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Ludger Schwarte

Die Stadt, eine Volksversammlung

Architektonische Bedingungen freien Handelns


Zweifellos wäre die Welt ohne Städte friedlicher. Aber die Menschen wären auch unfreier, wenn die gesamte Menschheit sorgfältig über den Globus verteilt mit einigem Abstand voneinander lebte. Denn die Architektur einer Stadt stellt nicht nur Bedingungen des Überlebens, des Tuns und des Fabrizierens her, sondern bietet eine Grundlage für Konfrontationen, für spontane Assoziationen, für freies Handeln, 403 v. Chr. in Athen, 1789 in Paris, 1989 in Berlin, 2011 in Kairo.

Verschiedentlich ist versucht worden, Städte durch eine bestimmte Anzahl von Menschen pro Quadratkilometer zu definieren, durch eine bestimmte Dichte von Institutionen, durch eine spezifische Bevölkerungs- und Infrastruktur. Denn kaum jemand würde einen Wolkenkratzer, der 150.000 Menschen beherbergte, die in ihren Appartements ihr ganzes Leben verrichteten und kaum voneinander Notiz nähmen, als Stadt bezeichnen. Auch wenn alle übereinander durch Briefe, Telefonbuch, Radio, Fernsehen und Internet informiert wären, aber einander nie begegneten, würden wir ebenso wenig von einer Stadt sprechen wie im Falle einer gigantischen Familie, denn die Erfahrung von Fremdheit und Diversität zählen wir sicher ebenso zu den Eigenschaften einer Stadt wie die Möglichkeit, die Zugehörigkeit zu überwinden. Ist denn die gegenteilige Ansicht plausibler, die die Stadt zu einer gebauten Volksversammlung stilisiert? Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie wir uns, die wir Städte, aber kaum Volksversammlungen kennen, diese ausmalen. Ist denn eine Volksversammlung ein festgefügter, eingerichteter Ort oder die Aufstellung und Anordnung einer (homogenen) Menschenmenge?

Eine Versammlung muss zunächst als eine Bewegung begriffen werden, die aus einer Zerstreuung hervorgeht. Das Zusammenströmen und Sich-Versammeln von Menschen unterstellt noch keinen geteilten Raum, keine soziale Ordnung, kein gefühltes Zusammen, keine gemeinsamen Wahrnehmungsmedien, keine kommunikative Infrastruktur, keine Sprache, mit Hilfe derer sich die Menschen als Gemeinschaft begreifen oder definieren könnten. Vielmehr sollten wir die Versammlung als eine Bewegung, aufeinander zu und aneinander vorbei, verstehen. Versammlungsorte sind, historisch gesehen, anders als Menschenansammlungen, eine Rarität. Die Möglichkeit einer solchen Versammlung nannten die Griechen Agora. Dort entwickelte sich aus der Versammlung der Bevölkerung die Volksversammlung als Institution und damit die Vorläuferin aller Parlamente. Erst später wurde ein Volksversammlungsbau auf der Pnyx errichtet.

Der Rhythmus des Versammelns

Mit dem Begriff Agora bezeichnen die Griechen ab dem 7. Jahrhundert die Versammlung von Menschen, aber auch den Platz, auf dem diese Versammlung stattfindet. Unter der Architektur der Agora haben wir keinen gebauten Ort, sondern immer zugleich eine Aktion, ein Produkt und ein Instrument zu verstehen. Ihre Architektur kann weder auf die Planung eines Einzelnen, noch auf die Aktion eines menschlichen Kollektivs (Versammeln, Tanzen, Zuschauen) reduziert werden. Sie ist auch kein bloßes Erfahrungsinstrument. Vielmehr sollten wir die Architektur der Agora grundsätzlich begreifen als die Ermöglichung öffentlicher Interaktion zwischen Menschen und Dingen. Die Agora entsteht in Athen in der Nähe der Nekropole, aus dem Arrangement der Gräber, auf dem »Kerameikos«. Die Agora arrangiert zunächst nicht viel mehr als das Erdulden und Aufnehmen dieser Unruhe, als die gestampfte, geklopfte Erde, als die Suche nach Halt, nach Aufenthalt und neuem Schwung, als die Oberfläche, als Einordnung in den Fluss der Zeit. Die Tanzfläche auf und neben der Nekropole ist der Nabel der Stadt. Die Lebendigkeit des Urbanen trennt sich hier ab vom gewöhnlichen Leben, deplatziert sich immer wieder und fällt sodann erneut an die Orte der Vorsorge, der Regeneration und Degeneration zurück. Die architektonische Präfiguration dieser Versammlung besteht also zunächst im Freilassen einer Fläche, dann im Arrangement singulärer Erfahrungswerte zu Entgegnungen, zu Parcours, zu kollektiven Mustern der Zeitwahrnehmung.

Das Spüren, der Bezug der einzelnen bewegten Körper aufeinander noch vor der leiblichen Wahrnehmung, geht nicht schon aus Erschlossenem und Strukturiertem, sondern aus einer Spannung hervor, die eine Streuung transformiert. Erst aus der Spannung, die einen Raum öffnet, ergibt sich die Möglichkeit, dass sich etwas vereinzelt, versammelt und zur Erscheinung kommt. Die Art, wie eine Sache zur Erscheinung kommen kann, hängt von der Gestaltung der Leere ab, das heißt von der Spannung, in der sie sich sammelt. Die Spannung entwirft einen Rhythmus. Rhythmus bedeutet nicht zuerst den Fluss oder das Fließen, sondern das Zusammenkommen, die Komposition, die Fügung. Im Rhythmus entsteht ein sich fügender Raum, der verschiedene Erscheinungsweisen aufleuchten lässt, gegen einander hält und ausbalanciert, in der Konfrontation ebenso wie in der Assoziation, im Kontrast, in der Konzentration, in der Ausbildung von Ensembles, in der Explosion.

Innerhalb der Vielstimmigkeit der Versammlung stellt sich die Eigensinnigkeit, ebenso wie der Einklang, erst durch die Bewegung aus der Spannung der Entgegensetzung zur Streuung auf ein gemeinsames Zentrum hin ein. Wenn die Versammlung als Bewegung aus dem Disparaten heraus verstanden werden muss, weil die Pluralität möglicher Positionen nur zugleich mit deren Unbestimmtheit in Erscheinung treten kann, können wir architektonische Mittel eruieren, die diese gespannte Leere gestalten. Ein Labyrinth vermag dies ebenso wie Stätten sportlichen Wettkampfs. Auch die Tanzfläche (Choros) ist eine solche rhythmisierte Spannung. Die Tanzfläche bündelt unsichtbare Kräfte, Reize, eigensinnige Organe, verstreute Regungen zu einer Ressource möglicher Koordination und zwar durch eine offenbare, rhythmische Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem und zwischen verschiedenen, kollektiv distribuierten Sinnen.

Architektur als kollektive Performanz
Städte sind deshalb keine ins Gigantische aufgeblähten Häuser, keine Funktionssysteme, keine gebauten Befehlsstrukturen. Die Gesetze der Ökonomie greifen hier stets zu kurz. Denn die Architektur einer Stadt stellt nicht nur Bedingungen des Überlebens, des Tuns und des Fabrizierens her, sondern bietet eine Grundlage für Konfrontationen, für spontane Assoziationen, für freies Handeln. Steine sind in dieser Architektur Beharrungskräfte, Mächte der Langsamkeit. Der Petrifikation des Politischen und den beharrlichen Mustern der Beherrschung stehen Sammlungsbewegungen entgegen. Die Architektur der Stadt ist gekennzeichnet durch eine Dispersion öffentlicher Räume. Die Öffentlichkeit dieser Räume rührt aus ihrer Offenheit, mit der sie privaten, aber auch kommunalen, staatlichen oder sonstwie polizeilich verfassten Räumen entgegen treten. Offene Räume sind Freiflächen, aber auch Verdichtungen und intime Lagen, in der die Menschen und Dinge in ihrer Verschiedenartigkeit in Erscheinung treten können, in denen sich Öffentlichkeiten versammeln und die sie mit ihrem Gespür und durch ihre Handlungen verändern. Im öffentlichen Raum der Städte entsteht daher aus der Nähe und Erstreckung des Fremden, Vielfältigen und Unsichtbaren ein Klima, das die Wahrscheinlichkeit unvorhersehbarer, aber menschengemachter Ereignisse erhöht. In diesem urbanen Klima gedeiht eine Vielfalt von Lebensformen, die ihre Wechselseitigkeit ausdrückt und dadurch das Klima, die Wahrscheinlichkeit der Veränderung, zu beeinflussen sucht.

Ein Begriff der Stadt muss daher über gebaute Strukturen hinausgehen und klimatische Wechsel, politische Eingriffe und kulturelle Vollzüge, ästhetische Dynamiken und ontologische Widersprüche erfassen, so dass wir die Architektur der Stadt wesentlich als kollektive Performanz begreifen können, die überhaupt erst ein Zusammen hervorbringt, das geordnet werden könnte. Prozessionen, Paraden und Demonstrationen geben Beispiele für soziale Rhythmen, in denen sich eine Gesellschaft eine Gestalt gibt, die sich in einem urbanen Klima formiert.

Die raumgreifende Macht der Prozession
Das Prozessieren gewinnt oft dadurch Gestalt, dass es die Ausgliederung von Zuschauern oder Zuhörern indiziert oder ein Handlungsmuster zitiert; es kann jedoch auch spontan und unregelmäßig vonstatten gehen, Halte- und Wendepunkte wählen. Die Prozession ist der Vollzug einer Versammlung als ein kinästhetischer Akt. Sie markiert eine Strecke, verräumlicht eine Spannung und führt dadurch einen bedeutsamen Wandel herbei. Die Prozession entfaltet ihre Dynamik meist über eine Route, die eine kollektive Routine antizipiert, eine Gewohnheit. Alle Elemente des Prozessierens, des Ausschreitens, des Herumgehens und später des Flanierens, der »dérive« und des Auszugs sind zunächst als Interaktionen zwischen urbanen Akteuren und ihrer Öffentlichkeit zu sehen und verdichten sich erst in diesem Handlungsfeld zu körperlichen Gewohnheiten, zu Zeichen und Objektassemblagen. Das Prozessieren bildet einen Rahmen für kollektive Ereignisse. Nur auf der Grundlage solcher ausgehandelter Prozessordnungen können Entscheidungen getroffen werden, können menschengemachte Ereignisse sich in einer sozialen Ontologie manifestieren.

Das prozessuale Kollektiv entsteht aus einer Umweltrelation, übersetzt die Raumspannung in Bewegungen einer Öffentlichkeit gegenüber und organisiert sich selbst durch das Arrangement dieser Bewegungen in einem Feld, in dem Kräfte und Symbole ausgehandelt, manipuliert und zu Entscheidungen verdichtet werden können. Jedes Zucken, jeder Schritt, jede Geste wird ein Vollzugselement und setzt den prozessualen Raum in Beziehung zu vorliegenden Orientierungsmustern. Obschon dabei auch politische Macht artikuliert wird, kann doch nicht davon gesprochen werden, dass hier eine Hegemonie die Massen manipuliere, denn die Beteiligung jedes Einzelnen, der Mitvollzug ist zum Gelingen wesentlich. Der Prozess verändert die Grundkoordinaten des Lebens.

Indem athenische Prozessionen, wie etwa die Skira, die Hauptachse durch die Stadt legen und die Bewegung aller Stadtteile praktisch versammeln und symbolisch ordnen, verkörpern sie zugleich auch den Weg der Sonne, den Weg der Zeit und ihrer Schatten durch die Stadt. Durch die Inskription der Prozession als Orientierungsachse in die Fundamente der Stadt, die sich auch später bei den Römern durch Inauguratio, Limitatio, Orientatio und Consecratio mit rechtwinkligen Straßennetzen am Lauf der Planeten, an der Zeit ausrichten, gewinnt die Möglichkeit der Bewegungsbestimmung und der Zeitmessung die Oberhand über die raumgreifende, kollektive Interaktion. Bevor es jedoch ein hierarchischer Marsch wurde, sammelte die Versammlungsprozession beliebige Bevölkerungsteile in emphatischem Glanz und demonstrierte einen Aufbruch, eine Neugier, eine Suche nach Erfahrung und Anerkennung. Die »Pompeis« wurden auf egalitärer Basis organisiert; wer nicht teilnahm, schaute zu, tanzte oder aß bei dem anschließenden Mahl mit, denn das der Göttin an der Peripetie der Prozession geopferte Fleisch wurde als letzter Akt an die Bevölkerung verteilt; dieser dramatischen Struktur ist es wohl geschuldet, dass viele Theaterstücke, allen voran Aristophanes’ »Vögel«, in einer zeremoniellen Hochzeitsprozession alle Zuschauer einladen, am anschließenden Mahl teilzunehmen, so dass der gesamte Dramenwettbewerb in einem großen offziellen Gelage endet. Die Prozessionen exemplifizieren eine göttliche Form der Sorglosigkeit, Präsenz und Fülle. Stets werden bei den Prozessionen Machtdemonstration und ästhetisches Spiel ineinander verwoben. Jedoch können Prozessionen durchaus auch Felder politischer Fermentation oder Arenen politischer Kontestation sein: Ein Beispiel ist die Reparation der Demokratie nach der Thyrannei der Dreißig 403 v. Chr. durch eine Prozession von den Stadttoren am Piräus aus, die in der Wiedereröffnung der Volksversammlung (Ekklesia) mündet.

Ressourcen zur Änderung der Wirklichkeit
Dass Prozessionen grundlegend für Rituale sind, und Rituale Versuche, die Gewalt von Prozessionen zu funktionalisieren, zeigt nicht zuletzt die Erfahrung der Französischen Revolution: Die demonstrierenden, gegen die Herrschaft der Mauern anrennenden Massen sollen ab 1793 nach dem Willen Robespierres durch die staatliche Einrahmung und Besetzung des öffentlichen Raumes, durch kultische Umzüge und rituelle Darbietungen gebannt und regierbar gemacht werden. Um dies zu bewerkstelligen wurden gigantische Zirkusgebäude errichtet und verschiedene Muster der Massenversammlung und Techniken der Brotund- Spiele-Politik ausgelotet. Seither konzentriert sich der moderne Städtebau auf Aggregate von Einzelzellen und auf Kollektivierungsattraktoren, in denen der Konsens herbeigebrüllt wird. Sind Städte nicht längst Maschinen zur Gleichschaltung? Liegt die einzige Möglichkeit, der totalen Kontrolle und Verwaltung des Lebens zu entkommen nicht in einem Unsichtbarwerden, im Auszug aus den Städten, zurück ins Diffuse, Disparate, in die Streuung?

Städte bieten noch immer unverzichtbare Ressourcen zur Änderung der Wirklichkeit. Mehr als eine Million Demonstranten haben sich am 28. Januar 2011 aus ganz Kairo in Richtung auf den Tahrir-Platz in Bewegung gesetzt. Am 1. Februar ist ihre Zahl auf annähernd zwei Millionen geschätzt worden. Wieviele Demonstranten tatsächlich auf den Platz gedrängt sind, kann nur gemutmaßt werden, und doch ist unzweifelhaft, dass es die schier unübersehbare Anzahl der Menschen auf diesem Platz ist, vor der der Polizeistaat Hosni Mubaraks letztlich in die Knie gegangen ist. Zu Beginn des Jahres 2012 werden die massenhaften Protestversammlungen auf dem Tahrir-Platz gewaltsam unterdrückt. Wichtigstes Instrument dabei sind Mauern, die das Militär auf dem Platz errichtet hat, um die Bewegungen einschränken und kontrollieren zu können.

Revolutionen finden auf Plätzen statt

Der Tahrir-Platz war Ort der ersten Kundgebungen, er war Schlachtfeld, Ort des Protestes und des Ausharrens, vielleicht wird er als der Ort des Triumphes im Gedächtnis bleiben. Viel ist über die neuen Medien geschrieben worden, die zur Mobilisierung der Massen beigetragen hätten. Doch die Revolution fand weder in Frankreich 1789, noch in Deutschland 1989, noch jetzt in Tunesien noch in Ägypten, noch sonstwo, in Massenmedien statt. Meinungen und Nachrichten kann man rasch über Journale und Flugblätter, über Radio und Fernsehen, über das Internet verbreiten. Doch verschaffte sich die Menge der Menschen in Tunesien und Ägypten auf Straßen und Plätzen Gehör, weil sie von den Orten der Macht ausgeschlossen ist. Solange die oligarchische Macht architektonisch, durch Mauern, Stacheldrähte, panoptische Sichtasymmetrien, gesichert wird, wird es zu repräsentativer Gewalt auf den Straßen kommen. Damit eine Revolution stattfindet, muss man einen Platz besetzen und eine Tür eintreten; das bessere Argument allein verändert die Welt nicht. Ohne die Avenue Habib Bourguiba, den Unabhängigkeitsplatz und den Kasbah-Platz in Tunis, ohne den Tahrir-Platz in Kairo hätten die politisierten Massen sich nicht versammeln können, sie hätten nicht voneinander, von ihrer Macht, Notiz genommen, sie wären beherrschbar geblieben.

Unsere europäischen Regierungen lieferten in den Wochen des Aufstandes Repressionsequipment anstatt Megaphone oder humanitäre Hilfe. Denn auch sie haben mit ansehen müssen, wie schnell ein Regime, das niemand totalitär oder auch nur diktatorisch nannte, sondern das auf (irgendwelchen) Wahlen basierend Freiheitsrechte einschränkt, vom Volkszorn getroffen und weggefegt werden kann, trotz Überwachungskameras, Folterschergen und Militär. Was die Aufständischen benötigten, waren breite Boulevards, über die sie ziehen konnten, wie die Corniche in Alexandria, und unübersichtliche, weite Plätze, wie den Tahrir-Platz in Kairo. Bestünde Kairo nur aus Soukhs und Basaren, die Irruption der Massen auf der politischen Bühne hätte nicht stattfinden können.

Die Kulturgeschichte der Demonstration, eines merkwürdig hybriden Mittels repräsentativer Gewalt, das mittlerweile in aller Welt praktiziert wird, beginnt mit dem Marsch der Frauen von der Pariser Place de Grève über den Palais Royal und die Place Louix XV. über die Champs Elysées nach Versailles, am 4. Oktober 1789. Das Vorbild für den zentralen Kreisverkehr im Tahrir-Platz, die Place Louis XV. (heute: Concorde), war ein zentraler Revolutionsschauplatz. Sie war ab 1755 errichtet worden, um die Tuilerien mit den Champs-Élysées zu verbinden. Die dort aufgestellte Statue von Louis XV. auf dem Pferd wird am 11. August 1792, dem Vorabend der Abschaffung der Monarchie, von Revolutionären umgestoßen. Ein Platz, als symbolische Besetzung des Raums intendiert, wurde zur physischen Ressource des Aufstands. Mit der Errichtung der Avenue Bourguiba in Tunis nach dem Muster der Champs Elysées und dem Tahrir-Platz in Kairo nach dem Muster der Place de la Concorde wurden nicht nur die Glanzlichter urbaner Kultur importiert, sondern zugleich die Kriechströme der Volkssouveränität.

Plätze verwandeln Nebeneinander in Miteinander

Die Existenz von Stadtplätzen ist alles andere als selbstverständlich. Daher griffe eine Betrachtung zu kurz, die neuzeitliche Stadtplätze nur im Hinblick auf ihre ästhetischen Vorbilder, Ordnungsmuster und ökonomische Bestimmungen hin befragt. Denn ohne die Einbeziehung der politischen Kräfte und das Aufkeimen der Volkssouveränität lässt sich gerade die Leere der Plätze nicht würdigen. Die Piazzen gibt es in dieser Form überhaupt nur, weil die norditalienischen Kommunen im späten 12. Jahrhundert begonnen haben, für neue zivile Lebensformen adäquate Stadträume zu entwickeln. Stadtplätze sind nicht nur Symbole politischer Ansprüche, sie ermöglichen es auch praktisch, die Versammlungen der Kommune auszuweiten und zu vertiefen. Sie verwandeln das Nebeneinander in ein Miteinander. So ist der Sienneser Campo ein gemeinsames Feld, das die Abhänge der vereinten Dörfer zusammenführt, eine Grenzfläche, aus der eine gemeinsame Wahrnehmung erwächst. Der natürliche Halbkreis wird ein ziviler Platz, umgeben von Häusern als Logen und Galerien. In der Mitte dieser Häuser entsteht ein immenses Freiluft-Theater, dessen Bühne der Stadtpalast ist, weithin sichtbar mit seiner majestätischen Torre del Magnia.

Die Piazzen in Venedig, Florenz, Siena und Pisa sind Manifestationen republikanischer Bewegungen. Der Stadtplatz zeigt die architektonische Kraft des Kollektivs. Die Bevölkerung gewinnt darauf ihre Würde und Mündigkeit; hier blickt sie sich selbst ins Gesicht. Will man dieser Bewegung entgegentreten, muss vor allem die Macht des Stadtplatzes unterbunden werden. So wird in Florenz 1356 zunächst der Beschluss des Stadtrates, eine Loggia auf dem Stadtplatz zu errichten, heftig kritisiert, denn eine Loggia sei einer Tyrannei angemessen, nicht einem freien Volk. Die Konstruktion der Loggia dei Lanzi markiert daher die Differenzierung von Staat und Volk und die Selbst-Erhöhung der Regierung. Der Übergang von der republikanischen zur Prinzipatsverfassung lässt sich in Florenz auch als Einrücken der Statuen beobachten – von Rändern, Nischen, Seiteneingängen und toten Winkeln der Nutzung hin zur Besetzung der Kreuzungspunkte und Verbindungslinien. Durch diese Platznahme wurden republikanische Nutzungsformen unterbunden. Die Monumentsetzung entschädigt für die Einschränkung des Gebrauchs durch Ästhetisierung. Die Besetzung der Mitte durch das Reiterstandbild Cosimos ist als Ästhetisierung zugleich die Einrichtung des Platzes als Medium. Die Öffentlichkeit muss sich zwangsläufig zu dieser monumentalen Setzung verhalten; nun werden über den Platz herrschaftliche Botschaften kommuniziert.

Jenseits dieser Mediatisierung und Monumentalisierung ist der Stadtplatz nicht nur ein wichtiges Instrument für die Ausbildung einer urbanen Kultur und für republikanische Politik; er ist nicht nur die Bühne, auf der die Bürger einander begegnen, sondern auch ein Raum, der aus den existierenden Kommunikationstrassen springt. Stadtplätze sind nicht nur kommunale, sondern öffentliche Orte. Denn sie sind prinzipiell Allem und jedem Beliebigen zugänglich, sie sind nicht bestimmten Handlungen vorbehalten, sondern geben all dem Raum, was noch nicht identifiziert ist. Nachts bergen sie den Schmelz städtischer Intimität. Dadurch verbreiten sie ein facettenreiches Flair, eine Verdichtung der Zeit. Über alles Symbolische und Imaginäre hinaus bieten Stadtplätze, in Italien, in Frankreich, in Tunesien oder Ägypten, die reale Möglichkeit der Versammlung und der Demonstration der Macht gegenüber illegitimer Herrschaft. 


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