigkeit, sich ökonomischen Zwängen zu unterwerfen.

Doch zwischen den beiden zunächst widersprüchlichen Entwicklungen scheint es einen inneren Zusammenhang zu geben: Der Einbezug »weicher« Faktoren hat die Leistungsdefinitionen noch diffuser gemacht, als sie immer schon waren. Wie will man Kreativität, soziale Kompetenz und ähnliches im Arbeitsalltag konkret messen und gerecht bewerten? Demgegenüber sind Umsatzstatistiken, Kostenrechnungen und Renditemaßzahlen von einem Nimbus der Objektivität und Selbstevidenz umgeben, der sie über jeden Zweifel erhaben erscheinen lässt. Die Subjektivierung der Leistungsdefinitionen hat gleichzeitig zu einem wachsenden Bedürfnis nach objektiver Messbarkeit und Vergleichbarkeit geführt. Dem trägt inzwischen eine ganze Armada von Consultingfirmen, Controllern und Softwarespezialisten Rechnung, die einzig damit befasst ist, das betriebliche Geschehen bis in die letzten Winkel quantifizierend zu erfassen. Komplexe Kennziffernsysteme werden entworfen, ganze Betriebsabläufe von der Lagerhaltung bis zu den Kundenretouren in Computermodellen nachgebildet und das interne Controlling massiv ausgebaut. Zusätzliche Schubkraft erhält dieser Prozess durch den wachsenden Einfluss des Finanzmarktes auf die Unternehmensführung. Inzwischen haben sich diese Praktiken zudem auf außerwirtschaftliche Bereiche ausgedehnt und das Gesundheitswesen ebenso erreicht wie die Hochschulen, die öffentliche Verwaltung und die Politik.

Der enorme Aufwand, mit dem diese kalkulatorische Durchdringung organisatorischer Abläufe betrieben wird, weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass die scheinbar objektive Realität der Zahlen immer auch eine sozial konstruierte ist. Es sind komplexe Rechenoperationen erforderlich, um die Leistung des einzelnen Mitarbeiters, der in der Innenrevision, der Pförtnerloge oder dem Immobilienmanagement tätig ist, in irgendeiner Form mit dem Erfolg oder Misserfolg des Gesamtunternehmens auf den Produkt-, Dienstleistungs- oder Finanzmärkten in Verbindung zu bringen. Diese Rechenoperationen verlangen zudem viele mikropolitische Entscheidungen, in denen Faktoren gewichtet, Zukunftsaussichten geschätzt und Nichtzählbares quantifiziert werden müssen. Aber der politische Charakter dieser Formen der Leistungsbewertung ist weniger offensichtlich als bei anderen Managemententscheidungen, und daher ziehen sie auch weniger Kritik auf sich.

Hier wird gearbeitet

Zu einem Problem für viele Beschäftigte wird jedoch, dass das marktförmig-kalkulative Leistungsverständnis ein Kriterium radikal entwertet, das in der normativen Architektur des Leistungsprinzips eigentlich einen zentralen Platz einnimmt: den individuellen Aufwand. Auf dem Markt zählen Resultate und deren ökonomischer Wert. Der dahinterstehende Aufwand taucht in den Bilanzen nurmehr als Kostenposition auf, die es möglichst zu minimieren gilt, nicht als positives Element anerkennungswürdiger Leistung. Dabei ist das moderne Verständnis von Leistung eigentlich eng mit der Vorstellung von individueller Verausgabung und Mühe verbunden. Um etwas zu erreichen, soll man sich anstrengen müssen, dieses Arbeitsethos ist für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv.
Besonders anschaulich und greifbar wird diese Anstrengung vor allem in der körperlichen Arbeit. Hier spannen sich Muskeln, Schweiß fließt, Material wird bewegt und bearbeitet – so zumindest unser inzwischen etwas nostalgisch verklärtes Bild von Leistung als körperlicher Verausgabung. Für die Arbeiterschaft war das körperliche Moment ihrer Tätigkeit immer Quelle eines ganz eigenen Leistungsstolzes, der sich etwa in derb-ironischen Bemerkungen über die »Sesselpupser« oder »Köfferchenträger« in den oberen Etagen ausdrückte. Allerdings haben sich weite Teile der Arbeitswelt schon lange von diesem Idealbild körperlicher Leistung entfernt. »Ich seh’ nicht, was ich leiste. Bei uns ist die ganze Produktion in den Rohren, die fliegt durch die Rohre«, berichtete beispielsweise ein Arbeiter aus einem Chemiewerk mit einer gewissen Frustration. Zwar ist seine Arbeit qualifizierter und fachlich anspruchsvoller geworden, seit er in der Messwarte für die Überwachung der weitgehend automatisierten Produktionsabläufe zuständig ist. Aber es fällt ihm schwer, diese Tätigkeit wirklich als eine Leistung anzusehen, auf die er stolz sein kann. 

Noch weiter entfernt vom Idealbild der Leistung als körperlicher Verausgabung sind natürlich viele Angestelltentätigkeiten. Allerdings war hier die körperliche Arbeit immer schon mit dem Stigma des Rohen, Unqualifizierten und tendenziell Minderwertigen behaftet – sozusagen als Pendant zu den Vorurteilen der Arbeiterschaft, in den Büros werde eigentlich keine echte Leistung erbracht. Die Angestellten haben jedoch eigene Formen entwickelt, Anstrengung und Aufwand demonstrativ zum Ausdruck zu bringen: Der übervolle Terminkalender, teilweise extreme Ausweitungen der Arbeitszeiten und das ständig klingelnde Mobiltelefon sind moderne Symbole und Rituale, in denen die individuelle Verausgabung sozial sichtbar gemacht werden soll. Zu den neuen Idealen einer subjektivierten Arbeitswelt steht dies nicht unbedingt in Widerspruch. Zwar ist hier der Spaß an der Arbeit ein hoher Wert, trotzdem werden Mühe und Anstrengung keineswegs tabuisiert – im Gegenteil: Viele unserer Gesprächspartner werteten es gerade als einen besonderen Ausweis von Authentizität, wenn eine Person im Dienste der eigenen Selbstverwirklichung auch Schwierigkeiten und Mühen in Kauf zu nehmen bereit war. Die noch Anfang der 1980er Jahre häufig geäußerte Befürchtung, der gesellschaftliche Wertewandel mit seiner Abkehr von der klassischen Pflichtorientierung und der Hinwendung zum Selbstverwirklichungsideal werde in einen ungezügelten Hedonismus münden, der die bürgerlichen Arbeitstugenden untergräbt, hat sich ganz offensichtlich nicht erfüllt.

Allerdings – im beruflichen Alltag besteht die Mühe und Anstrengung oft gerade nicht in der heroischen Bewältigung von Hindernissen, die sich der eigenen Selbstverwirklichung in den Weg stellen. Vielmehr geht es um den häufig ermüdenden Kampf mit immer wiederkehrenden Routinen, bei denen es mehr auf Schnelligkeit, Sorgfalt und fachliche Korrektheit ankommt als auf Kreativität und authentische Selbstentfaltung. Für den reibungslosen Betrieb von Unternehmen und anderen Organisationen sind solche wissens- und erfahrungsgesättigten Routineleistungen von zentraler Bedeutung. Aber ihr unmittelbarer ökonomischer Wert ist oft schwer zu beziffern. Auch in das heutige Leitbild des kreativen, dynamischen und auf Selbstverwirklichung bedachten Arbeitssubjekts lassen sie sich kaum einpassen. In der Folge drohen solche Leistungen unsichtbar zu werden. Tatsächlich haben wir beobachtet, dass Beschäftigte, deren berufliches Selbstbewusstsein wesentlich auf ihrer fachlichen Kompetenz und langjährigen Erfahrung beruht, dieses Leistungsverständnis in den Gruppendiskussionen nur schwer verteidigen konnten. Dies kann zu Frustration über die Unsichtbarkeit der eigenen Leistung sowie Motivationsverlust bis zur »inneren Kündigung« führen.

Bilanz

Das Leistungsprinzip ist eine fundamentale Gerechtigkeitsnorm der modernen Gesellschaft. Wenn sich aber die Forderung, Leistung müsse sich lohnen, in eine Formel für Steuersenkungen und wohlfahrtsstaatliche Sparprogramme verwandelt, wird dieses Prinzip in seiner Substanz beschädigt. Überhaupt ist die Frage weniger, ob, sondern vielmehr, welche Leistung sich in unserer Gesellschaft lohnen soll und warum. Ein deregulierter Markt prämiert bestimmte Formen des ökonomischen Erfolges, führt aber nicht notwendig zu mehr Leistungsgerechtigkeit. Das subjektivierte Arbeitsverständnis verspricht Kreativität und Eigen¬initiative endlich die verdiente Anerkennung, macht aber gleichzeitig andere Leistungsbeiträge sozial unsichtbar und damit wertlos. Die Objektivität der Zahlen verheißt weniger Willkür als die Leistungsbeurteilung durch Vorgesetzte, verschleiert aber zugleich die mikropolitischen Prozesse, in denen diese Objektivität erst erzeugt worden ist. Viele soziale Konflikte der Gegenwart entzünden sich an solchen Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Leistungsdefinitionen und den damit verbundenen Entwertungen und Ungerechtigkeiten. Darauf gilt es eine politische Antwort zu finden, die das Leistungsprinzip stärkt, ohne einseitige Leistungsdefinitionen zu favorisieren. 

Das Projekt »›Leistung‹ in der Marktgesellschaft – Erosion eines Deutungsmusters?« (DFG-Fördernummer NE 475/1-1/2) wurde am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main durchgeführt. Neben den Autoren war weiterhin Irene Somm an der Forschung beteiligt. Zu den Ergebnissen dieser Untersuchung vgl. zuletzt Sighard Neckel, Kai Dröge und Irene Somm: »Das umkämpfte Leistungsprinzip. Deutungskonflikte um die Legitimationen sozialer Ungleichheit«, in: Kai Dröge u.a. (Hg.), Rückkehr der Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft, Berlin 2008 (edition sigma), S. 41–56.



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