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Peter Siller
Der Streit um das Allgemeine
Parteien als entscheidende Institution in der demokratischen Auseinandersetzung um die allgemeine Gesetzgebung
 
 

Rahel Jaeggi

Experimenteller Pluralismus

Lebensformen als Experimente der Problemlösung


Ist eine Kritik von Lebensformen möglich? Ist es sinnvoll, Lebensformen als gut, erfolgreich oder rational zu bezeichnen? Seit Kant gilt gemeinhin, dass sich Glück oder das gute Leben im Unterschied zum moralisch Richtigen nicht philosophisch bestimmen lassen. Und seit John Rawls gilt zumindest in vielen Fällen, dass der ethische Inhalt von Lebensformen aufgrund des irreduziblen ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften nicht den Gegenstand von philosophischen Disputen darstellen kann. Die Philosophie zieht sich demnach aus dem Bereich der sokratischen Frage, ›wie wir leben sollen‹ zurück, während sich die politische Ordnung des liberalen Verfassungsstaates als eine Möglichkeit präsentiert, eine friedliche Koexistenz zwischen verschiedenen Lebensformen zu organisieren, die aber diesen gegenüber selbst ihre Neutralität wahrt. Sobald wir uns nicht mehr damit beschäftigen, was eine gute gemeinsame Lebensform auszeichnen sollte, kommt es zu einer Privatisierung der normativen Fragen nach der Art und Weise unserer Lebensführung. Sie werden in den Bereich reiner Präferenzen verschoben, die nicht weiter hinterfragbar sind und so zu Identitätsaspekten werden, die sich weiterer Analyse entziehen. Ähnlich wie über Geschmack lässt sich dann auch nicht länger über Lebensformen streiten.

Ich werde versuchen zu zeigen, dass entgegen dieser Herangehensweise an die Thematik, die Beweislast umgekehrt werden sollte: Fragen bezüglich der Lebensformen in denen wir existieren, können nicht einfach aus individuellen und kollektiven Deliberationsprozessen extrahiert werden. Jede soziale Formation hat immer schon eine spezifische Antwort auf sie. Und das gilt auch für diejenige soziale Form, die den Pluralismus von Lebensformen zu ihrem besonderen Anliegen gemacht hat. Dies würde bedeuten, dass die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen in gewisser Weise noch nicht angemessen formuliert worden ist. Nicht trotz, sondern gerade wegen der pluralistischen Verhältnisse, die moderne Gesellschaften kennzeichnen, kann die Möglichkeit einer solchen Kritik nicht im Bereich partikularistischer Präferenzen und Festlegungen jenseits unseres Reflexionsvermögens entsorgt werden. Die kritische Analyse bezieht sich auf eine Praxis, der wir uns in mehrerlei Hinsicht nicht entziehen können. Wir nehmen immer schon an ihr teil. Dies wird vor allem in Situationen sozialer Konflikte und Umbrüche deutlich. Solche Situationen können sich ergeben, wenn bislang unhinterfragte ethische Prinzipien plötzlich durch neue Technologien in Frage gestellt werden oder wenn etablierte soziale Praktiken problematisiert werden. Oder sie ergeben sich, wenn die (›interne‹ oder ›externe‹) Konfrontation mit anderen Lebensformen zu Krisen des Selbstverständnisses führen. In solchen Fällen stößt die ›ethische Abstinenz‹ des politischen Liberalismus an ihre Grenzen. Das Projekt einer Kritik der Lebensformen ist daher gleichzeitig einer Art Ideologiekritik bezüglich der liberalen Neutralitätsthese, d.h. der grundsätzlich liberalen Vorstellung, dass soziale Institutionen gegenüber partikularen Lebensformen und den individuellen ethischen Bezugspunkten neutral sein können und sollen.

Auseinandersetzung mit Lebensformen
Kritische Theorie hat sich von Beginn an mit der Bewertung und der Auseinandersetzung mit Lebensformen befasst und sollte dies auch heute tun. Indem sie sich mit elaborierten Rationalitätsvorstellungen sowie einer rationalen Organisation von Gesellschaft, die zur Verwirklichung von Freiheit, Glück und Gerechtigkeit führen sollte, beschäftigte, zeichnete sich die Kritische Theorie der frühen Frankfurter Schule nicht gerade durch ›ethische Abstinenz‹ aus. Aber es wäre auch unzutreffend, Kritische Theorie (selbst zu jener Zeit) als die Arbeit an einer substantiellen ethischen Theorie im Sinne eines aristotelischen Perfektionismus zu verstehen. Der spezifische Beitrag, den die Tradition der Kritischen Theorie zur zeitgenössischen Diskussion zu leisten vermag, bestünde dann weder in einer Befürwortung der Suche nach ethischer Neutralität von Seiten des politischen Liberalismus, noch in der Ausbuchstabierung einer perfektionistischen Theorie des guten Lebens, die unweigerlich den Vorwurf des Paternalismus auf sich ziehen würde. Falls es stimmt, dass Kritische Theorie sich seinerzeit mit dem intrinsischen Gehalt von Lebensformen beschäftigte, d.h. den Praktiken und Institutionen, die unser geteiltes Leben prägen - anstatt sie als ›Black Box‹ zu behandeln - dann sollte dies auf emanzipatorische Art und Weise geschehen. Weit davon entfernt, irgendeiner moralischen Diktatur das Wort zu reden, richtet eine Herangehensweise im Geiste Kritischer Theorie unsere Aufmerksamkeit bei der Kritik von Lebensformen auf die Bedingungen der Möglichkeit von individueller und kollektiver Selbstbestimmung, und sie zeigt auf, dass die Thematisierung und Diskussion von Lebensformen selbst eine solche Bedingung darstellt.

Die spezifischen Ressourcen, die Kritische Theorie nach meinem Verständnis im Rahmen eines solchen Projektes bereitstellen kann, stehen in Verbindung mit einem bestimmten problem- und krisenorientierten Verständnis von immanenter Kritik. Wie auch in früheren Varianten der Ideologiekritik verleiht die Reflexion über die soziale Ontologie ihres Objekts, d.h. die Struktur von Lebensformen selbst, auch dieser Kritik ihre spezielle Form. An dieser Stelle verlassen wir den Bereich, in dem die Frage nach Ethik/Moral überhaupt greift.

Mein Ziel im Rahmen dieses Artikels ist die Formulierung eines Vorschlags, wie sich Lebensformen auf der Grundlage einer sozialen, immanenten Kritik, die nicht durch die Unterscheidungen von Ethik vs. Moral, das gute Leben vs. moralische Prinzipien oder das Gute vs. das Gerechte eingeengt wird, als Lebensformen kritisieren lassen.

Ob dieser Versuch gelingen kann, hängt davon ab, was Lebensformen sind und wie sie funktionieren. Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen werde ich des Weiteren eine Ontologie der Lebensformen vorstellen, die diese einer immanenten Kritik zugänglich macht. Zu Beginn werde ich eine praxistheoretische Vorstellung von Lebensformen entwickeln. Da Lebensformen als normativ strukturierte Bündel von sozialen Praktiken verstanden werden können, reagieren sie immer schon auf normative Herausforderungen; sie sind also mitnichten irgendetwas, das nur durch Kräfte jenseits praktischer sozialer Normativität (sozusagen durch Gott oder das Wetter) transformierbar wäre.

Doch damit Kritik mehr als nur eine willkürliche normative Kraft entfaltet, müssen wir die Frage nach Gründen und Kriterien stellen. Wie ich im weiteren Verlauf zeigen werde, können diese aus den Strukturen der Lebensformen selbst herausgelesen werden, wenn wir diese nämlich als historisch situierte Problemlösungsprozesse betrachten.

Als inerte Praxisbündel, die Problemlösungen ermöglichen, weisen Lebensformen eine Dynamik auf, die durch das Zusammenspiel mit der Kritik an ihnen dazu führt, dass diese Kritik sowohl immanent vorgehen, als auch emanizpatorisch ausgerichtet sein kann.

Was bedeutet es, eine Lebensform als Lebensform zu kritisieren?
Man würde über eine Person lachen, die sich ernsthaft darüber aufregt, dass jemand Bananen isst oder rote Cowboy-Stiefel trägt. Selbst wenn man sich bei dem Gedanken an Bananen ekeln würde oder Verwunderung über rote Cowboy-Stiefel empfände, kann man sich kaum vorstellen, wie eine sinnvolle Debatte darüber aussehen könnte, ob es richtig oder falsch sei, Bananen zu essen oder rote Cowboy-Stiefel zu tragen. Diese Dinge gehen nur die Leute selbst etwas an, es sind - buchstäblich - Geschmacksfragen. Doch die Dinge liegen anders, wenn wir beobachten, wie jemand ein Kind schlägt. Hier werden wir wütend - und zwar aus guten Gründen, wie wir glauben. Wir glauben nicht, dass das Verhalten dieser Person gerechtfertigt ist. Diese Sache geht nicht nur die Leute selbst etwas an und es ist auch keine Geschmacksfrage, so glauben wir. Ja, es könnte sogar eine Pflicht zum Eingreifen von unserer Seite bestehen.

Aber wie steht es um die Frage, ob jemand lieber allein oder in einer Wohngemeinschaft, in einer Kleinfamilie, einer monogamen oder offenen Beziehung lebt?

Wir neigen zur Ablehnung der Konventionalität traditioneller Ehegemeinschaften oder aber der fehlenden Verbindlichkeit offener Beziehungen. Wir mögen das Stadtleben oder die Behaglichkeit des Landlebens bevorzugen. Und falls der Kapitalismus als Lebensform immer zudringlicher wird - falls etwa sogenannte ›kulturelle Werte‹ kommerzialisiert werden - dann befürchten wir möglicherweise eine Trivialisierung und Verarmung unseres Lebens. Es könnte sogar sein, dass wir das Gefühl haben, unser Leben werden immer ›irrealer‹.

All diese Fragen betreffen das, was ich ›Kritik der Lebensformen‹ nenne. Obgleich solche Positionen oft mit Nachdruck vertreten werden und es zu erbitterten Diskussionen um sie kommen kann, ist ihr argumentativer Status letztlich unklar. Machen wir uns nicht zum Narren, wenn wir, wie im Fall der roten Cowboy-Stiefel, nach Gründen für unsere Sichtweise fahnden und versuchen, andere zu überzeugen? Muss nicht jede Person für sich entscheiden, wie sie sich verhält? Gibt es in solchen Fällen überhaupt so etwas wie eine bessere oder schlechtere Option, die intersubjektiv gerechtfertigt werden oder (universelle) Geltung beanspruchen kann?

Bei der Untersuchung solcher Fälle möchte ich zunächst genauer klären, was es bedeutet, eine Lebensform als Lebensform zu kritisieren. Wir können viele Aspekte des sozialen Lebens beklagen, doch im Kontext der Kritik einer Lebensform haben wir dabei etwas ganz Spezifisches im Blick: Es geht uns um den spezifischen Aufbau, die qualitative Dimension der Einstellungen und Praktiken, die für eine Lebensform konstitutiv sind, und nicht um ihre Auswirkungen (selbst wenn diese Auswirkungen moralisch oder rechtlich inakzeptabel sein sollten). Mit Verweis auf eine Unterscheidung, die auf Charles Larmore zurückgeht, ließe sich formulieren: Wir beziehen uns auf den ethischen Inhalt einer Lebensform und nicht ihre externen Effekte. Anders gesagt, geht es uns eher um den ethischen Inhalt einer Lebensform und nicht ihre moralischen Auswirkungen. Wir haben es mit Wertfragen und nicht mit einem Disput über Normen zu tun. Zwar mögen diese Unterscheidungen selbst wie auch ihre Nützlichkeit kontrovers sein, aber so können wir die Sache folgendermaßen darlegen: Unsere Kritik betrifft die Frage, ob eine bestimmte Lebensform an sich und als solche als erfolgreich oder rational bezeichnet werden kann.

Mein Argument lautet, dass man über Lebensformen streiten kann und dass man über sie auf der Basis von Gründen streiten kann. Da ich versuche, beide Behauptungen mit Verweis auf den Aufbau und die Rationalität von Lebensformen zu begründen, bedarf nun dieses Konzept weiterer Erläuterung.

Was sind Lebensformen?

Ich verwende den Begriff ›Lebensform‹ zur Bezeichnung einer kulturell geprägten ›Ordnung menschlicher Koexistenz‹ die ein ›Ensemble von Praktiken und Orientierungen‹ sowie deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfasst. Unterschiede zwischen Lebensformen drücken sich nicht nur in unterschiedlichen Auffassungen, Werten und Einstellungen aus. Sie manifestieren und materialisieren sich auch in Mode, Architektur, Rechtssystemen und Formen der Familienorganisation. Als Formen, innerhalb derer wir existieren und die unser Leben prägen, sind sie Teil der Sphäre des ›Objektiven Geistes‹, um einen Begriff Hegels zu verwenden. Hannah Arendt würde sagen, dass sie zur menschlichen Welt im besonderen Sinne gehören, nämlich derjenigen, in deren Rahmen Menschen ihr Leben führen und die durch menschliche Aktivitäten geprägt ist. Lebensformen beinhalten die soziale und kulturelle Reproduktion des menschlichen Lebens. Daraus folgt, dass sich die Frage nach Lebensformen immer im Plural stellt. Mich interessieren die unterschiedlichen kulturellen Formen, die menschliches Leben annehmen kann und nicht die Lebensform menschlichen Lebens (etwa im Gegensatz zu dem eines Löwen). Aber wie lassen sich innere Struktur und Eigenheiten einer Lebensform verstehen?

Der Begriff der sozialen Praxis bezeichnet Praktiken, die auf das Selbst, andere, oder die materielle Welt bezogen sind. Eine Abendgesellschaft oder Versteckspielen sind ebenso Praktiken wie das Einkaufen in einem Geschäft oder das Schreiben einer Klausur. Praktiken sind Sequenzen einzelner Handlungen oder Taten die mehr oder weniger komplex und umfassend sind und die mehr oder weniger habitualisiert oder repetitiv sind. Diese Praktiken sind ›sozial‹, und zwar nicht dahingehend, dass sie notwendig im Zusammenhang mit zwischenmenschliche Beziehungen oder sozialer Kooperation stehen. Eher sind sie deshalb ›sozial‹, weil sie nur vor dem Hintergrund sozial konstituierter Sinnräume existieren und verstanden werden können.

Vier Aspekte dieses Begriffs der Praxis sind hervorzuheben: Erstens basieren Praktiken nicht nur auf intentionalen Handlungen. Eine Praxis besteht aus Handlungen, denen ein repetitives und habituelles Moment zu eigen ist. In einem gewissen Maß und solange sie nicht gestört werden oder mit Problemen konfrontiert sind, werden sie möglicherweise eher als implizites denn als explizites Wissen weitergeben. Es sind Muster unserer Handlungen; Muster, die uns Handlungen ermöglichen, die aber gleichzeitig durch unsere Handlungen konstituiert sind. Daher ist es möglich, sie sowohl als Resultat wie auch als Vorbedingung unseres Handelns zu verstehen.

Zweitens: Praktiken sind keine ›nackten Tatsachen‹; sie müssen als etwas verstanden und interpretiert werden. Ich sollte in der Lage sein, das Verstecken hinter einem Baum als Teil des ›Versteckspiels‹ (im Unterschied zum Verstecken vor der Polizei) zu verstehen - und da ich das ›Versteckspiel‹ verstehen kann, verstehe ich auch implizit dessen Verhältnis zu andere Praktiken und entsprechenden Interpretationen (wie zum Beispiel andere Spiele und das interpretative Konzept ›Spiel‹, und darüber hinaus das Konzept ›Kindheit‹ im Unterschied zum Erwachsensein etc.).

Drittens sind Praktiken normreguliert. Sie sind um die Kernidee der ›Erfüllung‹ dieser Praxis herum organisiert; also dem Handeln gemäß den Erwartungen, die mit einer bestimmten Praxis einhergehen (wenn man nicht mal versucht, sich zu verstecken, dann wird sicherlich nicht Verstecken gespielt).

Und viertens haben Praktiken ein inhärentes Telos. Sie sind auf ein Ziel gerichtet, das durch sie erreicht werden kann, selbst wenn mehrere Ziele mit einer bestimmten Praxis verfolgt werden (ich gehe Einkaufen, um die Zutaten für das Abendessen zu besorgen aber auch, weil ich mit dem Ladenbesitzer plaudern möchte, da mir zu Hause langweilig ist).

Lebensformen müssen als Ensemble oder Bündel solcher Praktiken verstanden werden. Lebensformen umfassen vielfältige Praktiken, die aufeinander bezogen sind, ohne dass sich daraus eine in sich geschlossene und undurchdringliche Totalität ergeben würde.

Dies ist notwendigerweise so, denn Praktiken beziehen sich immer auf andere Praktiken und zwar sowohl konkret, in dem sie auf verbindende Praktiken beruhen (Die Praxis des Wartens und Zahlens an der Supermarktkasse beruht selbstverständlich auf einer ganzen Reihe anderer Praktiken, die jene erst ermöglichen), als auch dahingehend, dass individuelle Praktiken mit anderen durch einen gemeinsamen Interpretationshorizont verbunden sind. Nur innerhalb dessen sind sie als Praktiken intelligibel. Jemandem, der die Praxis des Einkaufens in einem Supermarkt nicht richtig interpretieren kann, würde das Stapeln von Produkten im Einkaufswagen seltsam, ja, vielleicht sogar als eine Art Diebstahl erscheinen. Und wer kein Konzept von Kindheit und Spiel hat, wird nicht nur das Versteckspiel missverstehen. Man kann dieser Person auch schwer die entsprechenden Regeln erklären, weil sie nicht nur dieses Spiel nicht versteht, sondern nicht weiß, was Spielen überhaupt bedeutet.

Doch obwohl diese Bündel von Praktiken funktional miteinander verbunden sind und aufeinander basieren, sind sie nicht festgelegt, sondern können sich verändern. Allerdings sind sie nicht derart volatil wie etwa der Wechsel von einer Interpretation zur anderen. Sie sind bis zu einem gewissen Punkt inert. Sie enthalten sedimentäre Elemente; Praxiskomponenten, die nicht ohne weiteres zugänglich, explizit oder transparent sind. Mit anderen Worten können die Praktiken, aus denen Lebensformen bestehen, unterschiedliche Aggregatszustände annehmen, die von flüssig bis beinahe gänzlich fixiert reichen. Dementsprechend werden Lebensformen nicht immer bewusst oder reflektiert ›praktiziert‹. Möglicherweise nehmen wir an ihnen teil, ohne dies intendiert zu haben, oder vielleicht sogar, ohne zu wissen, was genau wir tun. Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass soziale Praktiken und Lebensformen in Form von Institutionen materialisiert sind und darüber hinaus auch - noch materialistischer - in Architektur, Werkzeugen, Körpern und materiellen Strukturen, die uns auf bestimmte Weise handeln lassen (obwohl sie selbst das Ergebnis unserer Handlungen sind).

Deshalb können sie unserem Handeln Grenzen setzen, aber auch in gewisser Weise handlungsermöglichend wirken. Praktiken und Lebensformen sind also sowohl gegeben als auch gemacht. Und sie können eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Dennoch handelt es sich um etwas, das Menschen ›tun‹, und das dennoch auch anders ›getan‹ werden könnte. Dies wird besonders klar, sobald eine bestimmte Art von Handlungen und Selbstverständnissen an ihre Grenzen stößt, wenn die Dinge nicht mehr reibungslos laufen. Sobald eine derartige Krise einsetzt, wird die entsprechende Praxis zum Gegenstand von Reflexion und/oder Anpassung.

Auf der Grundlage dieser ersten Skizze der Sozialontologie von Lebensformen können wir nun zur Frage der Kritik zurückkehren: Sind Lebensformen, verstanden als Bündel von Praktiken, mögliche Objekte der Kritik?

Um ein möglicher Gegenstand von Kritik sein zu können, müssen Lebensformen, wie auch alle anderen möglichen Kritikgegenstände, drei Bedingungen erfüllen:

Erstens muss es sich um Entitäten handeln, die zumindest in gewissem Maße veränderbar sind. Hierüber kann kein Zweifel bestehen. Zwar mögen sie inert sein, aber Lebensformen verändern sich auf jeden Fall. Doch dies gilt auch für ein Flussbett oder einen Gebirgszug.

Daher muss ein legitimer Gegenstand von Kritik, zweitens, das Ergebnis menschlichen Handels sein. Irgendjemand muss für den Status Quo in irgendeiner Weise ursächlich verantwortlich sein, bzw. für die negativen Aspekte zur Rechenschaft gezogen werden können. Da die Sozialontologie von Lebensformen auf sozialen Praktiken im Sinne von menschgemachten Aktivitätsmustern beruht, ist auch diese Bedingung erfüllt.

Aber drittens muss ein legitimer Gegenstand von Kritik auch bestimmte Geltungsansprüche enthalten. Das heißt, dass irgendeine Art von Norm involviert sein muss. Es muss möglich sein, die normative Einschätzung der Lage mit Bezug auf solche Normen zu formulieren. (Selbst wenn wir das Flussbett verändern müssten, um die Befahrbarkeit des Flusses zu verbessern, wäre es befremdlich, das Flussbett bzw. den Fluss für seine mangelhafte Befahrbarkeit zu kritisieren. Die Veränderung eines Lehrplans oder die Entscheidung gegen traditionelle Ehevorstellungen wiederum beinhaltet eine bestimmte Behauptung: die Verhältnisse, die wir überwunden haben, erscheinen uns in irgendeiner Weise inakzeptabel oder falsch. Dasselbe gilt für die Kritik von Lebensformen.)

Die Normativität von Lebensformen
Um ein legitimes Objekt von Kritik zu sein, müssen Lebensformen nicht nur veränderbar und Resultat menschlichen Handels, sondern auch durch Normen strukturiert sein, die wir erkennen und auf die wir uns mit unserer Kritik beziehen können.

Falls es zutrifft, dass Praktiken um eine Kernidee der ›Erfüllung‹ dieser Praxis herum organisiert sind, dann müsste die Bezugnahme auf die Normen und Ziele einer Praxis einen Hauptansatzpunkt von Kritik darstellen. In gleicher Weise gilt dies dann auch für ein komplexeres Level von Praxisbündeln, also Lebensformen. Mit Blick auf Lebensformen streiten wir also nicht nur darum, was es bedeutet, eine Praxis zu erfüllen, sondern auch um die Frage, ob eine bestimmte Praxis untrennbar mit einer entsprechenden Lebensform verbunden ist. Müssen wir in einer heterosexuellen Beziehung sein, um eine Familie zu sein? Benötigt eine Stadt nicht-kommerzialisierte Räume und die entsprechenden Praktiken um als Stadt betrachtet werden zu können - als ein Raum, der tatsächlich Stadtleben ermöglicht.

Um die spezifische Art der Normativität zu verstehen, um die es hier geht, ist es wichtig festzuhalten, dass sich mein Argument nicht in der selbstverständlichen Behauptung erschöpft, dass Lebensformen als Elemente des sozialen Lebens Regeln, Regulierungen und implizite Annahmen darüber beinhalten, was richtig und falsch ist. Der entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass die Normen, die Lebensformen strukturieren - oder vielmehr, die sich in ihnen ausdrücken - als mehr als bloße Konventionen zu verstehen sind. Konventionelle Vereinbarungen können durch ähnliche Vereinbarungen ohne Verlust ersetzt werden. Ob wir auf der linken oder rechten Straßenseite fahren macht keinen Unterschied, solange wir nur eine klare Regel einführen. Aber dies gilt nicht für die Normativität, die soziale Praktiken strukturiert. Wenn die gründliche Untersuchung von Patienten den ›Sinn‹ des guten Doktorseins darstellt, dann handelt es sich bei den Gütestandards für diese Art von Praktiken nicht um eine Konvention. Vielmehr lassen sie sich nur in Verbindung mit den inhärenten Zielen der Praxis - vor allem die Gesundheit des Patienten - verstehen, und aus diesen Zielen ergeben sich bestimmte Anforderungen und Grenzen dessen, was getan werden darf, bzw. getan werden kann. Ich möchte Normen, die Praktiken ausrichten und konstituieren, ethisch-funktionale Normen nennen.

Es sind also Normen, ohne die die Praktiken nicht wären, was sie sind, ohne die sie aber auch nicht funktionsfähig mit Blick auf die mit ihnen erhobenen Anforderungen wären. Es ist natürlich nicht so, dass es auf der einen Seite ein reines Funktionieren gäbe - wenn wir von einer sozialen Praxis sagen, dass sie funktioniert, so meinen wir damit, dass sie gemäß unserer normativen oder ethischen Standards funktioniert. Auf der anderen Seite fallen ethische Normen nicht vom Himmel, sie beziehen sich auch eine Aufgabe oder ein Ziel: Mit dem Ethos des Doktors, das eine gründliche Untersuchung des Patienten mit dem Ziel der Bewahrung oder Wiederherstellung von dessen Gesundheit gebietet, gehen ethische Interpretationen einher, doch gleichzeitig gibt es einige Gründe, die uns auf die materiellen Umstände der entsprechenden Praxis, die gegeben sein müssen, um dieses Ziel zu erreichen, zurückverweisen.

Obwohl wir mit dieser normativen Struktur unserem Ziel der Begründung einer Kritik von Lebensformen näher gekommen sind, haben wir es noch nicht erreicht. Zwar können wir erklären, was dazu beiträgt, dass eine bestimmte Praxis oder Lebensformen ihren impliziten Standards und Zielen gemäß funktioniert; mehr aber auch nicht. Wir müssen darüber hinaus klären, ob es möglich ist, Lebensformen in einer nicht-willkürlichen Art und Weise zu kritisieren. Können wir unsere Kritik einer bestimmten Lebensform jemals rechtfertigen?

Wenn wir Lebensformen im emphatischen Sinn als Lebensformen kritisieren wollen (im Gegensatz zur Frage, ob sie gemäß einer rein internen Perspektive ihren eigenen Ansprüchen genügen), benötigen wir normative Standards, die bis zu einem gewissen Punkt kontexttranszendent sind, ohne dass wir einen rein externen Standpunkt annehmen.

Lebensformen als Problemlösungsstrategien
Lebensformen stellen eine bestimmte Form des Problemlösens dar. Lebensformen sind eine Reaktion auf Probleme, mit denen unsere Spezies konfrontiert ist und es sind Versuche, diese Probleme zu lösen. Gemäß diesem Verständnis können Lebensformen die bestmögliche Lösung der spezifischen Probleme darstellen, denen sie sich gegenübersehen und die von ihnen selbst ausgehen. In Hegels Beschreibung kann etwa die bürgerliche Kleinfamilie als Versuch verstanden werden, die Spannung zwischen Freiheit und Natur sowie Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu überwinden. Die Form der europäischen Stadt kann als Reaktion auf ökonomische Erfordernisse und die Ermöglichung der Interaktion von Fremden verstanden werden. Marx' freie Assoziation von Produzenten zielt auf die Überwindung des Problems entfremdeter Arbeit ab, ohne die befreiende Wirkung technologischer Entwicklung und einer komplexen Arbeitsteilung aufs Spiel zu setzen.

Viel hängt daran, welche Bedeutung der Begriff des ›Problems‹ hat. Probleme sollen hier nicht-naturalistisch als Probleme zweiter Ordnung verstanden werden, als durch ihre historische Situiertheit normativ aufgeladen, als sowohl vorgefunden wie auch gemacht und sowohl subjektiv als auch objektiv.

Die Vorteile, die sich aus der Rede von Problemen und Problemlösungsstrategien ergeben, werden deutlich, sobald wir den Vergleich zur Rede von Bedürfnissen und ihrer Befriedigung ziehen. Statt zu behaupten, Lebensformen lösten Probleme, könnte man argumentieren, dass sie menschliche Bedürfnisse befriedigen und dass sie sich normativ danach beurteilen lassen, in welchem Maße ihnen das gelingt. Bedürfnisse gelten herkömmlich als grundlegende, ahistorische und unhinterfragbare Konstanten, die sich aus der menschlichen Natur ergeben und keiner Interpretation bedürfen.

Im Gegensatz dazu können naturalisierte ›ursprüngliche‹ und reine Bedürfnisse, die vermeintlich unabhängig von bestimmten historisch herausgebildeten Lebensformen existieren, niemals der Ausgangspunkt einer Kritik der Lebensformen sein. Mit dem Konzept von Problemen ist die mittlerweile geläufige Kritik an Bedürfnissen jenseits von Interpretation und Geschichte verbunden und gleichzeitig wird mit ihm der immer schon gegebenen kulturellen Prägung menschlichen Lebens sowie seiner höherstufigen Eigenart Rechnung getragen, die notwendigerweise Interpretation erfordert. Der Ausgangspunkt ist also dem Bedürfnis-Konzept diametral entgegengesetzt. Statt des mit allerlei Schwierigkeiten verbundenen Versuchs, höherstufige Bedürfnisse zu definieren und zu verteidigen und statt sich in den bekanntermaßen diffizilen und aporetischen Debatten über menschliche Natur, menschliche Probleme und die entsprechenden Auswirkungen aufzureiben, nimmt die hier vorgeschlagene Herangehensweise die kulturellen Formationen selbst als Ausgangspunkt. Probleme sind demnach nicht Probleme an sich - und sie sind keine ›nackten Tatsachen‹. Probleme entwickeln sich historisch, sie sind kulturell geprägt und ›normativ vordefiniert‹. Sie tauchen im Kontext einer Lebensform auf, die schon historisch situiert und sozial institutionalisiert ist. Sie werden durch einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext bestimmt und geformt und erscheinen nur vor dem Hintergrund einer bereits interpretierten Situation.

Dies führt uns zu einer ersten These: Lebensformen sind eine Reaktion auf Probleme zweiter Ordnung. Probleme zweiter Ordnung betreffen die konzeptionell-kulturellen Ressourcen die einer Lebensform zur Verfügung stehen, um Probleme erster Ordnung zu lösen. Nehmen wir zum Beispiel eine ländlich geprägte Gesellschaft, die von einer Hungersnot heimgesucht wird, weil es seit Monaten nicht geregnet hat. Der Nahrungsmangel ist sicherlich ein Problem (erster Ordnung) für die Reproduktion dieser Gesellschaft: Menschen verhungern. Aber dies stellt nicht notwendigerweise ein Problem für die entsprechende Lebensform dar.

Die Tatsache, dass Leute verhungern, führt nicht von sich aus dazu, dass etablierte Institutionen und Praktiken jener Gesellschaft in Frage gestellt werden. Nur falls sich herausstellt, dass die Gesellschaft aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, auf dieses Problem zu reagieren, wird die Hungersnot zu einem Problem der Lebensform. Falls sich herausstellte, dass Dürren ein regelmäßiges Vorkommnis in dieser Gegend sind und dass sich die Gesellschaft diesem Problem nicht in irgendeiner Weise stellt und falls sich auch noch herausstellen sollte, dass dies mit einer unzulänglichen Vorstellung von Naturvorgängen zu tun hat oder gar mit der comphehensive doctrine (Rawls), dass Verhungern als Strafe Gottes hinzunehmen ist, dann sieht sich diese Gesellschaft dem gegenüber, was ich als ein Problem zweiter Ordnung bezeichne. Probleme zweiter Ordnung beziehen sich also nie auf ›nackte Tatsachen‹, sondern Fakten, die sich erst aus etablierten Praktiken und Interpretation ergeben - selbst wenn diese Probleme aus einem (kontingenten) Problem erster Ordnung erwachsen.

Wie auch im Fall des ethisch-funktionalen Charakters der oben erwähnten Normen, die Praktiken inhärent sind, so ist auch die Frage, ob eine soziale Situation in irgendeiner Weise problematisch ist und wie das Problem zu deuten ist, mit einem Verständnis des Ziels und damit den normativen Implikationen einer Lebensform verbunden. Lebensformen werden problematisch, wenn sie bestimmte von ihnen selbst geweckte Erwartungen enttäuschen.

Probleme: Selbstgemacht und doch vorgefunden
Gemäß der normativ komplexen Vorstellung von ›Problemen‹, das ich hier zugrunde lege, kommen Probleme selten sozusagen ›von außen‹, sondern sind auf ganz bestimmte Art und Weise ›selbstgemacht‹. Wenn Lebensformen als Lebensformen in Probleme oder Krisen geraten, dann scheitern sie nicht nur an externen Hürden, sondern an internen, selbstgemachten Problemen, selbst wenn in manchen Fällen das Außen, bzw. die Natur, das Problem darstellt: etwa die Tatsache, das menschliche Wesen Nahrung und Schutz benötigen oder die Tatsache, dass bestimmte klimatische oder geographische Bedingungen den Möglichkeiten der Urbarmachung und Bebauung Grenzen setzen.

Wie oben schon erwähnt, gilt dies allgemein für Probleme zweiter Ordnung. Doch dieser Punkt wird noch interessanter, sobald wir ihn im Licht des normativen Charakters von Problemen reformulieren. Denn solche Probleme haben nichts mit normativen Behauptungen irgendeines externen Beobachters zu tun, sondern betreffen die Ansprüche der Lebensform selbst, denen sie nicht gerecht wird. Dies ist nicht dahingehend zu verstehen, dass es sich hier um die expliziten Wert- und Normvorstellungen handelt, denen eine Gesellschaft Lippenbekenntnisse leistet. Vielmehr sind es die Referenzpunkte, die bereits in sozialen Praktiken enthalten sind und von denen geteilt werden, die an der Praxis teilnehmen - sie konstituieren die Praxis, selbst wenn sie nicht voll realisiert sind oder sie in einer bestimmten Situation überhaupt nicht realisiert werden können.

Wenn man aber das Konzept des Problems so versteht, bleibt eine Schwierigkeit. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Probleme und Lösungen interpretationsabhängig sind. Um es als Frage zu formulieren: Sind Probleme oder Krisen nur ›subjektiv‹ gegeben; sind sie von uns konstruiert oder sogar eine Fabrikation unserer Interpretationen? Oder sind sie objektiv; existieren also unabhängig von unserer Situationsinterpretation? Meine Antwort lautet: beides - Probleme sind gleichermaßen gegeben und gemacht.

Probleme müssen zunächst einmal als solche aufgefasst und dementsprechend auch so interpretiert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich um reine Konstruktionen handelt. Probleme machen sich als Herausforderungen und Hindernisse bemerkbar, mit denen sich die praktische Sphäre konfrontiert sieht, ohne dass jene schon die spezifische Form eines ›Problems‹ angenommen haben. So lässt sich eine nur scheinbar paradoxale Beschreibung von Problemen auflösen. Ein Problem ist insofern gegeben, als es in einer bestimmten Situation Anzeichen einer Krise gibt. Es ist insofern gemacht, als die Identifizierung von etwas als Problem etwas aus noch unbestimmtem Material erschafft. Selbst wenn das Problem sich als ›objektiv‹ darstellt, das nicht ignoriert werden kann, ist das, was erkennbar ist, so unbestimmt, dass es nur durch eine Interpretationsleistung zu einem konkreten Problem werden kann.

Man kann, mit anderen Worten, keine Probleme aus dem Nichts erschaffen. Es muss auf etwas basieren, das unabhängig von uns existiert und durch eine Störung der Normalität auf sich aufmerksam macht. Deshalb können Probleme nicht einfach ignoriert oder weggeredet werden. Ob ein Problem adäquat interpretiert und die angebliche Lösung erfolgreich ist, lässt sich danach bemessen, ob der probleminduzierte ›Druck‹ nachlässt. Und selbst wenn sich hierbei auch um eine Interpretationsfrage handelt, kann man doch den tatsächlichen Problemgehalt durch einen Anpassungsprozess zwischen Problem und Problembeschreibung ermitteln.

Die Immanenz der Kritik

Wir können nun einige Schlussfolgerungen bezüglich der Vorteile und Möglichkeiten einer problem-basierten Perspektive auf Lebensformen ziehen, wie ich sich hier entwickelt habe.

Der Erfolg einer Lebensform bemisst sich danach, wie gut sie die Anforderung für Problemlösungen erfüllt. Sie kann rational oder irrational sein, angemessen oder unangemessen, sie kann beim Versuch der Problemlösung Erfolg haben oder scheitern, ohne dass dies unbedingt bewusst oder intendiert geschieht. Übrigens soll mit der Beschreibung von Lebensformen als Problemlösungsstrategien nicht suggeriert werden, dass Lebensformen eine Art Supra-Subjekt mit eigenem Willen darstellen, die intentional Probleme erfassen und lösen. Vielmehr ist die Problemlösung ein Effekt der Praktiken und Institutionen, die Lebensformen inhärent sind. Sie bleiben bestehen (d.h. sie erodieren nicht oder geraten in Krisen) wegen ihrer vorteilhaften Effekte bezüglich Problemen, die innerhalb von bestimmten Lebensformen entstehen. Das patriarchale Familienmodell der Blutsverwandtschaft, das für Hegel der Vorläufer der bürgerlichen Kleinfamilie ist, ist nicht nur ›falsch‹, sondern auch instabil. Lebensformen die nicht länger in der Lage sind, Probleme zu lösen, erodieren krisenhaft und erzeugen so eine Dynamik der Veränderung.

Die Kritik von Lebensformen setzt also dort an und ein, wo es Probleme, Krisen und Konflikte gibt, selbst wenn diese sich (noch) nicht offen manifestieren. Daher ist Kritik nicht aus einer extern-autoritären, sondern aus einer immanenten Perspektive zu formulieren. Diese Perspektive zieht sich aus dem Bereich der Ethik als solcher zurück und wendet sich der Analyse von inerten Bündeln von Praktiken gemäß ihrer Normativität innerhalb eines historischen Problemlösungsprozesses zu.

Doch dieser Prozess ist genau das: ein Prozess. Und im Erfolg dieses Prozesses oder dessen Ausbleiben findet die Kritik von Lebensformen endlich das Kriterium, nach dem sich gefahndet hat. Damit die Beweislast dadurch nun nicht einfach nur verschoben wird, bedarf die Problemlösungsthese einer Dynamisierung und einer sie flankierenden weiteren These.

Erfolg und Scheitern von Lebensformen als Problemlösungsstrategien lassen sich nur prozedural beurteilen, also hinsichtlich einer Geschichte des Problemlösens. Falls es zutrifft, dass die normative Aufladung und historische Situiertheit von Problemen das Resultat der Lösung früherer Probleme sind, dann entwickeln sich Problemlösungsversuche historisch in Auseinandersetzung mit alternativen Problemlösungsstrategien. Lebensformen müssen dann im größeren Zusammenhang einer Geschichte von Problemlösungsversuchen verortet werden. Diese Geschichte ist keine Geschichte von Lösungen des immer gleichen Problems, sondern eher eine Geschichte von Problemlösungsversuchen, die unter bestimmten Umständen zu einer akkumulierten Geschichte von Problemlösungsversuchen führt - eine Art Lernprozess, oder um es mit Hegel auszudrücken, ein Erfahrungsprozess.

Das allgemeine Ergebnis meiner Untersuchung kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Lebensformen können als erfolgreich gelten, wenn sie sich als Ergebnis erfolgreicher Erfahrungs-Akkumulationsprozesse (oder Lernprozesse) verstehen lassen und wenn sie weiteres Lernen ermöglichen. Die Aufgabe einer Kritik von Lebensformen ergibt sich aus der Meta-Frage nach den Kriterien, mit deren Hilfe erkennbar wird, ob eine bestimmte Dynamik sich als Lernprozess oder in Anlehnung an Dewey als Vertiefung der Erfahrung erwiesen hat.

Bei der Einschätzung der relativen Vorzüge (und sogar der Rationalität) einer Lebensform müssen wir daher den Eigenheiten ihrer Transformationsdynamik Beachtung schenken. Deren jeweilige (Un-)Angemessenheit zeigt sich etwa im mehr oder weniger regressiven Umgang mit Problemen und in möglichen Erfahrungsblockaden oder anderen Hindernissen, die uns bei der Erschließung weiterer Erfahrungen im Wege stehen. Diese Kriterien erscheinen mir als interessante Werkzeuge, die uns die Bewertung von Lebensformen ermöglichen ohne moralistisch auftreten zu müssen, aber auch ohne auf eine rein interne Kritik, die sich allein an schon existierenden Normen einer Gemeinschaft orientiert, beschränkt zu sein.

Diese Kritik von Lebensformen kann also von sich behaupten, sowohl immanent als auch transformativ zu sein. Sie ist immanent, da ihr Ausgangspunkt immanente Krisen und die Erosion sozialer Praktiken und Institutionen ist. Sie ist transformativ, da die Bewertung von Problemlösungsprozessen Kontexttranszendenz zulässt und Veränderungen anregt.

Es ist kein Zufall, dass ich den Erfolg von Lebensformen aus der Perspektive von Krisen und Kritik untersuche. Das Ziel ist nicht die Entwicklung einer Konzeption von einer korrekten Lebensform. Es ist aber auch nicht die Suche nach den Bedingungen einer solchen Konzeption. Derartige ethische Systembildung scheint mir weder wünschenswert noch aussichtsreich. Mein Fokus richtet sich dagegen eher auf das Scheitern von Lebensformen und den Krisen, denen sie zum Opfer fallen, sowie den Problemen, die aus ihnen selbst entstehen und denen sie sich gegenüber sehen, also alle Aspekte die sie kritikwürdig/-fähig erscheinen lassen. Der Moment einer ›ethisch-funktionalen Störung‹ oder ›Krise‹ hat sich in diesem Kontext als wichtige Antriebskraft oder Movens dessen erwiesen, was ich als Kritik bezeichne, so dass der Verdacht des Paternalismus ausgeräumt sein sollte. Kritik ist hier nur der Katalysator eines historischen Problemlösungsprozesses, in dem sich Kritik mit Selbstkritik verbindet.

Ein experimenteller Pluralismus

Führen die Vorstellung von Lebensformen als Problemlösungsstrategien und die damit verbundene Vorstellung eines ethischen Lernprozesses zu einem Monismus der Lebensformen? Haben die ›Probleme‹, die ich hier skizziert habe, nur eine richtige Lösung, so dass sich am Horizont die Dystopie einer vollständig uniformen Lebensform im Singular abzeichnet? Nein. Hillary Putnam hat einmal ein anderes Verständnis von Pluralismus und der fundamentalen Einsicht in die Pluralität von Lebensformen formuliert. Er schreibt: »Das Problem besteht nicht in der Tatsache, dass wir eine Vielzahl von Formen des guten Lebens kennen, die miteinander unvereinbar sind, sondern darin, dass wir keine Form des guten Lebens kennen, jedenfalls keine, die nicht sowohl Vor- als auch Nachteile hat.« Anders gesagt: Wir kennen keine Lebensform, die Probleme löst ohne neue hervorzurufen.

Wenn man die Situation so betrachtet, dann sieht man - einerseits - unterschiedliche miteinander konkurrierende Lebensformen. Sie vergleichen und kritisieren einander und sich selbst auf der Grundlage ihrer Unfähigkeit, die Probleme zu lösen, die sie für sich selbst darstellen. Andererseits kann dasselbe Verhalten als Motiv für die Anerkennung (sogar Wertschätzung) eines unzerstörbaren Pluralismus betrachtet werden. Dieses Motiv ist weder rein pragmatisch noch eine bloße Romantisierung von Diversität. Es handelt sich um eine andere Art von Pluralismus: nicht um Gemeinschaften von einander entfremdeten Monaden, sondern eher eine Pluralität von experimentellen Versuchsanordnungen des Problemlösens, deren Resultate nicht eindeutig vorhersehbar sind. Und davon sollte es so viele wie möglich geben, da das Experimentieren der einzige Weg zu neuen Lösungen darstellt. Wenn es tatsächlich so ist, dass wir nicht über zu viele, sondern nicht einmal eine einzige Lösung des Problems der Lebensführung verfügen, dann erscheint eine Pluralität notwendig da (in der pragmatistischen Tradition) eine Vielfalt von Versuchen erforderlich ist, um zumindest in die Nähe einer akzeptablen Lösung zu gelangen.

Meine Konzeption führt also nicht zu einem Monismus, sondern zu einem experimentellen Pluralismus der Lebensformen. Dieser Pluralismus hat jedoch nichts mit dem Pluralismus ›ethischer Abstinenz‹ zu tun, der sich prinzipiell ethischen Fragen verschließt. Es ist eher ein Pluralismus von Debatten über die richtige Lösung des Problems der Lebensführung. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein liberaler Agnostizismus, der ethische Fragen ausklammert, würde nur die Durchführung des Experiments behindern. 
Übersetzung: Thomas Biebricher

 



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