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Marinieren, Tranchieren, Ignorieren

Der exorzistische Kult ums Essen


Bio, Slow Food, Veganismus, Kochshows und ein Überangebot an Ernährungsratgebern: Um das gesunde Essen wird ein Wahnsinnshype gemacht. Dieser Hype zahlt sich kommerziell aus und lässt gesundheitspolitische Fortschritte erwarten. Doch besonders dort, wo er zu Hysterie anschwillt, erweist er sich als kontraproduktiv. Seine versteckte Botschaft ist der grassierende Irrglaube, dass wir am Ende selbst die Schuld an unserer Fehlernährung tragen. Diese politische Fehleinschätzung führt zu Frust und Depressionen, aber vor allem auch zu irritierenden Selbsttäuschungen und Klammheimlichkeiten. Rund zwei Drittel der Bevölkerung geben an, dass sie sich bewusst gesünder ernähren wollen. Und doch sieht man dieselben Leute fast täglich an der Currywurstbude stehen oder verstohlen zu Billig-Fleisch, Convience Food oder in die Chipstüte greifen. Wie erklärt sich dieses enorme Ausmaß an Willensschwäche? Und sind die damit verknüpften Selbsttäuschungen der Grund, warum der Hype ums Essen so ungeheuer nervt?

Beginnen wir mit einem philosophischen Exkurs zum Phänomen der Willensschwäche: Von Beginn an ist die intellektuelle Reflexion auf die alltägliche Frage, wie es kommen mag, dass wir »vom Guten wissen und dennoch das Schlechte tun«, sehr eng mit ökotrophologischen Problemstellungen verknüpft gewesen. Schon Sokrates lockte seine Gesprächspartner einst mit der Behauptung aus der Reserve, dass »ihr oft Speisen, Getränken und Liebesgenuss nicht widerstehen (könnt), weil sie angenehm sind, und obwohl ihr wisst, dass diese Dinge schlecht sind, tut ihr sie dennoch«. Dabei ließ der Denker keinen Zweifel daran, dass wir genau das als »schlecht« bezeichnen, was uns »Beschwernisse« oder gar »Krankheiten« bringt. Und auch wenn es aus der Retrospektive irritierend anmutet, dass Sokrates auch die körperliche Liebe für eine Form von schädlicher Fehlernährung hielt, so scheint das Phänomen selbst doch unbestreitbar zu sein: Obwohl wir zumeist recht genau wissen, was gesund oder aber schlecht für uns ist, handeln wir dennoch häufig direkt wider besseres Wissens. Wie ist das möglich?

Folgt man Sokrates, so liegt die folgende Antwort nahe: Wir wählen meist das, was uns kurzfristig angenehm erscheint, weil sich uns das Wissen, dass es langfristig schädlich sein könnte, nicht gleichermaßen affiziert wie das unmittelbar sich aufdrängende Bedürfnis nach sinnlicher Befriedigung. Es handelt sich um eine Art optische Täuschung: Wir »verrechnen« uns, indem wir das nahe Plus an Befriedigung fälschlicherweise für größer halten als das ferne Minus. Wenn das jedoch zutrifft, stellt sich unweigerlich die Frage, ob wir noch länger an der gängigen Problembeschreibung festhalten können, nach der wir »vom Guten wissen und es dennoch nicht tun«. Die provozierende Antwort, die Sokrates selbst auf diese Frage gibt, lautet: Nein, die Problembeschreibung ist falsch, denn wer das (langfristig) Falsche für (kurzfristig) gut hält, weiß eben doch nicht wirklich, was (alles in allem) gut für ihn ist. Genau das führt uns fast notwendig zu einem verblüffenden Befund: Das Problem eines Handelns »wider besseres Wissen« ist im Grunde gar nicht existent. Und man würde Sokrates für diese Weigerung, das Problem der Willensschwäche ernst zu nehmen, am liebsten gleich zu einem ausschweifenden Abendessen oder auch Symposium (griech. für »Saufgelage«) einladen, wenn dessen philosophischer Befund nicht tagtäglich durch das Verhalten aufgeklärter Konsumenten widerlegt werden würde.

Vom Ideal des Raspelns und Schnipselns
Ganz zweifellos ist heute eine enorm gesteigerte »Achtsamkeit« in Bezug auf Fragen gesunder Ernährung zu verzeichnen, die sich mehr und mehr zu einem Life Style-Diskurs über ernährungsphysiologische goods and bads ausweitet. »Essen ist das neue Pop«, hieß es dazu jüngst im Berliner Stadtmagizin tip. Die Beschäftigung mit gutem Essen ist für viele Menschen inzwischen mehr als nur ein Hobby - weit eher eine Lebensform, bisweilen gar eine Obsession oder auch Religionsersatz. Mag das vielzitierte Motto »Du bist, was du isst« inzwischen auch abgedroschen klingen, es trifft den Punkt: Die Frage, was und wie man isst, ist nicht länger nur eine Frage der Gesinnung, sondern eine der Sinnstiftung. Früher war das Einkaufen eher lästig, heute »verwirklicht« man sich selbst dabei, indem man ständig Flagge zeigt. Und wer zum Essen ausgeht, demonstriert auch dies unentwegt in den sozialen Netzwerken; sei es durch animierende Restaurantkritiken oder aber durch ein flottes Food-Selfie.

Zugleich aber - und damit kommen wir auf die Willensschwäche zurück - korrespondiert dieser maßlos gesteigerten Aufmerksamkeit für gesunde Ernährung ein ebenso gesteigertes Maß an Enttäuschungen über ein Scheitern in eigener Sache: Irgendwie kriegt man es mit dem gesunden Essen dann doch nicht so hin, wie man es sollte oder wollte. Mal wieder vor dem Rechner Schokolade verputzt, der Familie Fertigpizza serviert oder gleich das Abendessen durch Chips ersetzt? Es ist eben doch kein Widerspruch, sondern ein täglich schwelender Konflikt: Der Markt medial geschürter Aufmerksamkeiten quillt über mit Kochbüchern, Diät-Ratgebern, TV-Shows und Lobliedern auf das Urban Gardening, der reale Essalltag der allermeisten Menschen jedoch ist weiterhin von Industrie-Fleisch, Fertigprodukten und Fastfood dominiert. Kommuniziert wird eine Ethik des Essens, praktiziert jedoch wird der Discount.

An hippen Vorbildern mangelt es nicht: Eine stetig wachsende Expertenschar, bekannt aus Funk und Fernsehen, als Stars der Koch- und Sachbuchszene oder immer häufiger auch auf Youtube, zeigt den bildungshungrigen Konsumenten, wie gesunde Esskultur konkret auszusehen hat: Da wird geschält, geschnipselt, geraspelt, mariniert, tranchiert, gesiedet, paniert, gebacken, gebraten, gekocht und gedämpft, was das Zeug hält; auch wenn man sich wundern mag, wie wenig faktisch gekocht wird. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (TK) gibt es heute nur in etwa der Hälfte aller deutschen Haushalte täglich ein selbst zubereitetes Mahl. In einem weiteren Drittel wird immerhin drei- bis fünfmal pro Woche gekocht. Beim Rest bleibt die Küche kalt, oder es werden Fertiggerichte aufgewärmt. Dennoch werden mit Büchern über das Kochen und Backen immense Zuwachsraten erzielt; laut Börsenblatt konnte das Segment 2013 um ganze 16,6 Prozent zulegen.

Der letzte Urschrei
Mitunter beschleicht einen allerdings der Verdacht, dass mit dem Kauf dieser Kochbücher und der beinahe kultischen Aufladung der Nahrungsaufnahme lediglich ein Stagnieren realen Ernährungsverhaltens kompensiert werden soll. Ein besonders irritierendes, aber auch aufschlussreiches Beispiel bietet der dernier cri des Kochbuchsegments: die sogenannte Paläo-Ernährung (»Essen wie die Steinzeitmenschen«). Es wird empfohlen, Fleisch, Fisch und Eier zu essen, soviel man will, dazu Gemüse, Obst, Nüsse, Kräuter. Aber »kultivierte« Lebensmittel muss man meiden: Brot, Nudeln, Gebäck und alles andere, was aus Getreide hergestellt wird, zudem alle Arten von Milchprodukten. Diese buchstäblich vorsintflutliche Kochkunst darf nicht etwas als Abkehr vom derzeitigen Ernährungshype gedeutet werden, sondern als dessen Selbstüberbietung: Die bloß vermeintliche Rückwärtsgewandtheit der Paläo-Diätik ist als eine zukunftsweisende Neujustierung auf eine möglich artspezifische Gesundheitsversorgung des »natürlichen« Menschen gedacht. Abgesehen davon, dass man als Teilnehmer des Dschungelcamps bei diesem Trend bereits ganz vorne mit dabei ist, ergibt sich aus diesen Rezepturen ein kulturhistorisches Paradox: Als höchste Form der ernährungstechnischen Kultivierung des Menschen wird nunmehr die Rückkehr vor jede Kultivierung des Geschmackssinns empfohlen. Damit bildet die Paläo-Diätik unmittelbar einen imaginären Gegenpart zum Veganismus, der ja die hyperkulturelle Überwindung des stereotyp natürlichen Menschen als einem archaischen Jäger und Fleischfresser anzuvisieren scheint. Nur am Rande sei bemerkt: Tatsächlich saß man in der vielbeschworenen Steinzeit eher selten um einen fetten Tierbatzen herum, der auf dem Lagerfeuer brutzelte. Das Jagen war sehr zeitaufwändig, das Gros der Nahrung wurde gesammelt.

Zu diesem denkbar weiten Spektrum an esskulturellen Alternativen passt unmittelbar der sich derzeit zuspitzende Streit um eine Ästhetik der Fleischinszenierung: Während die einen zu Hochglanzmagazinen wie »Beef« oder »Fire&Food« greifen, sehen andere in der bisweilen brutalen Optik jener Magazine - frei nach Norbert Elias - den Beweis verbliebener oder gar neu aufblühender Unzivilisiertheit. Abgesehen davon, dass beide Seiten verkennen, wie sehr sie symbolisch aufeinander angewiesen sind: Das Fleisch bleibt ein hochassoziatives und symbolisch aufgeladenes Lebensmittel, an dem sich die Weltbilder scheiden. Eher selten ergeben sich ideologische oder auch religiöse Streitigkeiten um Obst und Gemüse; zur Stigmatisierung des Feindes eignen sich Eisbein und Pferdegulasch viel besser als Obstsalat oder Rösti. Und doch ist der Kulturkampf ums Fleisch kaum mehr als nur der Kulminationspunkt einer allgemeinen Symptomatik, die sich als eine ideologische oder gar phobische bis exzorzistische Aufladung der Nahrungsaufnahme äußert und sich zudem an vielen anderen Phänomenen ablesen lässt: Laut der erwähnten TK-Studie geben etwa 17 Prozent aller Deutschen an (darunter unverhältnismäßig viele Akademikerinnen und Akademiker), von mindestens einer Lebensmittelunverträglichkeit oder allergie betroffen zu sein. Gluten, Laktose, Histamine, Eiweiße, Nüsse - das ist die ökotrophologische Achse des Bösen, gegen die heute immer mehr Körper kämpfen. Auch macht gelegentlich ein neues psychopathologisches Krankheitsbild die Runde, »Orthorexie« genannt, welches sich dadurch auszeichnet, dass die Betroffenen von gesundem Essen regelrecht »besessen« sind. In einer gewissen Latenz zeigt sich dasselbe Phänomen aber auch schon daran, dass gut die Hälfte aller Spitzenverdiener mit einem Haushaltsnettoeinkommen von mehr als 4.000 Euro mindestens einmal oder sogar mehrmals im Jahr einen Diätversuch wagt. Auf den erklärungsbedürftigen Umstand, dass dieser Anteil bei den Geringverdienern mit einem Haushaltnettoeinkommen von bis zu 1.500 Euro nur bei etwa 30 Prozent liegt, werden wir zurückkommen.

Gesundheitfanatiker gegen Fast-Food-Junkies

Man könnte meinen, die gesteigerte Aufmerksamkeit für gesundes Essen sei Ausdruck aufgeklärten Konsumverhaltens, autonomer Kaufentscheidungen und der ethischen Gewissheit, wie »gut« zu leben sei. Aber stimmt diese Diagnose? Spricht nicht vieles auch für eine direkt gegenteilige These und damit für den Verdacht, dass die unentwegte Beschäftigung mit gesundem Essen eher ein Krisensymptom, ja, Ausdruck wachsender Verunsicherung ist? Führt die Ausweitung des Kochbuchsegments am Ende gar zur Ausweitung eine Kampfzone in eigener Sache; einer Kampfzone, die von der wachsenden Befürchtung befeuert wird, dass wir am Ende jeweils selbst dafür verantwortlich sein könnten, ob uns das Essen krank macht? Zunächst ist festzustellen, dass der erwähnte Ernährungsdiskurs stark selbstreferenzielle Züge aufweist: Es handelt sich vornehmlich um den Diskurs jener, die sich ihn leisten können und die sich ohnehin schon besser als jene ernähren, die kein entsprechendes Know-how parat haben. Hier kommt von vornherein ein hohes Maß an ökotrophologischer Bildung, an ethischen Überlegenheitsgefühlen und gesunder Ausstrahlung zusammen. Der mediale Diskurs über das Gesundessen wird von der oberen Mittelschicht bestimmt und ist damit Ausdruck eines recht spezifischen sozial-ökologischen Milieus.

In eben diesem Milieu ist die Nahrungsaufnahme nicht länger bloß eine existenzielle Notwendigkeit, sondern ein komplexer Indikatorenzusammenhang, der über den gesellschaftlichen Status der Betroffenen sowie über ihre ethischen Wertorientierungen, sozioökonomischen Lebensstilsoptionen und ästhetischen Präferenzen Auskunft gibt. Mit Pierre Bourdieu gesprochen: Die unentwegte Beschäftigung mit gesunder Ernährung dient nicht nur der eigenen Reproduktion auf immer höherem Niveau, sondern vor allem auch der sozialen und kulturellen »Distinktion«. Man kauft Dosentomaten ausschließlich bei Manufactum, man weiß, dass es sich bei Ottolenghi nicht um einen italienischen Zwei-Takt-Motor handelt, und man unterstützt Linda im Kampf gegen Europlant. Als Schreckensbild der Unzivilisiertheit gilt der Fleischsnack Toasty. Zugleich hütet man sich davor, Fremde über den eigenen Chips-Konsum zu unterrichten. Man bringt zur Party der Freunde ausschließlich Selbstgemachtes mit. Und auch der Kuchen für den Kindergeburtstag darf bloß nicht aus der Tiefkühltruhe sein. Wie überhaupt sich der hier anbahnende Kulturkampf derzeit vor allem an sozial durchmischten Kitas zeigt: Geradezu militärisch organisierte Elterninitiativen der oberen Mittelschicht kämpfen dort gegen die klebrigen Süßigkeiten des Prekariats.

Prekäre Zutaten
Man will es kaum glauben, aber die empirischen Belege sind tatsächlich eindeutig: Je höher der Bildungsstand und das Einkommen der Familien ist, umso gesünder ernähren sie sich. Umgekehrt gilt: Je bildungsferner man aufwächst und je instabiler die wirtschaftliche Lebenssituation, umso weniger Gedanken und Geld werden daheim in gesunde Mahlzeiten investiert. Die durchschnittliche Lebenserwartung jener, die einen geringeren sozialökonomischen Status aufweisen, liegt etwa fünf bis zehn Jahre unter der Lebenserwartung höherer Schichten. Auch wenn die Ursachen dafür nicht nur beim Essen - im engeren Sinn - zu suchen sind, sondern auch im Konsum von Alkohol und Nikotin sowie in mangelnder Bewegung: In der schichtspezifischen Beschäftigung mit gesunder Ernährung spiegelt sich zugleich auch ein existenziell bedrohliches und gesundheitspolitisch ernstzunehmendes Ausmaß an sozioökonomischer und gesundheitlicher Ungleichheit.

Um auch dies am Fleischkonsum zu demonstrieren, der ja immer häufiger als gesundheitsschädlich eingestuft wird: Laut TK-Studie geht ein geringes Haushaltsnettoeinkommen von bis zu 1.500 Euro mit einer fast täglichen Fleischration an Bratwurst, Boulette etc. einher, während bei einem familiären Nettoeinkommen ab 4.000 Euro nur jede dritte Haushalt täglich Fleisch verzehrt. Auch wenn der Sarah Wiener-Oberschichtendiskurs ständig behauptet, dass man »doch lieber seltener Fleisch konsumieren soll, dafür aber mit hoher Qualität« oder dass »gesundes Essen gar nicht teurer sein muss«, solange es jemanden gibt, der einkaufen geht und kocht: Ein konventionell tiefgefrorenes Suppenhuhn ist schon ab 1,98 Euro im Discount zu haben. Ein Bio-Suppenhuhn kostet gern mal 13 Euro.

Mit den preisgünstigen, weil qualitativ minderwertigen Produkten nimmt das Marketing besonders einkommensschwache Familien ins Visier. Schichtübergreifende Bedenken gegen ungesunde Ernährung werden produktiv gewendet, indem immer mehr Functional Food in die Regale kommt: Joghurts, die bei der Verdauung helfen, Margarine, die das Cholesterin senken, Omega 3-Fettsäuren für das Gehirn und Vitamin-Ersatzräparate gegen mangelnde Bewegung. In den lukrativen Spielräumen zwischen täglicher Esslust und drohendem Essfrust, wissen die Player ganz genau, wie sie mit verwirrten Verbrauchern kommunizieren müssen; und zwar notfalls derart kleingedruckt, dass niemand es mehr lesen kann.

Das entpolitisierte Abendessen
Nach wie vor scheitern politische Regulierungsversuche regelmäßig an den überstarken Lobbys der Ernährungs- und Agrarindustrie; etwa die sogenannte Ampel, deren Einführung sich gut zwei Drittel aller Bundesbürger wünschen würden. Die Industrie wird aber niemals freiwillig die Produktion umstellen, solange billige, aber auch ungesunde Lebensmittel derart lukrativ sind. Zugleich ist das Ernährungsthema auch deshalb politisch sensibel, weil die Nahrungsaufnahme ein geradezu intimer Akt ist, in den man sich ungern hineinreden lässt. Politische gut gemeinte Vorschläge zur Regulierung des Fleischkonsums etwa sind kühn und werden regelmäßig, wie im Fall des »Veggie-Days«, als paternalistische Eingriffe in die Privatsphäre verächtlich gemacht. Dieses Scheitern gut gemeinter Regulierungsversuche ist aber vor allem deshalb interessant, weil es mit dem hier zur Debatte stehenden Life Style-Diskurs eine unheilvolle Symbiose eingeht. Das Scheitern politischer Regulierung nämlich führt dazu, dass das Ernährungsproblem zunehmend privatisiert und individualisiert wird. Diese Entwicklung lässt sich an verräterischen Wohnungsanzeigen (»1-Zi Wohnung, Zwischenmiete, nur an NR und Vegetarier«) ebenso ablesen wie am derzeit hippen Trend zum Urban Gardening: Es gilt, die persönliche Ernährung wieder selbst in die Hand zu nehmen und damit umfassend für die eigene Lebensform verantwortlich zu sein.

Der vorherrschende Gesundheitsdiskurs soll mehr Eigenverantwortlichkeit wecken, letztlich aber führt er zu einer wachsenden Entpolitisierung der gesundheitlichen Ernährungsprobleme, indem ungesunde soziale Ungerechtigkeiten, giftige Kapitalinteressen und politische Unfähigkeiten kaschiert und ignoriert werden. Statt aber über diese Rahmenbedingungen der ungesunden Ernährung zu diskutieren, steht der Einzelne zunehmend alleine da - und muss scheitern. Seine individuellen Ernährungsgewohnheiten sind zu weiten Teilen systemisch bedingt und damit weit weniger, als man denkt, reine Geschmackssache. Indem aber die Verantwortung für die jeweils eigene Gesundheit zunehmend auf die Betroffenen selbst abgewälzt wird, wächst unaufhörlich auch deren Verunsicherung. Damit tragen alle, die den Hype ums gesunde Essen unkritisch mitmachen, zugleich auch zur Reproduktion bestehender Ungerechtigkeiten bei - und damit zur Stabilisierung der oft ungesunden Essgewohnheiten jener, die sich diesen Diskurs nicht leisten können. 


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