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Der letzte Film

Gibt es ein Leben vor dem Tod? Herk Harveys Carnival of Souls


Man sagt, dass an Sterbenden das Leben nochmals wie ein Film vorbeizieht. Der Gedanke, wie dieser letzte Film aussehen könnte, ist im Grunde ungeheuerlich, geht es doch dabei nicht mehr um die Frage was kommen wird, sondern vielmehr darum was war. Oder anders gefragt: Gab es ein Leben vor dem Tod?

Der letzte Film ist wohl kein Film, den man selbst dreht, in dem man an Script und Kameraführung feilen kann, sondern einer, in dem sich Bilder und Geschichten aufdrängen. Und er ist sicher kein Dokumentarfilm. Im letzten Film spielt nicht nur das eigene Leben, sondern auch die vielen Leben, die man nicht lebte. Es ist deshalb vielleicht auch eine Art Rechenschaft über das falsche, wirkliche Leben und bessere, verpasste Leben. Er ist ein Film mit Bild- und Tonstörungen, die schon von der Ankunft des Todes künden. Der letzte Film ist ein Film über Gespenster, also über Menschen, die in einem sind, ohne dass man noch Aussicht hat, Leben mit ihnen weiter zu teilen, möglicherweise auch, weil sie schon zuvor aus dem Leben verschwunden sind. Überhaupt ist zu fragen, ob nicht die mindestens ebenso große Herausforderung an das Leben in der Endlichkeit im Verschwinden des konkreten Anderen besteht, das noch nicht einmal im Tod seinen Grund haben muss. Die Gespenster im eigenen Leben sind nicht immer (Un-)Tote.

Es ist vielfach diagnostiziert und analysiert, aber gleichwohl nach wie vor richtig: Die Tatsache der Endlichkeit menschlichen Lebens ist in unserer Gesellschaft fast perfekt ausgeklammert. Was durch individuelle Erfahrungen – sei es mit Partnern, Familie, Freunden oder eigener Krankheit – hochschießt und bewegt, spielt in der gesellschaftlichen Kommunikation so gut wie keine Rolle. Und auch in der praktischen Philosophie dominiert vielfach eine Variante des aufgeklärten Ratio¬nalismus, dem die Tatsache der Endlichkeit fremd bleibt. Wie also gemeinsam über Endlichkeit nachdenken und damit zugleich über das Leben vor dem Tod?

Du hast nur dies eine Leben: Emanzipation und Endlichkeit

Für eine emanzipatorische Philosophie, für eine emanzipatorische Lebenshaltung ist das Bewusstsein für die Endlichkeit essentiell. Du hast nur dies eine Leben. Welche Vorstellung vom Gelingen auch immer damit verbunden ist, und welche Konsequenzen auch immer daraus gezogen werden, so ist dies doch zumindest der Ausgangspunkt für eine Lebensführung, die dem Rechnung trägt und sich nicht einfach dem Schicksal ergibt. Da die Ausflucht in ein zweites, drittes, ewiges Leben verbaut ist, wird dieses eine umso kostbarer.

Für den französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch ist der Tod Organon-Obstaculum, Werkzeug und Hindernis, denn einerseits setzt er allen Aktivitäten ein Ende, andererseits führt das Bewusstsein von der Begrenztheit des Lebens zur Aufwertung der einzelnen Momente. Auf diese Weise erfüllt der Tod das Paradox einer sinnvollen Sinnlosigkeit, denn er vernichtet das Leben und spricht ihm den Sinn ab, gleichzeitig ist er aber auch die Voraussetzung für individuelle Sinngebung. Das Bewusstsein für die Endlichkeit ist deshalb eine Energiequelle, ein Antrieb – und zugleich Erinnerung daran, nicht den einfachen Weg zu gehen, sondern auch schmerzhafte Veränderung und krumme Wege zuzulassen.

Der Soziologe Hartmut Rosa sieht in dem Bedeutungszuwachs des Diesseits – auf Grund des Verschwindens religiöser oder sonstiger metaphysischer Ausflüchte – neben dem Nachhall der calvinistisch-protestantischen Ethik die eigentliche Triebfeder für die soziale Beschleunigung der Leben. Für ihn besteht das eigentliche »Heilsversprechen« der sozialen Beschleunigung darin, dass sie ein säkulares, funktionales Äquivalent für die Idee des »ewigen Lebens« zu bieten scheint und daher als die Antwort der Moderne auf das unvermeidliche Kulturproblem der menschlichen Endlichkeit, den Tod, verstanden werden kann. Wer unendlich schnell lebe, brauche den Tod als Optionenvernichter nicht mehr zu fürchten, ließen sich doch alle Leben in diesem einen führen. Rosa kritisiert diesen Antrieb sozialer Beschleunigung und beklagt die abnehmende Bedeutung alternativer neuzeitlicher Umgangsformen mit dem Faktum der Endlichkeit, wie etwa stoische Gelassenheit, offensive Lebensverneinung, entindividualisierte Gattungsgeduld oder ein Fortbestand in Werken und Spuren.

All diese alternativen Umgangsformen sind jedoch mit Blick auf die Aufgabe eines gelungenen endlichen Lebens haltlos. Die Aufgabe und die damit einhergehende Unruhe, diesem einen Leben Rechnung zu tragen, lassen sich nicht abnehmen. Richtig ist zweifelsohne, dass es ein Maß an Beschleunigung gibt, in dem sich die Vervielfältigung von Optionen in ihr Gegenteil verkehrt. Aber stimmt die Diagnose wirklich: Eine vom Endlichkeitsbewusstsein getriebene Gesellschaft, die alle Intensität und alles Glück in diesem Leben sucht? Die empirische Soziologie diagnostiziert unter Bedingungen wachsender Prekarität das Gegenteil: den unbedingten Willen, in der Spur zu bleiben, Konventionen einzuhalten und die Form zu wahren. Und damit einen Vorrang all jener Ängste und Unsicherheiten, die einen davon abhalten, dem eigenen Leben im Angesicht der Endlichkeit Rechnung zu tragen.

Das alles deutet nach wie vor auf eine Endlichkeitsvergessenheit hin. Wer das gelungene Leben in Routine und Betriebsamkeit ertränkt oder als Nebenwiderspruch auslagert hat eben auch die Endlichkeitsfrage noch gar nicht gestellt. Es ist oft nicht die Jankélévitche Kostbarkeit des Jetzt vor einem Endlichkeitshintergrund, das die Menschen prägt. Das Jetzt beruht nach wie vor eher auf einer großen Verdrängungsleistung, in der vermutlich neben einem Fortwirken religiöser Hintergrundannahmen unter anderem genau jene Einstellungen greifen, die Hartmut Rosa vermisst.

Für immer Dein Feind

Man sollte seine Zeit nicht an eine ausufernde Fehde mit dem Tod, an »Todesfeindschaft« verschwenden, wie sie Elias Cannetti eindrucksvoll vorgeführt hat. Und Canetti selbst räumt kurz vor seinem Tod ein: Es ist möglich, »daß die Rigi¬dität deines Todeshasses dir bestimmte Zeiterfahrungen versperrt hat.« Aber den Tod für das was er nimmt hassen sollte man schon. »Ich verfluche den Tod« – notiert noch der Achtzigjährige – »ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder.« Canettis Notizen und Essays gegen den Tod sind ein bedeutender Beitrag einer radikalen Moderne, die das Nicht-mehr-sein nur als Paradox zu begreifen vermag, das auch Nietzsches Suggestion von der ewigen Wiederkehr oder Heideggers »Vorlaufen in den Tod« nicht auflösen. Für immer Dein Feind.

Kunst der Aufklärung: Zombies vs. Vampire

Wenn es also nicht die Gesellschaft ist, die sich an der Frage nach einem Leben vor dem Tod im Bewusstsein der Endlichkeit beteiligt, und die Philosophie selbst dort nicht viel zu sagen hat, wo sie in Fragen des gelungenen Lebens vordringt, so ist es doch immerhin die Kunst und ihre Kraft zur Grenzüberschreitung, die uns weiterhelfen könnte. Christoph Schlingensief erwies sich in seinen letzten Projekten noch einmal als großer Aufklärer in eigener Sache. »So schön wie hier kann es im Himmel gar nicht sein.« In diesem Zusammenhang ist es eine absurde Pointe, dass künstlerische Aufklärer wie Christoph Schlingensief, der immer auf der Suche nach drastischen Bildern für das Verdrängte und Ausgeblendete war, selbst todkrank sein müssen, um plötzlich im Feuilleton höhere Weihen zu empfangen.

Heute sind es gerade die in der Öffentlichkeit randständigen Phänomene der von Adorno angeprangerten Kulturindustrie – Trash, Horror, Zombiefilme, Heavy Metal etc. – , die noch am ehesten Bilder für das ansonsten verdrängte Problem der Endlichkeit erzeugen. Dietmar Dath hat das in seinem Briefroman »Die salzweißen Augen« überzeugend dargelegt. Drastik ist die kulturindustrielle Form, die nicht nur das Selbstwunsch-, sondern auch das Angstbild von modernen Menschen annimmt, wenn die sozialen Versprechen der Moderne nicht eingelöst werden. Hier werden jene Schmutzränder der Gesellschaft beleuchtet, die sonst im Dunkeln blieben.

Dabei lässt sich die Figur des Vampirs eher als Metapher fragiler Ewigkeit verstehen denn als Erinnerung an die Endlichkeit. Der Vampir überwindet die Endlichkeit, indem er den Anderen aussaugt und sich einverleibt. Er zahlt damit zugleich einen doppelten Preis, da seine potentielle Unendlichkeit zum einen stets gefährdet ist (Sonne, Weihwasser, Knoblauch, Kreuze etc.) und er zum anderen – zumindest bei entsprechender Sensibilität – zerstören muss, was er liebt. Insbesondere letzteres Dilemma ist der Stoff für die erfolgreichen Coming-of-Age-Geschichten im Vampirgewand, die gerade in jedem Kinderzimmer mitverfolgt werden. Allen voran die »Twilight«-Serie von Stephanie Meyer mit ihrer puritanischen Sehnsucht nach Keuschheit in der Liebe.

Demgegenüber ist der Zombie aus naheliegenden Gründen bis heute eine marginalisierte (Kunst-)Figur geblieben. Als Metapher führt er gerade keine Überlebensstrategie vor, sondern den körperlichen wie auch den seelischen Verfall. Der Leib-Seele-Dualismus wird – wenn man so will – doppelt negiert und es ist gerade das Verschwinden des Bewusstseins, des Willens und des Erlebens, das besonders ängstigt. Der Zombie wird so nicht nur zur Metapher für den Schrecken der Endlichkeit, sondern eignet sich zugleich als Bild für eine Lebensweise vor dem Tod, die an der emanzipativen Aufgabe im Angesicht der Endlichkeit scheitert: Ein Leben wie die Toten schon vor dem Tod. Und so dienen Zombies auch als Metapher für ein angepasstes Dahinvegetieren, unterwürfigen und kritiklosen Gehorsam (»Kadavergehorsam«), passiven Konsum und Desinteresse.

Deshalb war es naheliegend, dass etwa die Punks das Zombiemotiv auf Plattencovern und T-Shirts für ihre Gesellschaftskritik aufgriffen. »You think you’re a zombie, you think it’s a scene / From some monster magazine / Well, open your eyes [now/too late] / This ain’t no fantasy, boy / This ain’t no love-in / This ain’t no happening / This ain’t no feeling in my arm« (Misfits, Night of the Living Dead).

Auf Grund seiner doppelten Funktion als Endlichkeitserinnerung und Kritik am ferngesteuerten Leben verwundert es nicht, dass der Zombie anders als der Vampir nie im Mainstream angekommen ist. Legt er seine Finger doch in die Wunden, die verschlossen bleiben sollen.

2 Sekunden Ewigkeit

Doch die aufklärerische Spur der Kunst zum neuzeitlichen Umgang mit der Endlichkeit weist weiter zurück. Es brauchte einen Lebenskünstler wie Ambrose »Bitter« Bierce (* 24. Juni 1842; † 1914), um uns in »Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke« (1891) von einem letzten Film zu erzählen. Dabei bricht er zugleich mit dem Dogma, dass erzählte Zeit gleich Erzählzeit sein muss. Im amerikanischen Bürgerkrieg steht ein Mann mit der Schlinge um den Hals auf einer Eisenbahnbrücke und soll gehenkt werden. Er erlebt die letzten Sekunden in quälender Langsamkeit. Er wird sich einer Bewegung bewusst, dann hört er ein Platschen. Der Strick ist gerissen und er ist in den Fluss gestürzt. Vor den feindlichen Kugeln wegtauchend erreicht er das Ufer und stürzt in den Wald. Dann macht er sich auf den Weg nach Hause. Am Morgen erreicht er sein Gehöft, wo ihn seine Frau erwartet. Er stürzt auf sie zu. Da spürt er einen betäubenden Schlag im Genick, weißes Licht flammt auf. Dann ist alles dunkel. Der Mann ist tot, sein Körper schaukelt am Strick unter der Brücke. Die Strecke, die der Mann zurücklegt, ist nur so lang wie der Strick und doch vergeht in dieser Zeit ein weiteres mögliches Leben. Bierce schildert auf vier Seiten das Geschehen auf der Brücke, auf zwei Seiten die Vorgeschichte – aber auf acht Seiten den letzten Traum. Damit richtet er den Blick auf jenen letzten Film, von dem hier die Rede sein soll.

Eine ähnliche Konstruktion findet sich in der Erzählung »Das geheime Wunder« (1944) von Jorge Luis Borges (1899–1986). Sie berichtet von einem Schriftsteller, dem im Moment seiner Hinrichtung von Gott das Jahr geschenkt wird, das er für die Vollendung eines Dramas erbeten hat. Und so durchlebt auch hier der zu Tode Verurteilte in wenigen Sekunden ein ganzes Jahr.

Ein Riss in der Welt: Carnival of Souls

Wie kein anderer berichtet Harold Arnold »Herk« Harvey (3. Juni 1924–3. April 1996) in seinem Film Carnival of Souls von einem »letzten Film«. Die Rahmenhandlung ist hier nicht die einer Hängung oder Erschießung, sondern die eines tödlichen Autounfalls. Vor allem aber ist der letzte Film hier nicht der Traum einer Rettung sondern eher ein letzter Alptraum, die Retrospektive eines isolierten, nicht glücken wollenden Lebens und zugleich eines widerstrebenden Abschieds aus dem Leben.

Die Hauptfigur Mary Henry (Candace Hilligoss) steigt nach dem Autounfall aus dem Fluss und versucht ihr Leben weiterzuleben, doch was sie auch anfasst scheitert. Aus ihrem neuen Job als Kirchen-Organistin wird sie gefeuert, da ihre Hände wie ferngesteuert außer Kontrolle geraten und statt den erwarteten Harmonien einen beängstigend psychodelischen Sound erzeugen. In dem Kontakt und vielleicht auch Abenteuer versprechenden Hotelzimmer, das sie bezogen hat, liegt sie einsam wach. Auf ihren lebensfrohen Zimmernachbarn, der sie abschleppen will, reagiert sie phlegmatisch, apathisch, wie nicht mehr von dieser Welt. Als wäre ein Riss zwischen ihr und dem Rest. Sie dreht am Frequenzregler des Autoradios, aber es kommt immer nur die gleiche irre Musik. Ihre Sinne sind gestört, ihr Blick verschwimmt, zeitweilig ist alles um sie herum stumm, und zu dem Vogelgezwitscher, das sie hört, finden sich keine Vögel.

Und so, wie sie die Welt nicht mehr richtig wahrnimmt, nimmt auch die Welt sie nicht mehr wahr. Sie ist zeitweilig ein Gespenst, das von der Umwelt nicht mehr gesehen, nicht mehr gehört wird. Sie steht an der Kasse im Kaufhaus, aber wird von der Bedienung nicht wahrgenommen. Die Kommunikations- und Anerkennungsverhältnisse sind in diesem letzten Film defekt, der Andere wird zum Gespenst, wie man selbst auch.

Welt hinter Glas: Der letzte Film im letzten Film

Dieser beidseitige Auflösungsprozess hat seinen Höhepunkt in einer zehnminütigen Sequenz gegen Ende des Films, einer Art Traum im Traum, einem letzten Film im letzten Film. Mary Henry bringt ihr Auto zur Reparatur in eine Werkstatt. Der Reparateur fragt sie nach dem Schaden und fährt dann das Auto samt Insassin mit der Hebebühne nach oben, da sie sich weigert auszusteigen. Doch kaum oben angekommen ergreift die Seltsamkeit wieder Raum. Die Bilder verschwimmen, die seltsamen Töne setzen ein, Mary Henry verriegelt – wie bereits in einer anderen Szene zuvor – die Autotüren, als wolle sie den Tod nicht hereinlassen. Ein Schatten erscheint in der Tür der Werkstatt, der Tod ist ihr auf den Versen. Eine nicht zuordbare Hand dreht an einem Rad und fährt die Hebebühne wieder runter. Sie flüchtet nach draußen, rennt hektisch, verzweifelt die Straße herunter, beruhigt sich wieder und betritt die Halle eines Busbahnhofs. Wieder verschwimmt das Bild, wieder die irre Musik. Sie geht an den Ticketschalter und bittet um eine Fahrkarte, um aus der Stadt, in die der – ihr – Tod Einzug hält, zu entkommen. Doch der Ticketverkäufer bemerkt sie nicht, kann sie nicht wahrnehmen. Sie fleht ihn an »I wanna get out of here, I wanna get away from here«. Keine Reaktion.

Dieser Ort ist dem Sterben nah. Die Hauptdarstellerin will weg von dort, will zurück ins Leben. Doch es gelingt ihr nicht. (Der Filmfan) Kafka hätte kein besseres Bild für die Unentrinnbarkeit des Todes finden können: Nachdem sie – schon halb Gespenst – sich am Schalter des Busbahnhofs nicht bemerkbar machen kann, rennt sie nachdem eine Stimme den nächsten Bus durchgesagt hat los und versucht auf eigene Faust den Bus zu erreichen, der sie wegbringen soll. Doch als sie den Bus schließlich erreicht und eintritt muss sie feststellen, dass es sich bei den Insassen um eine Busgesellschaft von Untoten handelt. Zerfallene, irre Gestalten, von denen nichts mehr an das erhoffte Leben vor dem Tod erinnert. Die Flucht zurück ins Leben entpuppt sich so als weiterer Schritt in den Tod. Und so flieht die Hauptdarstellerin aus dem Bus zurück in die Twilight Zone der Busbahnhofshalle. Sie nimmt einen anderen Weg zu einer anderen Bushaltestelle, doch dieser andere Ausgang ist durch ein Gitter versperrt. Sie kehrt zurück auf die Straße und Mary Henry scheint sich immer weiter aufzulösen: keiner bemerkt sie, nicht die vorbeifahrenden Autos, vor denen sie zur Seite springt, nicht der Taxifahrer, den sie bittet, sie mitzunehmen, nicht der Polizist, den sie um Hilfe bittet. Wie schon zuvor in der Busbahnhofshalle versetzt der Architektur- und Industriefilmer Harvey die Hauptdarstellerin auf der Straße in eine übermächtige, tote Stadt aus Stein und Licht.

Dabei ist für die Hauptfigur in der Twilight Zone – anders als im Bus – die Welt da draußen durchaus noch existent. Die Welt ist mit der Auflösung der Hauptfigur in Mitleidenschaft gezogen, aber sie ist noch da und wahrnehmbar. (Hinzu kommt das Wissen: Sie wird auch nach meinem Verschwinden noch da sein.) Und eben das ist das eigentlich schmerzhafte an der Situation: da ist noch was, da ist noch Leben – aber zu weit weg, um mit ihm in Kontakt treten zu können. Eine bloße Erinnerung an ein früheres oder nicht gelebtes Leben. Eine Welt hinter Glas.

Melancholie des Abschieds: Die Unsichtbare sieht im Busbahnhof eine Mutter mit zwei Kindern an einem Automaten – eine Sequenz wie ein Stillleben – und scheint sich zu fragen, ob wenigstens die beiden Kinder, die das Leben noch vor sich haben, sie sehen können. Daneben schießt ein Mann mit einem Luftdruckgewehr an einem Spielautomaten. Die Welt steht still. Bilder wie ein Erwachsenenbesuch am frühen Abend auf dem Jahrmarkt: Blicke am Rand des Autoscooters auf eine lebendige, lebenshungrige und doch untergegangene Welt. Im sonnendurchfluteten Park versprüht ein Rasensprenkler in unerreichbarer Ferne kühles Nass. Und immer, wenn sie an einem Baum steht, ihn berührt und nach oben in die Baumkronen schaut, wo Himmel und Sonne durchbrechen und die unsichtbaren Vögel zwitschern, scheint sich Transzendenz mit dem Willen und der Hoffnung zu paaren, wieder zurück in dieses irdische Leben zu kommen. Was dann auch für kurze Zeit besser gelingt.

Am Ende der Traum-im-Traum-Sequenz sehen wir die Hauptfigur wieder beim Psychotherapeuten, jener modernen Instanz, von der wir Hilfe erhoffen, die Irrungen und Täuschungen des Lebens zu entschlüsseln. Sie leidet unter dem Riss zwischen ihr und der Welt und berichtet: »Something seperates me from other people«. »I don’t know what’s real anymore«. Schließlich bittet sie um Hilfe. »Doctor, tell me what to do«. Doch als sich der Therapeut, der in einem Sessel mit dem Rücken zur Patientin sitzt, umdreht, sitzt auch hier niemand anderes als der Tod selbst. Gespielt vom Regisseur Herk Harvey persönlich, im Film als »The Man« betitelt, dem die Hauptfigur bereits zuvor mehrfach begegnet. Die Hauptdarstellerin erschrickt, schreit, findet sich im Wagen in der Reparaturwerkstatt wieder und verlässt mit dem Wagen hektisch die Garage.

Dancing with the Dead

Mary Henry fährt zu dem Ort, von dem sie sich bereits von Anfang an nach ihrem Unfall magisch angezogen fühlt: einem großen, dunklen Gebäude auf einem leerstehenden Amusement Park am Rande der Stadt. Bereits bei ihrem ersten Besuch an diesem Ort entpuppte sich das Gebäude als eine gigantische, leerstehende Tanzhalle. Nun aber, bei ihrer zweiten Ankunft, ist die Tanzhalle nicht mehr leer, sondern gefüllt mit Untoten, die im morbiden Licht der Festbeleuchtung zur orgelnden Kirmes-Musik in Paaren tanzen. Die Hauptfigur steht vor der Festgesellschaft zunächst mit fremder Faszination, sie gehört noch nicht dazu, aber sie ist auch nicht überrascht. Sie hat ihre Flucht beendet und sich gestellt.

Im nächsten Moment, einem der stärksten des Films, dann doch der Schock: Am Rande der Tanzfläche stehend erblickt die Hauptdarstellerin auf der Tanzfläche – sich selbst, tanzend mit »The Man«, dem Tod, der sie schon die ganze Zeit verfolgte. Auch sie nun zerfallen, auf der Seite der Toten. Die Kamera geht in die Mitte des tanzenden Paares, begleitet sie schwindelnd, delirierend für eine lange Zeit. My girl is dancing with the dead.

Die betrachtende Hauptfigur flieht aus dem Tanzsaal, die Untoten verfolgen sie hinaus ins Licht, und plötzlich nehmen die Bilder in dem Film zum ersten Mal seit dem Beginn (an dessen Anfang ein Autorennen steht, das zu dem tödlichen Unfall führte) an Geschwindigkeit auf. Die langsamen, zäh fließenden Bilder werden plötzlich rasend, die Untoten fangen an zu rennen, als würde das Romerosche Original von »Dawn of the Dead« plötzlich in das Remake von Zack Schneider übergehen. Die Untoten wirken komisch, kindisch, als wollten sie mit der Flüchtenden Versteck spielen. Als käme das eigentliche Leben in dem Moment zurück, in dem man sich für den Tod entschieden hat. Return of the Living Dead. Und in der Tat: Mary Henry lacht, zum ersten Mal im Film. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben.

In gewisser Weise erzählt Carnival of Souls am Ende dann doch noch die Geschichte einer Heimkehr. Der Untote, der nach der Scheidenden ruft, ist unheimlich, erschreckend, und am Ende doch fast sanft. »Er ruft zum Tanz und erst, als die Heldin ihm gefolgt ist, setzt der Fluss der Zeit wieder ein, wechselt die Perspektive zurück auf die Seite der Lebenden.« (Ekkehard Knörer). Mary Henry kapituliert, gibt sich dem Unvermeidbaren hin. Elias Canetti wäre damit nicht einverstanden gewesen.

Strategien mit Architektur: Amusement Park on Fire

Bei alldem kommt es Herk Harvey nicht auf die Erzählung an, sondern wie die Welt hinter Glas in Szene, in Bilder gesetzt wird. Carnival of Souls ist Herk Harveys einziger Spielfilm. Als Industrie- und Werbefilmer – insbesondere bei Centron Corporation of Lawrence – hat er davor und danach bei über 40 Dokumentar- und Werbefilmen Regie geführt – mit einem unglaublich geschulten Auge für Settings, für Architektur, für Strukturen und das Spiel mit dem Licht.

Und so verwundert es nicht, dass der Ausgangspunkt des Films ein Gebäude war: Harvey fuhr von einem Industriefilm-Dreh von Los Angeles nach Hause nach Kansas, als er einen verlassenen Vergnügungspark am Great Salt Lake entdeckte, mit einem riesigen pavillionartigen Gebäude (das einst die größte, 6.000 Personen fassende Tanzhalle der Welt war). Er war überwältigt von der Abgelegenheit, Verlassenheit und Skurrilität dieses Gebäudes und von diesem Bild aus entwickelte er die Filmidee, etwas über »dead people dancing in a ballroom on the Great Salt Lake« zu machen. Über spätere narrative Deutungen des Films machte er sich Jahrzehnte danach auf einer Pressekonferenz eher lustig. Doch die Tanzhalle des Amusement Parks, die übrigens nach dem Dreh komplett abbrannte, wie auch andere Gebäude des Films sind nicht einfach nur Ambiente, sondern eröffnen überhaupt erst den Blick auf die »innere« Topographie, auf die Seelenlandschaft der Hauptfigur.

Wie mit den Orten verhält es sich bei Carnival of Souls auch mit der Musik in Form des modulierenden Orgelspiels. Die Tonspur illustriert nicht, sondern ist den Bildern gleichgeordnet und schafft erst jenen Raum der Einsamkeit, Entrücktheit, der zugleich vom Leben nicht lassen will.

Harvey drehte den Film in zwei Wochen im Urlaub mit einem Budget von sage und schreibe 17.000 Dollar. Die Hauptdarstellerin Candace Hilligoss hatte eine Ausbildung bei Lee Strasberg, die übrigen Darsteller waren größtenteils Amateure aus der lokalen Theaterszene. Die Charaktere sind weder großartig eingeführt noch ausgearbeitet, auch über die Hauptfigur erfährt man im Film so gut wie nichts. Dieser in Teilen sicher unfreiwillige narrative Dilettantismus erweist sich als große Stärke des Films. Anders etwa als in Christian Petzold’s Yella, sind die Figuren hier keine Figuren in einem Lehrstück, das hinter jedem Bild, hinter jedem Satz etwa die Macht des Geldes, die Prekarität durch Hartz IV oder die Strukturschwäche Ostdeutschlands durchblicken lässt. Trotz eines möglichen Zusammenhangs bei der Hauptfigur zwischen religiöser Sozialisation und Lebensabwendung: Die kalte Schönheit, Unnahbarkeit und Unerklärbarkeit der Hauptfigur in Carnival of Souls lässt vieles offen und wird gerade dadurch erst zu der existenziellen Figur, die uns alle betrifft.

Der Tod im Spiegel

Ist das nun ein Film vom versiegenden Leben im Angesicht des Todes? Oder doch eher eine Retrospektive des wirklichen Lebens im Zeitraffer? Dass Harvey genau das offen lässt, dass beide Perspektiven assoziativ verschwimmen, ist eine der großen Stärken des Films. Im Gespräch mit einem Psychologen erzählt Mary Henry, dass sie noch nie viel für Andere empfunden habe. Ein Leben als Zombie also schon vor dem Tod?

In dem sie das zumindest merkt, sich an ihrem Zustand erschrickt, ist sie in gewisser Weise lebendiger, als all die im Leben stehenden um sie herum. So könnte man Elfriede Jelinek verstehen, wenn sie über Carnival of Souls schreibt: »Die große Kunst dieses Films ist es, eine Lebende als Tote und wiederum als Lebendigere als alle Lebenden zu zeigen.«

In dem sich die Endgültigkeit des letzten Films im fiktiven Film spiegelt, erinnert uns Carnival of Souls eindringlich und vor allem rechtzeitig an den sinnlosen Sinn des Lebens. Noch ist es nicht zu spät für die Frage: Gibt es ein Leben vor dem Tod? Noch ist Zeit gegebenenfalls etwas zu ändern. Das hat die Fiktion dem wahren letzten Film, von dem noch niemand berichten konnte und nie jemand berichten wird, voraus.

Die Retrospektive hat noch Zeit. Du kannst deinen eigenen Film noch drehen. Und wenn nur noch ein Tag bleibt. Was mehr könnte große Kunst bewirken?


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