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Francisco J. Varela †

Intime Distanzen

Fragmente einer Phänomenologie der Organtransplantation


Die Szene wird von der Seite betrachtet. Der Patient liegt auf seinem halb aufgerichteten Krankenhausbett. Röhren, Nähte und Schläuche überziehen seinen Körper vom Kopf bis zum Unterleib. Auf der anderen Seite des Bettes beobachten zwei Männer mit Atemschutz und Ärztekittel den Bildschirm eines tragbaren Scanners. Der ältere Arzt weist den Lehrling ein und gibt ihm rasche Erklärungen, während das Gerät in Kreisbewegungen über die rechte Körperhälfte unterhalb der Rippen und oberhalb des Magens fährt. Der Arzt im Praktikum hört konzentriert zu und nickt mehrmals. Der Bildschirm ist so gedreht, dass auch der Patient ihn sehen kann. Es ist Tag 5.

17 Uhr, Tag 5

Ich wachte nach der OP vor fünf Tagen mit der Leber eines Unbekannten auf. Meine Aufmerksamkeit verlagert sich auf die zwei redenden Männer, ich verfolge ihr Gespräch und warte ungeduldig, dass sie sich mir zuwenden. Es ist ein entscheidender Moment: Wenn die Adern und Arterien nämlich den neuen Ort, der ihnen zugewiesen wurde, nicht angenommen haben, ist es mit meinem ganzen Abenteuer vorbei. Vom Standpunkt der Ärzte ist die Transplantation nicht viel mehr als ein erfolgreiches Anbringen. Ich halte den Atem an, als ich ein paar Brocken der stenographischen Kommentare des Arztes aufschnappe: Gute Klappenzirkulation, keine Entzündung… Plötzlich lächelt er mich an und sagt: Tout va bien! Ich bin nun mein daliegender Körper, der sich so anfühlt, als zerfiele er in tausend Stücke. Schmerzhaft macht sich der Einschnitt bemerkbar, der sich in einem weiten Bogen von rechts nach links krümmt und plötzlich über der Brust nach rechts zum Sternum abbiegt, der durch die vielen Kanülen und Infusionen fast reglos geworden ist. Die beruhigenden Worte lassen mich die Leber wie eine kleine Sphäre spüren, so, als würde ich ein Kind in mir tragen (ich erinnere mich an die Bilder meines letzten Sohnes, dessen Herz im Bauch seiner Mutter schlug); sie schmerzt leicht, sie ist unmissverständlich da.

Im Hintergrund macht sich mein gebrochener Körper mit einer unendlichen Müdigkeit bemerkbar sowie zugleich der tiefe Wunsch, meine Augen zu schließen und in Ewigkeit zu ruhen. Doch der Bildschirm ist nur ein paar Zentimeter weit weg und unwillkürlich kommt Neugierde auf. Ich kann meine neue Leber sehen, in mir. Ich verfolge die Einzelheiten: Diese Anastomosen der Vena cava und der Vena porta, die zwei breiten Leberarterien, die ineinander gedrückten Lappen II und III. Ich reise in mein Inneres, ich gleite hinein und hinaus aus der Leberkapsel, wie in einem Animationsfilm. Ohne jede Reue lausche ich den Erklärungen des Arztes im Praktikum (»Hier, schau wie man den Fluss am besten mit dem Doppler in den Griff bekommt« und man hört ein Rauschen als die Histo¬gramme nun die Parameter in Form von Tabellen und Linienzeichnungen darstellen. »Das ist das beste Verfahren, um die Leberpedunkel nicht zu verpassen«; jetzt ist das Objekt für mich nicht mehr sichtbar und in einem gräulichen Meer verschwunden).

Wir betrachten die Szene von der Seite, sie und ich. In den vielen Spiegeln dieser beweglichen Mittelpunkte, die ich jeweils ›Ich‹ nenne, von denen jeder einzelne ein Subjekt ist, welches Empfindungen und Schmerzen verspürt, welches ein Wort erwartet, das sich im Bild eines Scanners verdoppelt, in all diesen Spiegeln befindet sich allein für mich ein konkretes Fragment, das mit mir an jener Mischung von Intimität und Fremdheit teilhat.

Kontingenz, Obsoletheit

Da ist sie also: vor zwei Jahren etwa erhielt ich die Leber eines anderen Menschen. Ein Organ kollerte an jenem schicksalsträchtigen 1. Juni ein komplexes soziales Netzwerk hinunter, von einem kürzlich verstorbenen Körper bis in meine Innereien hinein. Meine Leber wurde aus ihrer Verwurzelung im Kreislauf herausgeschnitten, die neue wurde fein säuberlich eingesetzt und damit auch der lebendige Kreislauf durch eine aufwändige Vernähung von Venen und Arterien ersetzt. Ich kann somit (zusammen mit einigen hundert Leuten auf der Welt) eine einzigartige Aussage treffen, mit allem dem Menschen möglichen Wahrheitssinn: ich habe das Organ eines Anderen bekommen!

Eine solche Aussage hat kein Echo in der Vergangenheit; die Menschheitsgeschichte bleibt stumm. Vor zehn Jahren wäre ich rasch an den Komplikationen meiner Hepatitis C gestorben, die sich in eine Zirrhose verwandelte und dann schleichend zu einem Leberkrebs wurde. Nicht das chirurgische Verfahren stellt das eigentliche Novum der erfolgreichen Transplantation dar. Es sind die vielfältigen Immunsuppressoren, die den unvermeidlichen Abstoß verhindern (ein Codewort, wie wir noch sehen werden, für ein in sich bereits eigensinniges Phänomen). Hätte meine Transplantation zehn Jahre später stattgefunden, wäre das Verfahren ein anderes gewesen und mein posttransplantatorisches Leben völlig verschieden. Ich wäre sicherlich eine ganz andere Art Überlebender gewesen. In den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte ist meine Erfahrung ein Staubkorn, ein schmales Fenster technologischer Kontingenz im privilegierten Leben eines Upper-Class-Europäers. […]

Die lebendigen Eingeweide berühren

Meinen Ärzten zufolge kann ich meine Leber nicht spüren. Es gibt in dem Organ keine Nerven und die Verbindungskapsel, die es umgab, blieb bei der alten Zirrhose¬leber. Und dennoch fühle ich mein Organ genau hier, unter meinen Rippen, leicht versetzt. Es verlangt nach meiner Aufmerksamkeit, wie eine Faust, die meine Seite von innen her drückt, gerade genug, um mich daran zu erinnern, dass es da ist. Manchmal dehnt es sich und drückt sich durch eine Spannung aus, die nicht unbedingt schmerzhaft ist, aber mich dennoch dazu veranlasst, mich zu bewegen. Es ist so greifbar, wie der Umschlag des verborgenen Organs.

(Interessanterweise stieß ich im Internet auf eine Chat-Webseite für Transplantationspatienten, auf der ein Dutzend Leute von dem gleichen Eindruck sprachen: wir spüren unsere Leber, die Ärzte sagen, es ist nicht möglich.) Solcherart ist die Präsenz der gespürlosen Leber. Womöglich ist es eine ent-gliederte Selbstwahrnehmung, die durch die Nervenenden in dem Loch entsteht, die meine alte Leber hinterließ. Und wenn die neue hineingesetzt wird, so wie sich ein neuer Gast in ein warmes Bett legt, stelle ich mir diese verbindenden Gewebemembranen vor, die wie die Fetzen einer Mumie wahrnehmungs- und gefühllos umherbaumeln. Beizeiten werden sie sich (so stelle ich es mir zumindest vor) einen Weg in die neuen Ritzen und Winkel verschaffen. Sie werden in neue Gewebebündel erfasst sein, die sie mitziehen und wie vermisste Verwandte mittragen.

Zwischen diesem Ich (welchem Ich?), das träumt und denkt, und diesem anderen Ich, das mit den verlorenen Gewebebündeln verwachsen ist und »wie durch ein abgründiges Begehren nach Integration angetrieben wird«, haben wir somit ein gewisses Gleichgewicht erreicht, fast eine Art kooperative Übereinkunft. Es verschafft mir die fleischliche Grundlage, den Stoff meiner Phantasien, ich verschaffe ihm die Möglichkeit, sich in diesem erlebenden Leib auszudrücken. In der Phänomenologie ist der erlebende Leib als »Eigenleib« das Signum der Intimität, in dem ich bin, in dem ich sein kann. Mein Leib gehört mir nicht, ist aber als mein Orientierungszentrum von mir untrennbar. Diese Intimität ist vielfältig. Sie kehrt in dem Maße ständig wieder, wie der Leib, während ich in die Welt eingetaucht bin, im Hintergrund im Modus der Transparenz verschwimmt. Und dann bringt ein Schmerz, eine emotionale Verstörung, ein plötzlicher Zusammenbruch diesen abwesenden Körper wieder in seine zutiefst gegenwärtige Gegenwart. Es gibt zudem die Berührung, die ihn wieder zutage treten lässt, die Empfindung der eigenen Oberflächen. Das klassische Beispiel der einen Hand, die die andere berührt, ist das Paradigma der auf sich selbst basierenden Erfahrung der Intimität. […]

Es sind nicht die Körpertechnologien, die die Fremdheit als radikale Neuerung in meinen Leib einführen. Vielmehr erweitern die Körpertechnologien das, was bereits da war, und dringen an eben diesen Stellen ein. Das Andere und Fremde der Transplantationsgeste ist keine scharfe Trennlinie, die angibt, an welcher Stelle mein Leib als Ort der Intimität statthat. Kann ich dann noch sagen, die Transplantation verändere mich? Als ob das Eigene meines Leibes festgestellt und rein wäre? Die Aneignung der Intimität als unabschließbar, als zugleich möglich und unmöglich.

Übersetzung, Metapher – Ein Organ wird übertragen

Wenn wir auf ihre griechischen Wurzeln hören, dann ist die Übertragung ein metapherein von irgendwoher in mich hinein. Dieser Austausch entspricht der Logik der Metapher, für etwas, das für etwas anderes einsteht, ein in Eis eingepacktes Stück Gewebe, das als Lebensgabe einsteht, wie es heißt. An einem bestimmten Punkt wird die noch abstrakte Idee der Transplantation spezifisch, wenn nämlich die Übertragung beschlossen wird und die Metapher damit im Gange ist. Ein neues Etwas stellt sich ein und markiert den Ort. Das Ganze ist in seiner Totalität so wenig benennbar, dass wir es sozusagen nur als Metapher erfassen können, die das Unsagbare und Unnennbare zum Ausdruck bringt.

Als ich nach dem entscheidenden Anruf, der mir mitteilte, dass ein Spender gefunden worden war, im Krankenhaus eintraf (ein paradoxes Ich, das durch die Nähe des Todes verändert war, durch einen Krebs, der meine Zellen aufzehrte, ein endlicher Horizont für das Vergehen des Identischen), erklärten die Krankenschwestern am Empfang auf professionelle und freundliche Art: »Das Organ kommt aus Marseille, es ist in bestem Zustand«. Dieser bloße Hinweis wird zur Stütze für die Einbildungskraft, die nun den ganzen Inhalt der Übertragungsmetaphorik freisetzen kann. (Ich sehe einen jungen Motorradfahrer, der gegen die Autobahnplanke geschleudert wird, sein Gehirn ist über den Asphalt verteilt und die Nothelfer versuchen verzweifelt die Familie zu erreichen, um ihre Erlaubnis für eine Organentnahme zu bekommen. Ein Szenario unter tausend, das mir durch den Kopf schießt. Ich werde es nie wissen.) Das also war der Anfang meines Verhältnisses zum Spender, zur Quelle der Gabe. Ich war mit meiner spontanen Vorstellung meiner selbst nicht mehr allein: Es gab nun noch den Spender, diesen anderen X, dessen Weg eines Nachmittags irgendwo in Marseille endete. Damit es eine Spende geben kann, muss eine Gabe stattgefunden haben, wenn man der überlieferten, kanonischen Interpretation folgt. Seit Marcel Mauss gilt eine Gabe als Ereignishandlung in der symbolischen Ordnung. Der Schlüssel zur Gabe ist ihre Reziprozität: Was gegeben wird, wird zurückgegeben und schließt damit einen Pakt. Mauss’ Beschreibung der Gabe wurde sowohl weiter verfeinert als auch hinterfragt. Trotz all ihrer ständigen Verfeinerungen bleibt die Gabe der Schlüssel, um frühe menschliche Gesellschaften zu verstehen. Seitdem entwickelte sich unser modernes Leben hin zu sozialen Normen und die Gabe verwandelte sich in strikten Austausch oder Handel. Gaben beschränken sich nunmehr auf die persönliche Sphäre, sie finden innerhalb eines engen Kreises statt und haben die Macht verloren, als Grundlage von sozialen Bindungen herzuhalten.

War X in Marseille ein Gebender? Der Kern des Gebens besteht in der persönlichen Adressierung. Sobald eine Gabe in absentia vollzogen wird, sobald sie einer Bevölkerung allgemein gilt, so wie etwa der Philanthrop, der der Gemeinschaft etwas spendet, wird sie zu etwas völlig anderem. Der persönliche Kontakt ist verloren und verwandelt sich in den Modus der Möglichkeit, der jeder direkten Zuwendung entbehrt. Und dennoch muss der Spender gesetzlich stets anonym bleiben. Es findet stattdessen eine Vermittlung statt mit der Familie, die einwilligt, ein komplexes Zentralisierungs- und Verteilungsverfahren, das seit Jahren vom Nationalen Spendezentrum aufgebaut wird. So kommt es, dass das Spendezentrum nur einen Block von meiner Wohnung in Paris entfernt ist. Die schier endlose Wartezeit nutzte ich oft zu einem Spaziergang dahin. Die Kontingenz meines Lebens (falls ich überleben sollte) wurde bei diesen Gängen unmittelbar greifbar.

Bereits der Eintrag in die Warteliste ist das Ergebnis einer Entscheidung, die das örtliche ›Team‹ fällt und in die ich nicht eingeweiht werde. Ich vertraute meinem Chirurgen, der mich offensichtlich liebgewonnen hatte (aber was bedeutet dieses Gefühl schon angesichts der rätselhaften Akzeptanz eines Todes-Lebens?) Die örtliche Liste geht irgendwo in die zentrale Liste ein, am Zentrum, zu dem mich meine nachdenklichen Spaziergänge führten. Nach einigen Monaten wurde ich gebeten, zu jeder Zeit ein eigenes Mobiltelefon mit mir zu führen und mich immer in Reichweite des Krankenhauses zu befinden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde mir (in aller Vertraulichkeit) mitgeteilt, dass ich auf Platz eins stehe, diese Stellung allerdings noch immer von der Stadt und von der Blutgruppe abhängt und ob andere Patienten nicht vorgezogen werden, deren Lebensbedingungen noch bedrohlicher sind. Endlose Wochen; mit jeder Minute erinnerte mich der Druck des Mobiltelefons an die außerordentliche Zerbrechlichkeit des Lebens und an die Brüchigkeit meiner Identität in diesem Gewirr aufgeschobener Kausalitäten. Und dann, wenn die Entscheidung schließlich fällt (werde ich eines Tages erfahren, wie und wann sie gefällt wurde?), der Anruf, die eilige Fahrt zum Krankenhaus, die Zusammenstellung des Ärzteteams, am Tagesende müde Techniker, die sich nach ihrem Abendessen für die Nachtoperation um die emblematische Gestalt des Chefchirurgen versammeln.

In seiner Position als Vermittlungsinstanz ist der Chirurg der einzige, der sowohl die Identität des Spenders als auch die des Empfängers kennt. Er stellt mithin das einzige Band zwischen uns dar, eine Metainstanz, die die Schlüssel zu einem Rätsel besitzt, das aufgrund eines eisernen ethischen Codexes geheim bleiben muss. Dieses Dreieck sagt jedoch einiges über die Kraft des imaginären sozialen Bandes, das die Übertragung ermöglicht und zur gleichen Zeit das gesamte Netzwerk vom Spender bis zum Empfänger in einen einzelnen Binde-Strich zusammenzieht, so als gelte es, jemand völlig Fremdes, für dessen Bekanntschaft die dringende Zeit nicht reicht, zu empfangen und ihm ermöglichen, schmerzlos anzukommen. […]

Es gibt einen Anderen in mir, ich bin teilweise ein Anderer, so heißt es. Einige berichten, sie hätten neue Gewohnheiten (Fleisch zu essen, Tiere zu mögen), die als direkte Manifestierung desjenigen Geistes gedeutet werden, der durch die Gabe in sie gelangte. In der Regel entwickeln Transplantationspatienten einen individuellen Umgang mit der Unmöglichkeit, den Spender ausfindig zu machen. Sie gehen auf einen Friedhof und legen Blumen auf ein unbekanntes Grab. Oder aber in einen Wald und opfern etwas für den Geist des verstorbenen Spenders. Es ist klar, dass nur eine strikte Regulierung der Anonymität vermeiden kann, dass dieser starke Drang in deplatzierte, aus Dank geborene Verpflichtungen ausartet. Von Tag zu Tag verblassten die Phantasien mehr, verloren sie ihren Sinn. Dass ich in mir eine Gabe trug, ließ mich nicht in der Weise zu einem Anderen werden, dass mir diese Erfahrung irgendeine Sicherheit verschafft hätte. Im Gegenteil, das Wirken der Zeitlichkeit wurde (wieder) ausschlaggebend: das Empfangen, das Akzeptieren dieser neuen Form von Alterität trotz der Immunsuppression, die imaginäre Verarbeitung dieses gewollten und ersehnten Eindringens, durch das nach der Brutalität des Technologischen wieder ein Gleichgewicht gefunden werden konnte. Die Bilder begannen zu verschwinden, die jähen Gefühle für den toten Spender machten für eine Dezentrierung im weiteren Feld der Intersubjektivität Platz. […]

Intime Distanzen

Vom dem Ort aus, an dem ich schreibe, hat die alte Alterität des verteilten Selbst die ihm eigene Zeitlichkeit nun wieder neu errungen. Dennoch findet und fand die Begegnung mit der radikalen Veränderung des Todes statt, die über die Jahre hinweg näher kam und schließlich gewaltsam eintrat, eines Nachts, als meine Brust und mein Unterleib geöffnet wurden. Es fand statt; ich war nicht da, sondern in Anästhetika eingetaucht (welches Ich? sicherlich gab es eine gewisse Präsenz, ich litt). Der Abstieg vollzog sich langsam. Erst musste ich in einem Zimmer warten, dann musste ich mich ausziehen und mich in einen Krankenhausrock kleiden; dann war ich nackt unter einem Tuch, damit mich die Krankenschwester rasieren und in einen Zustand der Nacktheit versetzen konnte, die unter die Haut zu gehen schien. Dann wurde ich auf ein Rollbett gebracht und in einem OP-Zimmer geparkt, ich zitterte aus Kälte und Angst, während sich die Krankenschwestern unterhielten. Der Anästhesist kommt, nimmt die Perfusionskanüle und spritzt die erste Welle des Betäubungsmittels ein. Mir bleibt rund eine Minute um all das, was von mir übrigblieb, gleichsam in einer unfreiwilligen Flucht fahrenzulassen. Niemals sonst verspürte ich meine zerbrechliche Ontologie deutlicher, die Unmöglichkeit, irgendetwas fest zu greifen, ein lebendiger Punkt, der in einem Raum schwebt, der sich der Darstellbarkeit entzieht. Die große Einsamkeit für die es keinen Ausdruck gibt. Von jeder Intimität entblößt bleibt nur noch das gähnende Loch für das Eindringen.

Dann öffneten sie mich, stellten den Kreislauf ab und ersetzten ihn durch Maschinen, nahmen das Organ aus einer Kühlbox und begannen mich wieder zu einem normalen Körper zurückzubauen. Das ist zumindest, was sie sahen. Als ich in meinem neuen Zustand aufwache, sehe ich, dass die Nacht, in der der Tod durch meinen offenen Körper reiste, unauslöschbar bleiben wird. Sie ist jedes Mal da, wenn jemand auf meinen Torso blickt und ich sehe ihre Augen, wie sie rasch an mir herab schauen und nach der Spur suchen, die mich quer durchzieht und bis zur Nahtstelle am Brustkorb hinaufreicht (mit großen Stichen, wie an einem Sack oder an einem Paket). Es ist die Spur des Todes, die mich diese Erinnerung, die keine ist, nie vergessen lässt. Es ist eher das Gefühl einer Anerkenntnis seiner Präsenz, der Präsenz eines ungebetenen Gastes, dessen Bewegungen jenseits von meiner Reichweite liegen. Von nun an hat der Tod meinem Leben seinen eigenen Ablauf, seinen eigenen Rhythmus aufgezwungen. Ich wurde tatsächlich, nachdem ich so minuziös de-konstruiert worden war, rekonstruiert.

Welches Leben?

Das wiedergewonnene Leben wird anders gelebt, es ist für immer anders (wem aber soll diese Veränderung zugeschrieben werden?) aufgrund einer dreifachen Bewegung: die Bewegung, die dazu führte, dass ich überhaupt auf die Warteliste kam; die Bewegung, die dazu führte, dass ein Organ übertragen wurde; und schließlich die Bewegung, die zu meinem jetzigen Zustand führt. Das ist die gelebte Wirklichkeit der Transplantation, meine gesamte, zutiefst durch die Öffnung zum Tode verletzte Identität wird wieder zugenäht und als ›neues‹ Leben in die Welt gesetzt. […]

Möglicherweise sind wir alle (die wachsende Anzahl derer, die in die Sphäre dieser Übertragung eingetreten sind) »die Anfänge einer Mutation« (Jean-Luc Nancy, L’intrus, Paris 2000). Ich sehe es schon: In baldiger Zukunft wird man uns als Frühstadien einer Menschheit beschreiben, wo Fremdheit und Intimität zu einem Punkt rekursiver, gegenseitiger Durchdringung erweitert worden sind. Wo Körpertechnologien immer schneller Grenzen neu definieren können, für Menschen, die Eindringlinge (intrus) sein werden »in der Welt ebenso, wie in sich selbst«. Wir täten gut daran, uns jeden einzelnen Satz zu Gemüte zu führen. Diese Dringlichkeit bringt uns dazu, das klassische, menschliche Ethos vom Willen zur Macht nun als Transplantation auszudrücken. Selbst wenn mein eigenes Fenster in der Zeit eng und in seinem Verständnis fragmentiert ist. Irgendwo muss dem Tod sein Recht wieder zugestanden werden.
 
Am 28. Mai 2001 verstarb Francisco Varela friedlich im Kreis seiner Familie in Paris. Dies ist eine kürzere Fassung des Textes, der zuerst im Journal of Consciousness Studies, 8, No. 5–7 (2001), 259–71 und auf Deutsch in ATOPIA 9 »greffe-graft-graphium« (www.atopia.tk) erschien.

Aus dem Englischen von Emmanuel Alloa.



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