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Alle lachten

Von der neuen Stigmatisierung der Arbeiterklasse


Wir alle kennen das. Man ist unter sich, und plötzlich lässt jemand eine ungeheuerliche Bemerkung fallen. Einen kleinen Satz ganz nebenbei, einen geschmacklosen Kommentar. Das Beunruhigende ist nicht einmal so sehr die Bemerkung selbst, sondern die Tatsache, dass sie offenbar sonst niemanden stört. Kein sorgenvoller Blick. Keiner zuckt zusammen. Mir ging es eines schönen Winterabends beim Essen mit Freunden in einer vornehmen Gegend im Londoner Osten so. Jeder bekam sein Stück Käsekuchen, und dann schnitt jemand das Thema an, das überall in der Luft lag: die Kreditklemme. Irgendwann versuchte der Gastgeber, mit einem kleinen Witz die Stimmung aufzuheitern. »Ist doch schlimm, dass Woolworth zumacht. Wo kaufen jetzt die ganzen Prolls ihre Weihnachtsgeschenke? «

Er würde sich nie für einen Spießer halten. Auch die anderen nicht, waren sie doch alle gebildet, weltoffen, bürgerlich. Mehr als eine Hautfarbe war am Tisch vertreten. Es waren genauso viele Männer wie Frauen da, und nicht jeder war hetero. Politisch hätten sie sich alle als linksliberal bezeichnet. Sich für elitär zu halten, lag ihnen fern. Wenn ein Neuer mit einem Wort wie »Kümmeltürke« oder »Schwuchtel« um sich geworfen hätte, wäre er ziemlich schnell rausgeflogen.

Aber ein Witz über Prolls im Billigladen störte keinen. Im Gegenteil: Alle lachten. Wohl keiner wusste, dass das englische Wort für »Prolls«, »chavs«, von »chavi« kommt, was auf Romani »Kind« heißt. Und zu den 100.000 Lesern des Little Book of Chavs (eine Art Reiseführer zu den Prolls) gehörte wohl auch keiner. Dieses schlaue Buch beschreibt Prolls als »die erblühende Klasse von Unterschicht-Bauern. « Wer es im Buchladen schnell überfliegt, erfährt, dass Prolls an Supermarktkassen arbeiten, in Fastfood-Restaurants oder als Putzfrauen. Tief im Herzen mussten aber alle wissen, dass das Wort Proll nur die Arbeiterschicht ins Visier nimmt. Der »Witz« hätte genauso gut lauten können: »Ist doch schlimm, dass Woolworth zumacht. Wo kauft jetzt die ekelhafte Unterschicht ihre Weihnachtsgeschenke? «

Mich verstörte weniger, was gesagt wurde, als wer es sagte und wer mitlachte. Jeder am Tisch hatte eine gutbezahlte Stelle. Ob sie es zugegeben hätten oder nicht, jeder verdankte seinen Erfolg vor allem seiner Herkunft. Alle wuchsen in gutsituierten Familien und in schönen Vororten auf. Einige waren auf teure Privatschulen gegangen. Die meisten hatten in Oxford, an der LSE oder in Bristol studiert. Dass ein Kind aus der Arbeiterklasse es ähnlich weit bringen sollte wie sie, ist fast undenkbar. Ich wurde zum Zeuge einer jahrhundertlangen Tradition: Die Reichen machen sich über die Armen lustig.

Das gab mir zu denken. Wie kann es sein, dass es in Ordnung ist, Arbeiter zu hassen? Comedians, die auf Privatschulen gegangen sind und Millionen verdienen, verkleiden sich als Prolls und treten in beliebten Sitcoms wie Little Britain auf. Die Zeitungen weiden sich an Schauergeschichten über das »Leben unter Prolls« und tun so, als wären alle Arbeiter so. Internetseiten wie »ChavScum« giften gegen ihr Proll-Zerrbild. Arbeiter sind anscheinend die einzige Gruppe, über die man praktisch alles sagen darf.

Am Pranger
Die Betreiber der Chavscum-Webseite veröffentlichten ihren eigenen literarischen Beitrag zum Proll-Hass. In Prolls! Ein Wegweiser zu Großbritanniens neuen Herrschern geben Mia Wallace und Clint Spanner Hinweise, wie man »Prolls auf freier Wildbahn« erspäht. Prolls sind wie Tiere. »Neuste, gefälschte Designer- Kleidung, Sportausstattung mit dem richtigen Logo, umwerfend schöne Accessoires, extravaganter 9-Karat-Gold-Bling, all das gibt es bei diesem Spielespaß für die ganze Familie!« Eine »Prolette« gelte »in ihrer Gruppe als unfruchtbarer Freak«, wenn sie mit 17 noch keine Kinder habe. Der Lieblings-Fernsehkanal ist »ITV Proll – wo Prolls wissen, dass es da nicht zu schwer ist, Mann«. Sonst schauen sie höchstens This Morning, aber »mit dem Anhauch von Mittelschicht ist man da leicht ein bisschen eingeschüchtert.« Angst macht, dass Kinder von Prolls die anständigen Kinder in den Schulen verdrängen: »Früher waren kostenlose Mahlzeiten in den Schulen verpönt, und manche Familien gaben ihren Kindern lieber ein Lunchpaket mit, als so eine Zuwendung anzunehmen. Aber die Lage hat sich verändert, viele Kinder kommen aus Proll-Familien, und Gratis-Essen ist jetzt in. Die Nicht-Prolls schämen sich zu bezahlen und müssen sich als »Oberschicht« hänseln lassen.«

Die nun so genannten Prolls werden lächerlich gemacht, weil sie bürgerlichen Erwartungen hinsichtlich Kleidung und Ernährung nicht entsprechen. Promi-Koch Jamie Oliver erhielt zu Recht Lob für seine Bemühungen, gesunde Ernährung auf den Speiseplan der Schulen zu setzen. Begleitet wurden diese vom Naserümpfen über die Essgewohnheiten der unteren Schichten. In seiner Fernsehsendung sprach Oliver von Familien, die nicht gemeinsam zu Abend essen, als »das, was wir heute White Trash, weißen Müll, nennen«. Die Serie Jamie Oliver’s School Dinners beschäftigte sich tatsächlich vor allem mit Sozialsiedlungen und Müttern, die versuchten, ihre Kinder durchzubringen. Auf BBC I fragte man ihn: »Glauben Sie, dass bestimmte Leute gar keine Kinder kriegen dürften? Leute in den Sozialsiedlungen? « Über diesen »Witz« wurde herzlich gelacht.

Dasselbe wie für die Ernährung gilt für den Alkohol. Als der medizinische Berater der britischen Regierung, Sir Liam Donaldson, eine Richtlinie erließ, nach der Kinder unter 15 überhaupt keinen Alkohol trinken sollten, platzte James Delingpole vom Daily Telegraph der Kragen. Sir Liam hatte die Frechheit besessen »die schlechte Angewohnheit der Mittelschicht« zu kritisieren, ihren Kindern abends einen Schluck Wein zu erlauben. Delingpole zufolge war das schlicht »die falsche Zielscheibe«. »Wir wissen doch alle, wo britische Kinder ein Alkoholproblem haben: in Sozialwohnungen, in zerrütteten Familien, wo haltlose Winzlinge Alkopops und hochprozentige Biere in sich reinkippen, bevor sie überhaupt Teenager sind.«

Die Mittelschicht sei einfach »ein bequemes Ziel« gewesen, die wahren Schuldigen würden nicht angesprochen, weil »sie entweder sowieso nicht lesen können oder sich nicht ändern würden.« Keine Rolle spielten offenbar Erhebungen des nationalen Sozialforschungszentrums, nach denen vor allem Kinder aus reichen Elternhäusern ein Alkoholproblem haben und die Kinder arbeitsloser Eltern mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch nur einen Schluck Alkohol getrunken hatten. »Offenbar haben junge Menschen in einer sehr niedrigen sozialen Schicht mit geringerer Wahrscheinlichkeit getrunken, möglicherweise weil in ihren Haushalten kein Alkohol vorhanden ist«, schlossen die Wissenschaftler.

Jenseits von Links und Rechts – Prollhass als Elitensport
Leider ist der Proll Hass nicht einfach die exotische Psychose einiger rechtsgerichteter Medienleute. Er ist zum Teil zu einer »liberalen Borniertheit« geworden. Liberale rechtfertigen ihre Borniertheit gegenüber einer Gruppe mit deren eigener vermeintlicher Borniertheit. Die Einstufung der Arbeiterschicht als »weiße« Rasse hat einige überzeugt, dass sie Prolls hassen dürfen und gleichzeitig liberal und weltläufig sein können. Ihren Hass auf weiße Arbeiter begründen sie mit deren vermeintlichem Rassismus und ihrem Widerstand gegen die multikulturelle Realität. »So wird der Snobismus salonfähig«, sagt der Journalist Johann Hari. »Indem er Einwanderer gegen die ›blinde‹ weiße Arbeiterklasse in Schutz nimmt.«

In den Worten von Rachel Johnson (Lady-Herausgeberin und Boris Johnsons Schwester): »Die Medien werden gemacht von der Mittelschicht für die Mittelschicht über die Mittelschicht, oder nicht?« Genau. Die Aufhetzer zum Proll-Hass stammen aus einer schmalen, privilegierten Schicht. Selbst Zeitungen, die überwiegend von Arbeitern gelesen werden, machen mit. Kevin Maguire berichtete mir von einem Sun-Betriebsausflug, bei dem sich alle Journalisten als Prolls verkleideten. Wer über die giftigen Kolumnen schmunzelt, muss wissen, dass er sich an der Verachtung der weniger Glücklichen berauscht. Heute können sich die medialen Klassenkämpfer ihre unverhohlenen Attacken erlauben und Arbeiter als dumm, faul, rassistisch, sexbesessen, dreckig und saumäßig angezogen karikieren. Die britische Arbeiterklasse bringt offenbar nichts Richtiges mehr hervor.

Um mehr darüber zu erfahren, was »Prolls« für junge Leute aus privilegierten Verhältnissen bedeuten, sprach ich mit Oliver Harvey, der in Eton auf die Schule ging und jetzt Präsident der Oxforder Hochschulgruppe der Konservativen ist. »Für die Haltung der Mittelschicht gegenüber dem, was früher Arbeiterklasse war, gegenüber der so genannten Proll-Kultur, ist die Klassengesellschaft in Großbritannien immer noch wichtig«, erläuterte er. In der Stadt der träumenden Türme sei »Prolls« ein geläufiges Wort. »Die Leute hier sollten ja eigentlich ziemlich schlau sein, aber viele finden das trotzdem lustig.« Anders als andere Studenten mag er das Wort nicht – weil es nach Klassen klingt. »Es ist von oben herab, ziemlich verletzend. Wer Glück hatte, verwendet es für die weniger Glücklichen. Leider hat sich das im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt.«

An einem Ort wie Oxford fällt der Proll-Hass auf fruchtbaren Boden. Fast die Hälfte der Studenten kommt von Privatschulen, fast keiner aus der Arbeiterschicht. Hier sind Privilegierte unter sich, die kaum mit Arbeitern in Berührung kamen. Sich über Leute lustig zu machen, die man nicht kennt, ist leicht. Viele Studenten in Oxford verdanken ihren Studienplatz den privilegierten Verhältnissen, die für ihre überragende Erziehung zahlten. Gern tut man so, als sei man aufgrund der eigenen Begabung hier und als seien die am unteren Ende eben beschränkt, nutzlos und noch Schlimmeres.

Diese Art des Hohns ist neu, denn noch vor nicht allzu langer Zeit waren vielen Studenten ihre Privilegien peinlich. »Vor zwanzig Jahren war man als Student stigmatisiert, wenn man aus der Mittelschicht kam. Viele heute Vierzigjährige haben damals ihr ganzes Studium lang einen proletarischen Akzent imitiert«, sagt Decca Aitkenhead vom Guardian. »Heute gibt es oft Proll-Themenpartys, wo Studenten sich als Unterschicht verkleiden, mit Burberry oder was so aussieht. Dass Prolls mehr von sich hielten, als sie seien, ist auf dem Campus heute eine beliebte Pointe.«

In Wahrheit ist der Proll-Hass weit mehr als Snobismus. Er ist Klassenkampf. Er ist Ausdruck des Glaubens, dass jeder zur Mittelschicht gehören und ihre Werte und ihren Lebensstil annehmen sollte und dass die anderen lächerlich gemacht und gehasst werden dürfen. Er entspringt der Einstellung, dass an der Arbeiterklasse nichts Wertvolles ist, und der systematischen Auslöschung aus Zeitungen, Fernsehen, Facebook und Gesprächen. Das ist die Dämonisierung der Arbeiterklasse.

Die von Proll-Hassern verbreiteten Zerrbilder verschleiern, was es heißt, heute zur britischen Arbeiterklasse zu gehören. Hinzu kommt die absurde Vorstellung des politischen Mainstreams, dass Großbritannien heute eine klassenlose Gesellschaft ist. Der Mythos, dass es in Großbritannien nur noch die wohlhabende Mehrheit in der Mitte und einen absterbenden Arbeiterrumpf gibt, wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Gefördert wird dieser Mythos bereitwillig von einer weitgehend bürgerlichen politischen und medialen Elite. Die Arbeiterschaft hat sich sei Thatcher stark verändert. Es wird Zeit, dass wir über die Proll-Partys und Reality-Shows hinausgehen und fragen: Was ist die Arbeiterklasse im Großbritannien des 21. Jahrhunderts?

Die Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert
Die Zahlen deuten es schon an: Wir haben es mit zwei Gruppen zu tun, deren Interessen einander unversöhnlich gegenüberstehen. Einerseits diejenigen, die sich alles vom Munde absparen, um mit ihren niedrigen und stagnierenden Einkommen die Miete zahlen oder die Hypothek abbezahlen zu können. Ihre langen Arbeitszeiten und ihre wachsende Produktivität werden nicht belohnt. Ihre Kinder gehen auf die staatliche Schule, und wenn sie krank werden, gehen sie zum Kassenarzt vor Ort. Sie zahlen ihre Steuern. Nach dem Ende der britischen Industrie sind sie von relativ schlecht bezahlten, unsicheren Dienstleistungsjobs abhängig. Die Politik und die Medien der Mittelschicht ignorieren ihre Sorgen.

Auf der anderen Seite eine wohlhabende Elite, deren Bankkonten sogar mitten in der Krise kräftig angeschwollen sind. Die globalen Jetsetter besitzen Landhäuser, Villen und Lofts auf verschiedenen Kontinenten. Viele von ihnen arbeiten hart und lang, aber sie verdienen an einem Tag so viel, wie andere hart arbeitende Menschen in einem Monat. Viele von ihnen zahlen kaum oder keine Steuern, ihre Kinder gehen auf teure Privatschulen und sie haben teure Privatversicherungen. Aus der Gesellschaft haben sie sich verabschiedet. Ihrer Macht und ihrem Einfluss war das nicht abträglich. Die Tentakel der großen Konzerne reichen bis in die Parteizentralen. Diese reiche Elite besitzt nicht nur enormen politischen Einfluss, sondern auch die größten Zeitungen und Fernsehsender.

Die eigenartige Vorstellung, dass von der Arbeiterklasse nur noch ein Proll- Rumpf übrig ist, nutzt der Politik. Allerdings hat sich die Arbeiterklasse in den letzten 30 Jahren dramatisch verändert. Die alte Arbeiterklasse florierte in Gemeinschaften um ihren Arbeitsplatz herum. Die meisten Männer taten ihr Leben lang dieselbe Arbeit, und oft war das schon die ihrer Väter und Großväter gewesen. Viele dieser Stellen waren angesehen und gut bezahlt. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft war die Regel und zahlte sich aus.

Die neue Arbeiterschicht hat mit der alten eines gemeinsam: Sie besteht aus jenen, die für andere arbeiten und über ihre Arbeit keine Kontrolle haben. Die neuen Jobs sind weniger schmutzig und brauchen weniger Muskelkraft. Schnell tippen zu können ist wichtiger, als viel tragen zu können. Jobs in Büros, Geschäften und Callcentern sind oft schlecht bezahlt und langfristig nicht sicher. Schon vor der Rezession stagnierten die Löhne oder sanken sogar. Millionen Arbeitnehmer wechseln immer häufiger den Job. Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle sind ebenso verschwunden wie der Stolz auf gute Arbeit. Die Arbeitsbedingungen besonders der weitgehend rechtlosen Zeitarbeiter sind oft schlecht. Große Teile der Arbeitnehmerschaft sind nicht gewerkschaftlich organisiert und die Gewerkschaften haben immer weniger Einfluss.

In den 1950er Jahren verkörperte das Gewerkschaftsmitglied im Blaumann die Arbeiterklasse. Heute wäre es eine schlecht bezahlte, Teilzeit arbeitende Kassiererin. Im Fernsehen, in Politikerreden und Zeitungen kommt diese heutige Arbeiterklasse so gut wie nicht vor. Im Wahlkampf 20120 sprach Tory-Chef David Cameron von »den Ignorierten«. Damit kann eigentlich nur die britische Arbeiterklasse gemeint sein.

Die Unterstellung, dass Großbritannien heute eine klassenlose Gesellschaft sei, ist hinterhältig. Tag für Tag preisen Politiker und Medien unsere »Meritokratie« und die Idee, dass Begabung und Motivation mit Sicherheit zum Erfolg führen. Tragisch ist, dass der Mythos der klassenlosen Gesellschaft genau in dem Moment weite Verbreitung fand, da das gesellschaftliche Gleichgewicht immer stärker manipuliert wurde. Großbritannien ist auch heute eine tief gespaltene Klassengesellschaft.

Die Gefahr des Rechtspopulismus
Der Rechtspopulismus gewinnt an Fahrt und ist auf Arbeiterfang. Die British National Party wird sich wohl nie als glaubwürdige Partei etablieren, könnte aber ein böses Omen sein. Im selben Teil des politischen Spektrums floriert auch die United Kingdom Independence Party (UKIP), die 2010 mit fast einer Million Stimmen viertstärkste, und bei den Europawahlen 2009 sogar zweitstärkste Kraft wurde. Kernstück ihres Programms ist der Widerstand gegen die Zuwanderung und ihre vermeintlichen Auswirkungen auf Löhne und Arbeit. In jüngster Zeit hat eine neue rechtsextreme Organisation namens English Defence League militante antiislamische Demonstrationen in verschiedenen englischen Städten angezettelt. Etablierte rechtsgerichtete Kräfte sind auf den fahrenden Zug aufgesprungen, zum Beispiel der konservative Daily Telegraph, der die weiße Arbeiterklasse »den verratenen Stamm« nennt, der angesichts von Multikulturalismus und massenhafter Zuwanderung unter die Räder komme.

Es besteht die Gefahr, dass eine neue eloquente Rechte das Klassenthema an sich reißt und reaktionäre Lösungen fordert. Sie könnte die Dämonisierung und den Identitätsverlust der Arbeiterklasse anprangern und könnte behaupten, dass die traditionelle Arbeiterklasse den einfachen Leuten die kalte Schulter zeigte. Statt der ernsten wirtschaftlichen Probleme, aufgrund derer die Arbeiterschicht besorgt ist, könnte sie sich auf Zuwanderung und kulturelle Themen kaprizieren. Sie könnte Gastarbeiter für die wirtschaftliche Situation und den Multikulturalismus für die Erosion der »weißen« Arbeiteridentität verantwortlich machen.

Schon jetzt finden Rechtsextremisten in der Arbeiterschicht Gehör, weil die Labour-Partei auf eine ganze Palette, gesellschaftlicher Missstände keine Antworten mehr gibt, vom Wohnungsmarkt über den Niedriglohnsektor bis zu unsicheren Arbeitsplätzen. Labour bietet der Arbeiterschicht keine glaubwürdigen Erklärungsmuster mehr an. Viele einstige Stammwähler sehen die Partei heute eher als Erfüllungsgehilfe der Reichen und der Unternehmer. »Die einfachen Leute« fühlen sich nicht mehr vertreten. Zugegeben, die Situation ist in anderen Ländern ähnlich. Der Rechtsruck vieler sozialdemokratischer Parteien hat den Rechtsextremisten überall in Westeuropa Tür und Tor geöffnet, zum Beispiel der Nationalen Front in Frankreichs früherem »roten Gürtel« und der demagogischen Liga Nord in Italien.

Der Aufstieg der extremen Rechten ist das Symptom einer größeren Krise: Arbeiter haben politisch keine Stimme mehr. Aus der Politik vertrieben, ihrer Identität und ihrer gesellschaftlichen Mitspracherechte beraubt und so oft ignoriert, haben sich vielleicht erst überraschend wenige der extremen Rechten zugewandt. Einige gehen gar nicht mehr wählen, andere wählen schweren Herzens doch noch einmal Labour. Rechtspopulismus, Politikverdrossenheit, Zynismus und Apathie könnten für die politische Demokratie schlimmste Folgen haben. Nicht nur die Zukunft der Arbeiterklasse steht auf dem Spiel, sondern unser aller Zukunft. 

Leicht bearbeiteter Auszug aus dem Buch: Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Aus dem Englischen von Christophe Fricker; VAT Verlag André Thiele 2012.



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